Benno von Bormann

Das Hospital


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sah auf die Uhr. Die Zeit raste. Er musste sich als erstes einen Überblick verschaffen. Vielleicht war ja inzwischen bereits etwas geschehen. Ihm fiel ein, dass Müller heute Dienst hatte. Der würde bei einer solchen Situation in keinem Fall tatenlos zusehen, das war vollkommen ausgeschlossen. Müller hatte sich in jeder Beziehung von seinem Chef abgenabelt und war auf dem Sprung eine leitende Position an einer anderen Klinik zu übernehmen. Mehrere Universitäten buhlten derzeit um ihn. Er brauchte Brücher nicht und würde keine Rücksicht nehmen. Eine solche Fehlentscheidung und alles, was daraus für die Beteiligten erwachsen konnte, würde er nicht mittragen.

      Bekker grübelte. Normalerweise wechselten die Oberärzte ihren Bereitschaftsdienst am Wochenende gegen zehn Uhr morgens. Tanakas Anruf aber war erst gegen Mittag erfolgt. Also war Müller gar nicht im Dienst. Hatte vielleicht ein Tausch stattgefunden, womöglich auf Brüchers Betreiben hin? Oder hatte er den Dienstplan der Neurochirurgie nicht richtig im Kopf? Wäre Müller seit vormittags im Dienst, wäre längst etwas passiert. Da fiel ihm ein, dass Tanaka ausdrücklich erwähnt hatte, Müller sei im Dienst, allerdings ab nachmittags. Warum erst nachmittags? Das war ungewöhnlich. Bekker schüttelte den Kopf. Es würde eine ganz banale Ursache haben. Er sah schon Gespenster. Es hieß jetzt kühlen Kopf bewahren.

      Das Taxi hielt vor dem Haupteingang. Bekker fasste in die Hosentasche. Verdammt, die falsche Hose. Er hatte gar kein Geld dabei. Dies waren seine alten Schmuddel-, Kinder-, Reise-Jeans. Heiß geliebt, eingerissen und immer wieder geflickt. Das Geld war in seiner Lederjacke, und die mit Birte und den Kindern auf dem Weg nach Rom.

      „Moment“, an den Fahrer gewendet, „ich hole eben Geld. Bin einfach losgerannt, als ich erfahren habe...“, er sprach nicht weiter und ließ den Fahrer in der romantischen Illusion, es handele sich um einen plötzlichen, spannenden Notfall. War es ja eigentlich auch. Der Fahrer nickte verständnisvoll und griff zur Zeitung auf dem Beifahrersitz, um zu warten. Bekker rannte die steinerne Zufahrt zur Eingangstür hoch. Gott sei Dank, Pfleiderer, einer von den jüngeren Pförtnern, hatte Dienst. Den konnte er problemlos anpumpen.

      Pfleiderer verwickelte ihn gelegentlich in Fachgespräche. Entweder hatte er gerade etwas in der Zeitung gelesen, oder in seiner Familie gab es einen nach seiner Meinung rätselhaften Krankheitsfall. Bekker war immer freundlich und interessiert, womit er seinem Gesprächspartner das Gefühl gab, ernstgenommen zu werden. So machte er es eigentlich immer. Er war so erzogen, und es entsprach seinem Naturell. Eigentlich liebte er alle Menschen, nur für seine eigene Familie reichte es nicht.

      „Aber Herr Doktor, wie sehn denn Sie aus! Ich denke, Sie sind im Urlaub.“ Pfleiderer sah auf den vor ihm liegenden Plan, der stets die aktuellen diensthabenden Ärzte des Gesamtklinikums auswies, ihre Pipernummern, privaten Telefonnummern und seit neuestem auch ihre Urlaubszeiten, zumindest für die in leitender Funktion. Was das sollte, wusste niemand so recht. Der Dekan hatte es eines Tages angeordnet und forcierte auf diese Weise, zumindest indirekt, den allgemeinen Unersetzlichkeitswahn. Für Bekker war es überflüssige Wichtigtuerei. Dabei reflektierte er nicht, dass er selbst ein maßgebliches Element dieses Irrsinns war.

      „Hab’ ein Taxi warten“, murmelte er hastig, ohne auf die Frage einzugehen, während Pfleiderer schon die Geldbörse zückte. Er war derartige Ansinnen gewohnt. Die Herren Doktores vergaßen so allerlei, und nicht immer ging es um Geld. Pfleiderer war gerne hilfreich. Eine Hand wäscht die andere. Bekker zahlte das Taxi mit einem Riesentrinkgeld, weil er auf das Wechselgeld nicht warten wollte. Als er zurück in die Klinik hastete, musterte er mit einem Blick den ‚Prominenten-Parkplatz‘, wie die Klinikangehörigen die reservierten Stellplätze direkt neben dem Eingang nannten und wo Klinikleiter und diensthabende Oberärzte ihre Wagen bequem abstellen konnten. Es standen nur wenige Autos auf ihrem Platz. Zwei erkannte er sofort. Sie gehörten Fritsche und Brücher. Auf dem Platz für den neurochirurgischen Oberarzt stand ein nagelneues T-Modell. Das war ganz sicher nicht Weiss’ Auto, denn der fuhr einen gebrauchten 911er, darüber hatten sie sich kürzlich erst unterhalten. Also musste es Müllers Wagen sein. Gott gebe, dass er es ist, ging es Bekker in diesem Moment durch den Kopf, während er die Tür erneut aufstieß.

      „Ich zahl’s morgen zurück“, rief er dem Pförtner im Vorbeigehen zu und nahm ihm damit die Chance, ein Gespräch zu eröffnen. Auf halber Treppe blieb er für einen Moment stehen. Es war wenig Publikumsverkehr, die Besuchszeit war lange vorbei. Bekker steckte das verschwitzte T-Shirt in die Hose und versuchte mit den Fingern, so gut es ging, die Haare zu ordnen. Den Schlüssel zu seinem Büro hatte er natürlich auch nicht, ebenso wenig den zu seinem Haus. Das war jetzt egal, entschied er. Was machten Fritsche und Brücher hier? War das Zufall? Er dachte nicht weiter darüber nach, wusste, dass er eh nicht mehr zurück konnte.

      Er öffnete vorsichtig die Tür zur neurochirurgischen Intensivstation. Der Flur war leer. Aus dem Stationszimmer klangen Stimmen, ruhige, unaufgeregte Stimmen. Sie mischten sich mit den vertrauten Geräuschen rhythmisch schnaufender Beatmungsgeräte. Wie ein Einbrecher schlich Bekker auf Zehenspitzen zu Jürgen Menzels Zimmer und trat ein. Das Bett war leer und frisch bezogen. Bekker machte auf dem Absatz kehrt und stand im nächsten Augenblick im Stationszimmer. Die Besatzung der Intensivstation bestand heute lediglich aus einer examinierten Krankenschwester, Martina Zech, sowie zwei Schülerinnen und einem Studenten im Praktischen Jahr. Man hatte sich gerade gemütlich zum Essen niedergelassen. Der Tisch stand voll mit allerlei Aufschnitt, Tomaten und Gurken. Ein großer Korb quoll über mit Semmeln und geschnittenem Brot.

      „Wo ist der Patient?“ fragte Bekker entgeistert in die Runde. Er lehnte sich gegen den Türrahmen, hatte plötzlich weiche Knie. Lieber Gott, Nein!

      „Welcher Patient, Herr Oberarzt?“ fragte Martina Zech, nicht weniger entgeistert. Sie war eine dralle Rothaarige in den späten Dreißigern, geschieden, kinderlos. Nicht hässlich, nicht hübsch, irgendwo dazwischen, immer perfekt geschminkt, die Fingernägel meist schrill lackiert. Vielen erschienen vor allem diese langen, sorgfältig lackierten Fingernägel widersinnig, bei der Knochenarbeit auf einer Intensivstation.

      Bekker hatte sich oft gefragt, wie sie es schaffte, die Patienten aus der Scheiße zu ziehen, zu waschen und neu zu betten, ohne dass ihr Outfit oder Ihre Frisur etwas abbekamen. Aber sie war tüchtig, und Bekker mochte sie deswegen und respektierte sie. Als Frau interessierte sie ihn wenig, auch wenn er nach wie vor gerne ein freundliches Auge auf einen hübschen weiblichen Hintern legte. Aber sie war nicht sein Typ. Bekker stand nicht auf Frauen mit dicken Oberarmen, die im Bett schrien und schwitzten. Martina Zech starrte Bekker immer noch an, auf den Lippen viele Fragen, die sie jedoch nicht aussprach. Sie hatte heute Ihren ersten Tag im Dienst nach einer Freiwoche und war über die nächtlichen Ereignisse nicht im Detail informiert. Vor allem nicht über die besondere Beziehung des anästhesiologischen Oberarztes Dr. Bekker zu dem neurochirurgischen Patienten Jürgen Menzel.

      „Menzel“, stieß Bekker hervor, „Jürgen Menzel, Box drei, Hirnblutung nach Kraniotomie, gestern.“

      „Ach so“, gedehnt, „der Patient vom Chef.“ Martina Zech betonte diesen Sachverhalt mit dem typischen Unterton, der Patienten in unterschiedliche Besitzkategorien einteilt. So wie man sagen würde, ‚Warum interessieren Sie sich für dieses Auto? Das gehört doch dem Scheich von Kuwait.‘ Es war eine Art subalterner Arroganz, mit der im Rahmen der täglichen Machtspiele innerhalb des Klinikums klargestellt wurde, wer wo was zu sagen und zu bestimmen hatte. Vor allem aber, wem ein bestimmter Patient ‘gehörte‘.

      Tatsächlich fiel dieser Begriff permanent, wörtlich oder sinngemäß. Dieser Patient gehört den Herzchirurgen, oder er gehört den Unfallchirurgen oder Onkologen und so weiter. Dies war eine Feststellung, oft genug eine Warnung, von dem Kranken die Finger zu lassen, es sei denn, man wurde ausdrücklich aufgefordert, eine Meinung abzugeben. Auf den einzelnen Fall zugeschnittene Sachkompetenz war oft genug zweitrangig innerhalb dieses bizarren Gefüges aus Anspruchsdenken, Ignoranz und Größenwahn. Nicht selten landeten Patienten aufgrund ihrer eigenen Unkenntnis oder durch blanken Zufall in einer Fachabteilung, die für das eigentliche Grundleiden in keiner Weise kompetent war. Machte nichts. Der Patient ‘gehörte‘ der Klinik, die ihn, aus welchen Gründen auch immer, als erstes in die Finger bekam. Der Bauchchirurg operierte die Gefäßanomalie ‘seines‘ Patienten mal eben mit, der Urologe entfernte die Gallenblase auf seinem Weg zur Prostata, und manch ein Patient