Benno von Bormann

Das Hospital


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war es stets nur Gesundheit, damit sie ihr Kind niemals würde allein lassen müssen. Auch dann weinte sie, allerdings aus Sorge. Sie bekam ihre Tochter genau zum Termin und ohne großes Aufheben, wie das ihre Art war. Mit Zenia zweieinhalb Jahre später verlief es ebenso.

      *

      „Hurra, hurra, der Papi, der ist da.“ Bekker hatte sich eine Jeans und ein altes T-Shirt angezogen und trat hochmotiviert zur Aktion Koffertragen an. Die Kinder jubelten ihm zu, als er die zwei größten Stücke hochzuheben suchte und dabei in Schieflage geriet, da eine Seite erheblich mehr Gewicht hatte als die andere.

      „Birte, Mutter aller Mütter, edle Herrin, was hast Du hier geladen? Sind’s gar Wackersteine?“ rief er mit gespieltem Entsetzen, und die Kinder johlten vor Begeisterung.

      „Oh Bekker, Vater aller Väter, nur das Notwendigste, wie stets“, kam es aus dem Schlafzimmer der Kinder.

      „Na denn“, seufzte Bekker mit zerknirschter Miene, um dann laut zu deklamieren,

      „Sklaven haben nicht zu diskutieren, sondern zu arbeiten. Verzeiht Herrin, dass ich fragte. Bitte nicht die Peitsche und heute Abend vielleicht ein kleines Schälchen Wein.“ Inzwischen hatte er es mit den beiden Koffern bis zur Treppe geschafft, begleitet von den Kindern, die atemlos auf eine Fortsetzung des Schauspiels warteten.

      „Leb wohl, schnöde Welt. Die Ballen von Samt und Seide werden mich jetzt bestimmt in den Abgrund ziehen und zerschmettern. Aber ich bin ja nur ein Sklave. Wen kümmert das? Hauptsache, die Gewänder der Herrin bleiben unbeschädigt und unbefleckt.“ Damit stolperte er die Treppe hinunter, sorgsam darauf bedacht, dass er nicht wirklich ins Straucheln geriet. Die Kinder kreischten und lachten vor Wonne.

      Oben stand Birte, während ihr Mann mit dem Fuß die Haustür aufstieß. Sie lächelte. Ein warmes, glückliches Lächeln. Sie seufzte tief. Es würde alles gut werden. Alles. Schließlich saß die ganze Familie im Wagen. Bis zum Abflug der Maschine war noch reichlich Zeit. Bekker bemerkte, dass er während der letzten dreiviertel Stunde nicht eine Sekunde an die Klinik gedacht hatte. Das war ein gutes Zeichen. Vielleicht würde er ja doch noch ein ganz stinknormaler Familienvater werden. In diesem Moment wünschte er es sich sogar.

      Birte Bekker streckte sich und warf noch einmal einen Blick auf die große Anzeigetafel mit den Abflugzeiten. Noch über eine Stunde Zeit. Sie würde sich ein paar von den bunten Zeitschriften kaufen, mit den reich bebilderten Artikeln, die angeblich für Frauen, tatsächlich aber ausschließlich über Frauen geschrieben wurden. Sie schlenderte zum Kiosk, während Bekker mit den johlenden Kindern irgendwo in den langen Gängen das Abfluggebäudes umher rannte. Eigentlich war er kein so schlechter Vater, wenn er nur wollte. Sie wusste, dass sie sich gerne etwas vormachte, aber heute war sie einfach nur glücklich. Endlich war die Familie zusammen. Vielleicht war dieser Urlaub ihre Chance, wieder näher zusammenzurücken. Sie alle.

      Natürlich drückte Bekker sich gerne vor dem Familienleben. So manches, was er dringlich zu erledigen hatte, war vorgeschoben, um der häuslichen Umgebung zu entfliehen. Birte Bekker war nicht dumm. Die Universitätsklinik beschäftigte einige hundert Ärzte, davon allein mehr als fünfzig in der Anästhesie. Schwer vorstellbar, dass dieser Riesenbetrieb zusammenbrach, weil Oberarzt Peter Bekker Sonntagnachmittag einmal zu Hause blieb. Sie setzte sich auf eine der futuristisch gestalteten, erstaunlich bequemen Bänke.

      Nebenan auf einer Bank hatte sich ein Pärchen zusammengekuschelt. Sie schliefen beide fest, offensichtlich total erschöpft. Nach dem Gepäck zu urteilen, das sich um ihren Platz türmte, hatten sie bereits eine lange Reise hinter sich. Der junge Mann lag auf dem Rücken. Sein Mund stand offen, und er schnarchte leise. Seine Freundin lag auf der Seite, mit der Lehne der Bank im Rücken, ihren Kopf und den halbschrägen Oberkörper auf seiner Brust. Wie sie so da lag, war sie das Sinnbild totaler Geborgenheit und Unverwundbarkeit. Jedenfalls empfand Birte Bekker das so, und einen winzig kleinen Moment verspürte sie so etwas wie Neid, fast ein wenig Bitterkeit, was jedoch verflog wie eine Mücke, die sich hinsetzt, aber nicht zusticht.

      Ansonsten war wenig los in der riesigen Halle. Die üblichen Ferienflieger starteten erst gegen Abend. Sie würden mit einer Linienmaschine nach Rom fliegen und erst am späten Nachmittag von dort nach Sardinien weiter reisen. Birtes Vater hatte sie um diesen Umweg gebeten. Er befand sich wegen geschäftlicher Angelegenheiten in Rom und wollte sie alle endlich einmal wiedersehen.

      Hartmann war immer noch sehr viel unterwegs, obwohl er längst alles delegieren konnte. Er unterlag offensichtlich dem gleichen Unersetzlichkeitswahn wie sein Schwiegersohn, den er inzwischen mehr und mehr schätzen gelernt hatte. Sicher war er auch in Sorge, über Nacht zum alten Eisen sortiert zu werden.

      „Äuget ihr Wölfe, äuget genau!“, war Hartmanns Lieblingspassage des Dschungelbuchs, denn es steckte die ganze Weisheit des Lebens darin, das unumstößliche Gesetz des Kommens und Vergehens als ewiger Kreislauf. Noch packte der alte Führer des Rudels den gestellten Bock als erster und zwang ihn in die Knie. Verfehlte er ihn ein einziges Mal, würde das gleiche Rudel, das ihm bis dahin blind gefolgt war, ihn in Stücke reißen. Das war in Ordnung, fand Hartmann, vollkommen in Ordnung.

      Birte Bekker schlug die Beine übereinander, vergewisserte sich noch einmal, dass die Reisetasche, die sie als Bordgepäck mit ins Flugzeug nehmen wollte, unter der Bank stand, und nahm die erste Illustrierte zur Hand. Ganz in der Nähe rannten die Kinder hinter ihrem Vater her. Er hatte die Arme schräg ausgebreitet und war offensichtlich ein Flugzeug. Die Kinder taten das gleiche und flogen atemlos hinter ihm her. Birte konnte von ihrem Platz aus hören, wie sie keuchten. Niemals würden sie zugeben, dass der Papa ihnen davonflog. Erneut überkam sie ein überwältigendes Glücksgefühl. Das war ihre Familie, und sie waren zusammen. Nichts, absolut nichts auf der Welt war für sie wichtiger. Hab und Gut, arm oder reich, das alles war Birte Bekker so gleichgültig wie nur irgend etwas. Ihre Wünsche, ihre Träume, ihre Gebete kreisten nur um den Erhalt und die Unversehrtheit ihrer Familie.

      Das war keine Obsession. Sie war gefestigt, wusste nun, was Liebe ist. Liebe ist viel mehr als Aufwallung und inniges Gefühl für einen anderen Menschen, viel mehr als begehren, besitzen, festhalten. Dies mag der zündende Funke sein. Liebe gehört einem und doch gehört sie allen, sonst ist sie nur Besessenheit. Liebe macht frei, denn sie ist ohne Eigensucht. Sie ersehnt alles, aber fordert nichts. Sie ist bettelarm und deshalb so unermesslich reich, dass keine Schätze der Welt eine einzige Liebe aufwiegen könnten.

      Birte war zwar verwöhnte Tochter aus reichem Hause doch schon immer ein gutherziger, offener Mensch. Bekker wusste sehr genau, wen er geheiratet hatte, und es machte ihm gelegentlich Angst. Er wurde geliebt ohne jeden Anspruch, eine Verantwortung, der er sich nicht gewachsen fühlte. Er hatte wenig zu geben und litt darunter. Er liebte seine Frau, aber manchmal wünschte er sich, sie wäre gleichgültiger.

      Ein Flug nach Rom wurde in drei Sprachen aufgerufen. Birte Bekker, die über dem Titelblatt ihrer Illustrierten döste, schreckte auf. Es war jedoch eine andere, frühere Maschine, für die sie keine Plätze mehr bekommen hatten. Siedend heiß fiel ihr ein, dass sie Ruth Menzel hatte anrufen wollen. Wo war nur das verdammte Handy? Sie fand es schließlich in einem Seitenfach ihrer Reisetasche. Die Nummer der Menzels war gespeichert, und sie drückte die Taste. Sie ließ den Ruf zweimal durchklingeln, ohne dass abgehoben wurde. Auch der Anrufbeantworter meldete sich nicht.

      ‚Eigenartig‘, dachte sie. Eigentlich meldete sich unter dieser Nummer immer jemand, schon wegen des Geschäfts. Sie wählte Ruth Menzels Handynummer. Bereits nach wenigen Sekunden meldete sich die Mailbox mit der üblichen Aufforderung, eine Nachricht zu hinterlassen.

      „Hallo Ruth, hier ist Birte. Bitte melde Dich, sobald du diese Nachricht hörst. Wir sind auf dem Flughafen und warten auf unsere Maschine. Peter sagt, mit Jürgen ist alles okay. Ich drück Euch die Daumen. Wirst sehen, Jürgen ist bald wieder auf dem Damm. Bussi – melde Dich. Sprich auf die Mailbox, wenn ich mich nicht melde. Nicht vergessen.“

      Ihr Finger war bereits auf dem Knopf, um die Verbindung zu beenden, als sie, einer plötzlichen Eingebung folgend, schnell hinzufügte, „Ich bete für Euch.“ Das Gerät machte ‚piep, piep‘. Die festgelegte Sprechzeit für eine Nachricht war um.

      Warum hatte