Team epubli

100 Tage


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Winseln war, wie das eines Hundes.

      „Komm, Liam.“, hörte sie die Stimme der Bäckerin.

      Die Bäckerin nahm William an den Schultern, sodass er sie ansehen musste. Er war steif wie ein Brett, sein Blick war noch immer starr geradeaus gerichtet.

      Sie zog ihn zu dem alten Schaukelstuhl, der schon mehrere Generationen in diesem Haus überdauert hatte, und setzte ihn auf ihren Schoß. Dann wiegte sie mit ihm vor und zurück. Der kleine, magere Junge krümmte seinen Rücken. Die braunen Haare fielen ihm in sein blasses, ausdrucksloses Gesicht. Er schloss hinter seinem Vorhang aus dichten Haaren die Augen und leise kullerten ihm Tränen die Wangen hinab und tropften auf seine verdreckte, löcherige Hose.

      Eine tiefe Schwärze umhüllte ihn und er dachte, nie wieder die Augen öffnen zu können. Die Lider waren ihm so schwer und er sah kein Licht in der Dunkelheit.

      Es war der Moment gekommen, in dem er verstanden hatte, was mit seiner Mutter war und wo sein Vater hingebracht wurde. Beide würden nicht mehr zurück kehren. Von da, wo sie hingingen, gab es keinen Weg zurück. Das wusste er.

      Denn als seine Großeltern gestorben waren, kaum ein Jahr war es her, hatten es ihm seine Eltern erklärt.

      Er war ein kluger Junge und jetzt wünschte er sich, es nicht zu sein. Er wollte das alles nicht verstehen. Mama und Papa konnten nicht einfach gehen. Er brauchte sie doch. Was sollte er nur ohne sie machen?

      Er wehrte sich, doch die Hände, die seine beiden Oberarme umklammerten, waren wie Schraubstöcke. Er selbst war kräftig, weil er jeden Tag schwere Kisten mit Ernteprodukten schleppte, aber gegen zwei Polizisten konnte er nicht ankommen. Sie redeten kein Wort mit ihm oder untereinander, während sie ihn abführten. Auch, als er geschrien hatte, hatten sie ihm nicht das Schweigen befohlen. Sie hatten ihn einfach weiter gedrängt.

      Seine Versuche, sie irgendwo zu treffen, parierten sie mühelos. Trotzdem gab er nicht auf.

      Er wusste natürlich, wo sie ihn hin brachten und das konnte er nicht zulassen. Schließlich hatte er nichts getan, außer im Krankenhaus um Hilfe gebeten.

      Er hatte die Frau hinter der Rezeption angefleht, einen Arzt zu schicken, doch sie war regungslos geblieben und hatte gesagt, er sollte verschwinden, da es ihm nicht erlaubt wäre, hier zu sein, auf der anderen Seite des Zauns und er kein Geld für die Behandlung hätte.

      „Ist das alles, wonach Sie trachten?“, hatte er sie angeschrien, als er seine Beherrschung aus purer Verzweiflung und Wut verlor.

      „Geld? Ist es das Einzige? Was ist mit Ihrem Gewissen? Da drüben sterben Leute, nur weil Sie ihnen ihre Hilfe verwehren. Sie könnten so viele Leben retten! Sie haben die Mittel dazu! Warum tun sie es dann nicht?“

      Für einen Moment hatte sie überrascht gewirkt und blinzelte mehrmals, doch dann wurde sie ärgerlich und verzog den geschminkten Mund.

      „Wir sind nicht für euch verantwortlich.“, hatte sie leise, aber überzeugt gesagt.

      Ihre Stimme und ihr Blick waren eiskalt. Dann tippte sie auf den Bildschirm zu ihrer Rechten. Er hatte sie bitterböse an gefunkelt.

      Ihr ordentlich zurück genommenes blondiertes Haar, ihr perfektes Make-up, die künstliche graue Iris, in der silberne Partikelchen schimmerten und ihre weiße Kleidung; alles an ihr präsentierte, dass sie wohlhabend war, dass sie das Geld zu solch unnötigen Dingen besaß. Kümmerte sie es wirklich nicht, wie es drüben aussah, oder schaute sie nie hinüber, durch den Maschendrahtzaun, der zwei verschiedenen Welten voneinander abtrennte?

      Sie noch weiter anzuschreien, hatte er keine Gelegenheit gehabt, denn Sekunden später hatten ihn die kräftigen Hände von hinten gepackt, die ihn immer noch im Griff hatten und ihn von dem Schalter weg gezerrt. Er war überrumpelt worden, hatte nicht darüber nach gedacht, was die Frau in ihren Bildschirm eingegeben hatte und sich dafür selbst verflucht. Er hatte gerufen, dass seine Frau todkrank wäre und sein Stimme hatte verzweifelt geklungen.

      In diesem Moment meinte er, hätte er in dem strengen Gesicht der Frau etwas zucken sehen, eine Regung von Mitgefühl. Doch dann hatte sie die Lippen fest aufeinander gepresst und sich von ihm abgewandt.

      Er hatte weiter geschrien, bis sein Hals heiser war.

      Was er damit bezwecken wollte, wusste er nun selbst nicht mehr, denn die Frau hatte ihm ihre Hilfe verweigert und ihm war klar, dass sie ihre Meinung durch seinen Protest nicht geändert hätte. Doch er hatte schreien müssen, wie ein Verrückter, dessen Leben davon abhing, denn er war so weit vorgedrungen, ohne gefasst zu werden, war unbemerkt über den Zaun gekommen und ins Krankenhaus und hatte die Chance gehabt, die Leute umzustimmen.

      Er hatte wirklich geglaubt, sie würden weich werden und ihm helfen. Doch was hinter dem Zaun geschah, interessierte sie offensichtlich nicht. Das konnte er einfach nicht verstehen. Wie in Gottes Namen konnten die, denen es so gut ging, nicht ihre Fähigkeiten teilen?

      Er verlangte nicht einmal Geld oder sonstige Güter. Er verlangte doch nur Hilfe, war das denn nicht menschlich? Und war es nicht auch menschlich, den Bedürftigen zu helfen?

      Unter den Reichen und Gebildeten waren so viele Ärzte, ein Kinderspiel wäre es für sie, eine Grippe zu heilen oder die Symptome seiner armen Frau zu lindern.

      Er hatte um sein Leben geschrien, denn ihres hing von seinem Erfolg ab. Doch er war gescheitert und wurde sich nun bewusst, was dies bedeutete. Sie musste sterben.

      Er blieb stehen, was die beiden Polizisten überraschte.

      Er schnappte nach Luft und hielt sie an, dann blies er sie langsam aus. Nicht nur sie war nun auf der Schwelle des Todes, er war es höchstwahrscheinlich auch. Der Bürgermeister würde sich über eine neue Spielfigur für seine barbarischen Spiele teuflisch freuen.

      Er lachte verbittert.

      Die Polizisten in ihren dunkelblauen Anzügen guckten ihn komisch an und packten seine Arme fester. Sie glaubten, der Mann wäre verrückt geworden. Erst wagte er sich über den Zaun, eine gefährliche Kletterpartie, dann in eine öffentliche Einrichtung, was regelrecht lebensmüde war, schrie wie ein Durchgedrehter und brach nun in eine gruselige Heiterkeit aus. Diese verflog so schnell wie sie gekommen war.

      Der Mann brach völlig unerwartet zusammen. Er sackte auf den Boden und sie konnten ihn nicht aufrecht halten. Also gingen sie mit ihm in die Hocke und warteten, ob er wieder aufstehen würde. Diese Gefühle passten besser zu dem, was ihm bevor stand. Natürlich wusste er es und fing an zu verzweifeln. Er musste sterben, Corvin würde ihn sicherlich nicht am Leben lassen.

      Während die beiden Polizisten sich also fragten, was in dem Mann vorging, dachte er nicht über seinen eigenen Tod nach, so wie sie es vermuteten.

      Er erinnerte sich seines Sohnes, der ein Waise wäre, wenn seine Mutter schied und er nicht zurückkehrte. Sein Sohn hätte weder Vater noch Mutter. Es war genug, dass er seine geliebte Frau verlor, doch seinen Sohn ließ er auch im Stich. Er hatte die Verantwortung für beide.

      Die Polizisten verloren die Geduld und zogen den unglücklichen Mann an den Armen hoch. Er wehrte sich nicht und ließ sich widerstandslos weiterziehen.

      Er hatte aufgegeben. Alles war verloren, nichts war mehr zu retten. Jetzt konnte er sich auch abführen lassen, denn er hatte begriffen, dass er machtlos war. Er wollte für die kämpfen, die er über alle Maßen liebte, aber es machte doch keinen Sinn. Seine Frau würde sterben und er konnte seinen Tod genauso wenig verhindern, denn er konnte den Polizisten nicht entkommen.

      Sie waren zufrieden, dass der Mann sich nicht mehr wehrte. Sie dachten, sie hätten gewonnen, ihn endlich still bekommen.

      Doch wer den Mann besiegt hatte, war die Verzweiflung. Die Erkenntnis der bitteren Realität.

      In die Menschen auf dieser Seite des Zauns hatte er jegliche Hoffnung verloren. Sie hatten die Macht über die Leute auf der anderen Seite, weil sie über deren Tod und Leben entscheiden konnten. Sie hatten sich für den Tod entschieden.

      Der Palast war gewaltig. Er stand im Herzen der Stadt und die armen Menschen sahen davon