Benno von Bormann

Das Hospital


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in ein falsches Licht bringen könnte. Ja, ‘falsches Licht‘, würde es heißen. Eine unverrückbare Wahrheit würde plötzlich relativiert werden. Die Vokabeln waren immer dieselben. ‘Besondere Umstände, Erfahrung, ungewöhnliche Komplikation, nicht vorhersehbar, schicksalhafter Verlauf‘ und einiges andere. Bekker kannte alle diese Phrasen, hatte sie unter verschiedensten Umständen gehört und selbst diskutiert, und tatsächlich entsprachen sie oft genug der Wahrheit. Der Wahrheit, dass der Mensch nicht alles wusste, ob er Arzt, Elektriker oder Pastor war. Ärzten unterliefen die gleichen Nachlässigkeiten wie anderen Menschen, gelegentlich mit fatalen Folgen. Allerdings hatte der Medizinbetrieb vielerlei sinn- und wirkungsvolle Sicherheitsmechanismen entwickelt, damit ein Fehler innerhalb der üblichen Routine nicht zur Katastrophe wurde.

      Bekker akzeptierte seine Welt. Er wusste, dass immer wieder Dinge geschahen zum Nachteil anderer, die nicht geschehen durften, und dennoch, so widersinnig es war, als eine Art natürliche Ausfallrate zu akzeptieren waren. Die Sicherheit für die Patienten, gemessen an der Unmenge invasiver diagnostischer und therapeutischer Maßnahmen, alle mit einem definierten immanenten Risiko, war extrem hoch. Dennoch unterschied Bekker für sich stets zwischen vermeidbaren und unvermeidbaren Fehlern. Der Arzt, der im dramatischen Notfall die falsche Entscheidung traf, in bester Absicht zwar und um ein Leben zu retten, tötete den Patienten womöglich. Dennoch war sein Fehler unvermeidbar, da die Zeit zum Abwägen oder zur Beschaffung weiterer Entscheidungshilfen fehlte. Sein Handeln war im Ergebnis ein Desaster und gleichzeitig aller Ehren wert. Anders die abgewogene, kalkulierte, riskante Entscheidung aus Halsstarrigkeit, Rechthaberei oder unter wirtschaftlichen und organisatorischen Zwängen, die ein hohes Risiko für die Patienten durchaus in Kauf nahm. So kam es zu vermeidbaren Fehlern, die in Bekkers Augen unentschuldbar waren. Ein solcher vermeidbarer Fehler hatte wahrscheinlich die Gesundheit seines besten Freundes ruiniert, und er hatte zugesehen. Er konnte nichts mehr ungeschehen machen, aber er konnte dafür sorgen, dass seinem Freund die bestmögliche Therapie und vor allem Gerechtigkeit zukam. Gerechtigkeit – was war das eigentlich im konkreten Fall? Fritsche riss ihn aus seinen Gedanken.

      „Herr Bekker, ich hoffe, Sie haben sich beruhigt und sind ein wenig zugänglicher als innerhalb der letzten vierundzwanzig Stunden.“ Bekker sah dem anderen ins Gesicht, als wolle er darin lesen, was gemeint war. Was sollte das heißen ‘zugänglich‘? Er fuhr sich durchs Haar. Plötzlich fühlte er sich müde und ausgelaugt. Und nutzlos.

      „Ich weiß, mein ganzer Auftritt, heute Nacht und vorhin, war etwas, hmm, sagen wir mal ungeordnet. Aber ich hatte gute Gründe und ehrlich gesagt wundere ich mich über Ihre pauschalen Vorwürfe.“ Bekker sprach zögerlich und ärgerte sich über seine Wortwahl. Er wollte Fritsche nicht provozieren, sondern ihn überzeugen, dass etwas Ungeheuerliches geschehen war. Ein schrecklicher Fehler durch den Leiter einer der renommiertesten deutschen Kliniken für Neurochirurgie, mit unabsehbaren Folgen für einen bis dato gesunden jungen Mann. Ein Fehler, der sich nicht würde vertuschen lassen. Fritsche musste ihm unvoreingenommen zuhören, denn er schien nur einseitig informiert.

      „Herr Fritsche“, Bekker saß kerzengerade, auch um die Müdigkeit zu bekämpfen, und sah dem anderen geradewegs in die Augen, „ich weiß, es ist Samstag und Sie haben bestimmt wenig Zeit. Andererseits haben Sie mich zu diesem Gespräch aufgefordert, und ich bin sicher, Sie werden mir Gelegenheit geben, meinen Standpunkt vorzutragen.“ Warum so geschraubt? Herrgott, wo war seine berühmte Unbeschwertheit. Stattdessen schwitzte er und fühlte sich in der Enge. Fritsche zeigte keine Reaktion. Er hielt Bekkers Blick fest und auf seiner Stirn zeigte sich eine gerade Falte.

      „Ich muß allerdings von vorne anfangen. Bitte hören Sie mir in Ruhe zu und lassen Sie mich alles erzählen. Ich will versuchen, das Unwesentliche wegzulassen. Ich weiß, Sie sind zornig, aus Gründen, die ich nur ahnen kann. Die ich aber, offen gesagt, ganz sicher nicht verstehe und auch nicht akzeptiere. Ich bin, so denke ich, nicht irgendwer für Sie, Herr Fritsche.“ Bekkers Sicherheit begann zurückzukehren und auch seine Empörung über das, was geschehen war. Er vergaß, dass er noch vor wenigen Momenten wie ein ertappter Schuljunge in seinen verdreckten Klamotten auf dem edlen Ledersofa Platz genommen hatte, bemüht, nur nichts zu beschmutzen.

      „Ich bin nun seit beinahe acht Jahren an dieser Abteilung, habe alle Stationen in verantwortlicher Position durchlaufen, vertrete Sie regelmäßig in der Klinik und in der Fakultät und bin damit eine wesentliche Speiche im Räderwerk Ihres Instituts. Dies verhält sich so, weil Sie es wollten, Herr Fritsche, und ich will nicht begreifen, dass nun wegen eines Vorfalles, über den Sie offensichtlich keine ausreichenden Informationen besitzen, alles falsch gewesen sein soll und Sie mir einen Tritt geben.“ Im Kontrast zu seinen bitteren Worten lächelte Bekker plötzlich. Er hatte das Kinn, ohne es zu merken, kampfeslustig vorgereckt. Er war wieder zurück im Ring, und Fritsche hatte es registriert.

      „Doch es geht nicht um mich. Wirklich nicht! Es geht um einen jungen Mann, Sportler, erfolgreicher Jungunternehmer, Ehemann und außerdem mein bester Freund.“ Seine Stimme wollte brechen. Er holte tief Luft. Jetzt bloß nicht weich werden.

      „Ach ja, und das wichtigste, Privatpatient.“

      „Bleiben Sie sachlich, Herr Bekker. Erzählen Sie Ihre Version. Ich bin bereit zuzuhören, aber bleiben Sie bei den Fakten und lassen Sie die dämliche Polemik.“ Fritsche war erstaunlich ruhig. Wenn er immer noch verärgert sein sollte, so ließ er es sich nicht anmerken. Sein Blick ruhte prüfend, beinahe ein wenig melancholisch auf seinem Mitarbeiter.

      Bekker war ihm der Liebste von allen, vielleicht weil er vieles hatte, das ihm selbst fehlte. Aber davon wusste niemand, nicht einmal die leitende Sekretärin, der er mehr anvertraute als seiner Frau. Natürlich hatte auch Bekker keine Ahnung. Wahrscheinlich hätte er es auch gar nicht wissen wollen. Er war nicht interessiert, was andere über ihn dachten. Vielleicht, um sich seine Illusionen zu bewahren.

      Bekker lehnte sich zurück und begann zu erzählen. Begann mit der gemeinsamen Jugend, dem Sport, den Verrücktheiten. Das Werben um die gleiche Frau ließ er aus. Dann Jürgen Menzel und seine Kopfschmerzen. Schließlich die Einweisung in die Uniklinik und die niederschmetternde Diagnose intrakranielles Aneurysma.

      „Nach sechs Stunden Diagnostik“, sagte Bekker bitter, „eigentlich hat da die ganze Schweinerei schon angefangen.“ Er ignorierte Fritsches mahnenden Blick.

      „Ja, Herr Fritsche, bereits da hat es angefangen, die Ignoranz, die Menschenverachtung. Riesig viel Zeit haben Sie gehabt, die Herren Nussknacker. Während dem Jürgen, der armen Sau, fast der Schädel weggeflogen ist vor Schmerzen und die Diagnose längst feststand, ist Brücher zu den Rotariern gefahren zum gemütlichen Brunch. Zerres hat erzählt, in welchem Zustand er den Patienten im OP vorgefunden hat. Wo man ihn übrigens ohne Anmeldung hin gekarrt hatte, nachdem die Diagnoseorgie abgeschlossen war. Soviel zu den berühmten Absprachen; aber das nur am Rande.“ Bekker erzählte alles. Die Hirndruckzeichen in der Nacht. Die Vorbereitung zur Operation. Wie er, überzeugt, alles nähme seinen regelhaften Gang, todmüde nach Hause gefahren war.

      „Ich hätte nicht gehen dürfen. Ich sag das nicht nur aus der Retrospektive. Es ist auch keine Selbstzerfleischung. Ich versuche einfach nur, ehrlich zu sein, auch wenn’s nicht rühmlich ist für mich. Ich habe das Krankenhaus mit einem mulmigen Gefühl verlassen. Sie wissen ja, Intuition ist nicht meine schwächste Seite.“ Zum ersten Mal lächelte Fritsche freundlich. Da hatte Bekker wahrhaftig Recht. Er war gelegentlich zwar chaotisch und anstrengend, aber seine Intuition war phänomenal.

      „Der Kerl hat einen Riecher, so was kann man nicht lernen. Ich kann mich nicht erinnern, dass er bei einer kritischen Fragestellung schon mal daneben gelegen hätte“, sagte Fritsche in vertrautem Kreise, wenn es gelegentlich um seine Mitarbeiter ging, und das sollte etwas heißen, denn Fritsche hielt sich selbst für den Besten und sprach nicht gern über herausragende Qualitäten von anderen. Schließlich das Telefonat mit Tanaka am nächsten Morgen. Der Japaner war eigenartig gewesen, hatte auf viele Fragen gar nicht oder nur sehr knapp geantwortet.

      „Spätestens da hätte ich etwas merken müssen, Herr Fritsche. Ich kenne Tanaka ziemlich gut. Sie haben doch auch eine Meinung über ihn, oder? Er war ganz anders als sonst. Irgendwie extrem angespannt. Dabei hat er gar keine großen Gefühlsvariationen drauf, der ist eigentlich immer gleich.