Team epubli

100 Tage


Скачать книгу

Männer über den Hof zum Gefängnis. Sie staunten, als sie das freundlich aussehende Gebäude sahen, auf das der Mond sein Licht warf. Vielleicht schöpften sie gerade neue Hoffnung.

      Wie naiv. Wie dumm.

      Corvin verschonte keinen. Eigentlich.

      Sie führten die jungen Männer in das Haus in zwei getrennte Zimmer und verschlossen die Türen hinter ihnen. Dann hängten sie sich die Schlüsselbunde wieder an den Gürtel.

      „Es ist spät.“, sagte sein Kollege.

      Er sah müde aus und ließ die Schultern hinunter hängen.

      „Geh ins Bett, wenn du willst. Ich mache noch einen letzten Kontrollgang und sehe nach dem Rechten.“, sagte Garrett.

      Er sah selbst schon sehr müde und niedergeschlagen aus, aber er war ein sehr gewissenhafter Mann, der seine Arbeit mehr als gründlich machte.

      Sein Kollege wollte ihn nicht allein lassen und sich aufs Ohr hauen, nur weil er einen anstrengenden Tag gehabt hatte und sich eigentlich nicht mehr fit fühlte, noch eine Runde durch die Stadt zu gehen. Aber es war so kaputt, dass er Garretts Angebot dankend annahm.

      Garrett machte sich also ohne seinen Kollegen auf den Weg.

      Die Wachen am Tor hatten schon Feierabend gemacht. Er hielt den Daumen über den kleinen Scanner an den Metallstäben. Das Tor schob sich auf, als es seine Identität las und ließ ihn passieren.

      In den Straßen war es totenstill. Niemand kam ihm entgegen, alle Lichter in den Häuser waren ausgeschaltet und er vernahm kein Lebenszeichen. Nun wünschte er sich auch, er wäre wie sein Kollege schlafen gegangen. Gerade, als er umkehren wollte, denn er war sich sicher, auf nichts Verdächtiges zu stoßen, hörte er eine Stimme.

      Er hörte sie relativ deutlich, der jemand konnte also nicht weit entfernt sein. Er ging schneller, bog an Häuserecken in Nebenstraßen ein und kam dem Zaun immer näher. Jetzt war er sich fast sicher, dass die Unruhe von der anderen Seite kam.

      Dann sah er sie.

      Auf dem Dach eines vierstöckigen Hauses saß jemand gefährlich nah am Rand. Er konnte Geschlecht und Alter nicht ausmachen. Im oberen Stock des Hauses brannten Lichter. Die Dachluke stand offen und jemand stand darin.

      „Du musst die Vergangenheit vergessen. Du kannst nicht ewig daran festhalten, was geschehen ist, ist geschehen.“, sagte die Person.

      Es war eine Frauenstimme und sie klang, als wären ihre Nerven zum Reißen gespannt.

      Der jemand auf dem Dach erwiderte nichts.

      „Komm jetzt sofort darunter!“, sagte die Frau nun eindeutig unfreundlich.

      Sie wedelte hektisch mit den Armen, aber die Person interessierte es nicht. Sie rutschte ein Stück weiter vor und ließ die Beine über die Dachkante baumeln.

      Garrett stand im Schatten eines großen Hauses, sodass er das Geschehen beobachten konnte, ohne selbst entdeckt zu werden.

      Es passierte so schnell, dass ihm überrascht der Mundladen hinunter klappte. Die Frau verschwand plötzlich aus dem Dachfenster und jemand kletterte geschickt aufs Dach. Nach seiner Statur zu schließen, war es ein Mann. Er krabbelte flink über das Dach und kam nach nur wenigen Sekunden bei der Person an, die sich hinunter stürzen wollte. Im Vergleich zu dem Mann, war die Person ziemlich klein, daraus schloss Garrett, dass er oder sie noch ein Kind war und diese Erkenntnis schockte ihn mehr, als wenn es ein Erwachsener gewesen wäre. Er überlegte, wie er über den Zaun kam, der nächste Zugang war mehrere hundert Meter weiter rechts, und er wollte gerade los spurten, vielleicht konnte er das Kind, wenn es sich hinunter stürzen sollte, auffangen, da warf es einen Blick nach hinten, sah den Mann näher kommen und stieß sich mit den Händen ab.

      „Ariana!“, schrie die Frau, die inzwischen wieder in der Dachluke stand.

      Garrett hielt die Luft an, aber zum Glück reagierte der Mann so schnell, dass er den Arm des Mädchens noch zu fassen bekam und sie herauf zog.

      Dabei kippte er gefährlich weit nach vorne und fand keinen Halt mehr. Doch bevor sie beide am Dach hinunter rutschten, schwang das Mädchen ein Bein über die Dachkante und stemmte sich hoch. Der Mann ließ sie nicht los, bis sie sicher neben ihm saß.

      „Es tut mir leid, William.“, sagte sie und fing an zu weinen.

      Dann fiel sie ihm in die Arme. Er hielt sie fest.

      William. Ihr Retter hieß William. Garrett rieb sich die Augen, die feucht geworden waren. Er wollte sich die Erleichterung nicht eingestehen, die ihn überkam, weil der Mann das Mädchen retten konnte, denn diese Menschen, auf der anderen Seite des Zauns, sollten ihm egal sein. Er wandte sich zum Gehen, als der Mann zu ihm hinunter schaute und ihn erblickte. Er war nicht so unsichtbar, wie er gedacht hatte. Er erkannte aus der Ferne den Ausdruck im Gesicht des Mannes nicht. Dann wandte er sich wieder ab und Garrett verschwand aus der Straße. Er eilte zum Palast davon.

      William hielt Ariana in den Armen. Sie war unterkühlt und zitterte stark am ganzen Körper. Ihre Tränen durchnässten sein T-Shirt.

      „Lass uns rein gehen.“, sagte er.

      Sie sah in sein Gesicht, ihres war vom Weinen gerötet, und nickte.

      „Kletter vorsichtig auf allen Vieren zum Fenster.“

      Sie hörte auf ihn und kletterte vor ihm her.

      Amelie streckte die Arme nach ihr aus. Ihr faltiges Gesicht war voller Sorge. Sie packte Ariana unter den Armen und hob sie durchs Fenster ins Haus. Dann drückte sie sie fest an sich. Liam sprang selbst durchs Fenster und landete auf Händen und Füßen.

      Amanda stand vor ihm und half ihm auf.

      „Gott sei Dank.“, sagte sie.

      Ihre Augen waren vor Angst weit geöffnet und sie ließ Liams Arm erst los, als er sie darum bat.

      Er war selbst nervös und dazu noch erschöpft. Er sehnte sich nach seinem warmen, weichen Bett.

      „Geht es dir gut?“, fragte Amanda.

      Sie sah wirklich besorgt aus und wäre ihm am liebsten um den Hals gefallen. Er war so mutig! Er hatte Ariana gerettet, war ohne zu zögern aufs Dach gestiegen. Sie wollte sich nicht ausmalen, was geschehen wäre, wäre er nicht rechtzeitig zur Stelle gewesen.

      „Ja, mit mir ist alles in Ordnung.“, sagte Liam.

      Als Amelie Ariana los ließ, stürzte sich Amanda auf das Mädchen und schloss sie in die Arme. Sie strich ihr über die Haare und murmelte, wie erleichtert und froh sie sei.

      Die Treppen polterten und mehrere Kinder kamen auf den Dachboden gestürmt.

      „Ihr solltet im Bett sein!“, sagte Amelie streng.

      „Wir konnten wegen deinem Geschrei nicht schlafen.“, sagte Jordan.

      Sie schnaubte verärgert, sagte aber nichts mehr.

      „Was war denn los?“, fragte Alexander, ein kleiner Junge, der neugierig Liam, Ariana und Amanda musterte.

      Die Treppen, die übrigens renovierungsbedürftig waren, knarzten laut. Charlie erschien in der Tür.

      „Ariana ist aufs Dach geklettert.“, sagte Amelie.

      Charlie bekam große Augen. Ariana schaute gepeinigt zu Boden. Man sah immer noch, dass sie einen Schwall Tränen vergossen hatte.

      „Warum denn das?“, fragte Alexander erschrocken.

      Amelie wollte etwas sagen, aber Liam erkannte, wie unangenehm es Ariana war.

      „Sie wollte die Sterne beobachten. Es ist ein schöner Abend heute.“

      Ariana sah ihn an. Er lächelte ihr matt zu. Dann nickte sie zustimmend.

      „Ich konnte nicht schlafen.“

      Das stimmte. Erinnerungen an ihre Vergangenheit hatten sie eingeholt. Das Feuer, die Schreie und die Frau, die sie