Team epubli

100 Tage


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ließ sich auf dem freien Stuhl nieder und schaute sich am Tisch um.

      Danny war noch so klein, dass seine Nase unter dem Tisch verschwand und er den Löffel nur umständlich in seinen Mund bekam. Er rief fröhlich Liams Namen und verschüttete die Suppe auf seinem Löffel. Amanda wischte mit einer Serviette über den Tisch und Dannys Pullover. Dabei warf sie einen Blick zu Liam rüber und lächelte. Er lächelte zurück.

      Sie war eine sehr kinderliebe Frau. Jedes Mal, wenn er sah, wie sie mit einem der Kleinen spielte oder sie bemutterte, dachte er sich, was für eine gute Mutter sie wäre. Natürlich war sie noch sehr jung, doch ihr Umgang mit Kindern war besonders. Es gab diese Leute, die sich veränderten, wenn sie Kinder um sich hatten. Kinder konnten das Beste aus einem Menschen heraus holen. Das sah Liam am Besten an Amanda.

      Sie war schon länger hier als er und war wie eine Schwester für ihn, sowie alle Kinder und junge Erwachsene die in diesem Heim lebten.

      Es war nicht immer ein friedliches Zusammenleben.

      Häufig begann jemand Streit. Einige Jungen konnten ihre Aggressionen nicht kontrollieren und es gab Mädchen, die sich beleidigten, bis beide in Tränen ausbrachen. Es waren nun mal viele Leute auf engem Raum zusammen. Liam kannte diese Komplikationen.

      Er selbst war nie ein schwieriges Kind gewesen und hatte Streitereien immer geschickt umgangen. Er war ein ruhiger Junge gewesen, sehr in sich gekehrt und nach Vermutungen der Heimmutter Amelie stark traumatisiert. Doch alle Sorgen, die sie sich um seine Entwicklung gemacht hatte, waren grundlos gewesen, denn er war ein junger, selbstständiger Mann geworden, dessen Psyche durchaus belastbar war.

      Dennoch mied er noch heute Auseinandersetzungen und hatte ein erstaunlich gutes Gespür dafür, wann sich etwas anbahnte, und entschärfte es, bevor ein Streit ausbrach.

      Charlie war ein unberechenbarer Junge, am Anfang der Jugend, der oft einen Wutausbruch bekam. Er war leicht zu provozieren und gefährlich wie ein Bombe, die jeden Moment in die Luft gehen konnte. Liam war der Einzige, der Charlie im Griff hatte. Um so weit zu kommen, hatte er sich schon mehrere Schläge von dem Jungen eingehandelt, bis er das Vertrauen geweckt und die Blockade gebrochen hatte. Außerdem erriet nur Liam, was in Charlie wirklich vorging und hatte eine Methode entwickelt, ihn zu beruhigen.

      Es war bloß ein umgekippter Becher, dessen Inhalt sich auf Charlies Hose ergoss, der ihn aufspringen ließ und aggressiv machte.

      „Du Idiot!“, klaffte er den Jungen an, der den Becher aus Versehen um geschmissen hatte.

      Shane rutschte ängstlich von ihm ab und starrte auf den nassen Fleck in Charlies Schoß. Charlies Ohren liefen blitzschnell rot an, ein gefährliches Warnsignal.

      Liam wurde augenblicklich aufmerksam. Er kannte die Zeichen eines ausbrechenden Wutanfalls gut, denn er hatte viel Zeit mit dem Jungen verbracht. Er wollte ihm helfen, seine Aggressionen in den Griff zu bekommen.

      Im nächsten Moment war er an dem Tisch, wo der Streit drohte auszubrechen.

      Shane entschuldigte sich bereits eilig und Charlie warf ihm Verfluchungen an den Kopf.

      Liam redete auf Charlie ein, hielt aber Abstand, weil er entdeckt hatte, was diesen provozierte und in die Enge trieb. Er wusste, wie bedrängt Charlie sich in Wirklichkeit fühlte und jeder Reiz konnte zu viel für ihn werden.

      „Das war keine Absicht. Du brauchst ihn dafür nicht beschimpfen. Hör doch mal, er entschuldigt sich aufrichtig.“, flößte Liam ihm ein.

      Er konzentrierte sich vollständig auf den Jungen, um ihn unter Kontrolle zu haben und zu behalten. Er starrte ihn mit eindringlichem Blick an, den Charlie nicht erwiderte. Er mied jeden Blickkontakt und ballte die Hände zu Fäusten.

      Dann wurde er auf das Gekicher aufmerksam, das von den Tischen kam und die Kinder versuchten, unter hervor gehaltener Hand zu verdecken. Er schnaubte wütend.

      Liam wusste, dass es ihn innerlich verletzte, obwohl es nach außen nicht so wirkte. Aber Charlie war viel verletzlicher als andere. Er konnte diese Verletzlichkeit nur nicht ausdrücken, wie es die anderen taten. Deswegen erkannten sie auch nicht, was hinter seiner Fassade vor sich ging.

      „Haltet die Klappen!“, schrie Charlie in den Raum.

      All seine Wut kam mit diesen Worten heraus und fast jeder zuckte erschrocken zusammen. Liam trat immer noch nicht näher an den Jungen heran. Er nannte nur mit vollkommen ruhiger Stimme seinen Namen. Charlie drehte sich ihm ruckartig zu, funkelte ihn böse an, reckte das Kinn in die Höhe, um Liams Körpergröße zu imponieren, was lächerlich war, denn Liam war sehr groß gewachsen, und fauchte ihn an wie eine wilde Raubkatze.

      „Du bist nicht mein Vater. Führ dich also nicht so auf.“

      In Liams Gesicht trat etwas Verletzliches und sein Blick wurde leer. Er sah durch den Jungen hindurch.

      In seinem Kopf spielten sich Bilder ab. Die Erinnerung an seinen Vater kehrte zurück. Charlie hatte einen wunden Punkt getroffen. Liam brachte so schnell keiner aus der Fassung.

      Charlie rannte aus dem Raum. Liam zögerte, schüttelte dann den Kopf, als befreite er sich von seinen Gedanken, und stürmte ihm hinter her.

      Charlie schlug die Tür seines Zimmer Liam vor der Nase zu. Anstatt sie wieder aufzureißen, stellte sich Liam davor und horchte.

      Eine ganze Weile blieb es still im Raum.

      „Ich weiß, dass du da draußen stehst.“, drang Charlies Stimme nach mehreren Minuten durch die Tür.

      Liam antwortete nicht. Charlie wurde ungeduldig und öffnete schließlich doch seufzend. Genervt verdrehte er die Augen.

      „Willst du mir jetzt wieder sagen, dass ich nicht bei dem kleinsten Mist ausrasten darf, dann kannst du gleich gehen. Ich will das nicht mehr hören. Ich...“

      „Ich bin stolz auf dich.“, unterbrach ihn Liam.

      Charlie starrte ihn perplex an. Sein Mund öffnete sich einen Spalt breit, doch er sagte nichts. Dann trat er in sein Zimmer, ließ die Tür offen stehen und setzte sich auf sein Bett. Er legte den Kopf in die Hände und krümmte die Schultern.

      Liam setzte sich auf einen Stuhl und faltete die Hände im Schoß. Er betrachtete den Jungen, der sich selbst am Meisten dafür hasste, immer wieder die Beherrschung zu verlieren und er tat ihm leid.

      Dann stand er auf und ging zum Bett. Charlie hob den Kopf und folgte mit den Augen jeder Liams Bewegungen, bis dieser sich neben ihm nieder ließ. Er wehrte sich auch nicht, als Liam ihm eine Hand auf den Rücken legte und sie dort ruhen ließ.

      Charlie sah ihm in die Augen und erkannte darin keine Abneigung oder Angst, die er bei den anderen bemerkte. Liam war ehrlich mit ihm und mochte ihn. Da war er wohl der Einzige. Er hatte gesagt, er wäre stolz auf ihn, das hatte, so weit er sich erinnern konnte, noch nie jemand zu ihm gesagt.

      „Meinst du das ernst?“, fragte Charlie unsicher.

      Liam lächelte. Es war ein warmes, herzliches Lächeln, das seine Augen erreichte.

      „Klar.“

      Charlie wich verlegen seinem Blick aus und musterte den Teppich. Er rang nach Worten, dann räusperte er sich und sagte: „Es tut mir leid.“

      „Was?“, fragte Liam.

      Charlie sah ihn noch immer nicht an. Im Entschuldigen war er nie gut gewesen und hatte es möglichst vermieden, die Leute dabei anzusehen oder ihnen womöglich auch noch die Hand zu geben.

      „Was ich gesagt habe. Das du dich nicht wie mein Vater aufführen sollst. Ich bin froh, dass du es tust. Du hilfst mir damit.“

      Charlie war selbst überrascht, solch ein Geständnis abgelegt zu haben. Er linste zu Liam hinüber, der nicht aufgehört hatte zu lächeln.

      „Wir müssen alle gegen etwas kämpfen. Du bist stark geworden.“, sagt er.

      Charlie sah ihn an und verstand erst da, was er meinte. Er führte einen Kampf mit sich selbst aus und er konnte siegen. Liam glaubte