Benno von Bormann

Das Hospital


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äußerlich geduldig vor seinem Vorgesetzen, obwohl es ihn mit jeder Faser danach drängte, sich vor Ort vom Stand der Dinge zu überzeugen. Doch Fritsches helle, kalte Augen hatten ihn da festgenagelt, wo er stand.

      „Gut, Herr Bekker, da Sie nun schon einmal hier sind, offenbar in der festen Überzeugung, ohne Sie ginge es nicht weiter in dieser Klinik, gehen Sie in den OP und stellen Sie fest, dass alles regelrecht verläuft und der Patient optimal versorgt wird.“ Fritsche hob die Stimme. Er straffte sich ein wenig, und sein Blick ging in einer Geste eindeutiger Missbilligung an Bekker vorbei.

      „Das wäre übrigens auch ohne ihren peinlichen Auftritt heute Nacht, auf einer fremden Station“, er wiederholte, als müsse er sichergehen, dass Bekker ihn auch verstand, „auf einer fremden Station!, so vor sich gegangen. Ganz nach den klassischen Regeln der Versorgung von neurochirurgischen Patienten. Neurochirurgische Patienten!“ Erneut wiederholte er sich mit Nachdruck.

      „Der diensthabende Oberarzt, Herr Schaum, macht die Narkose. Ich darf Sie bitten, seine Anordnungen zu respektieren, auch wenn der Patient Ihr Freund ist. Sie sind offiziell im Urlaub und wären normalerweise gar nicht hier. Vergessen Sie das bitte nicht. Das Ganze wird für uns alle, vor allem aber für Sie, ein Nachspiel haben, soviel muss selbst Ihnen klar sein. Ich werde heute noch lange im Büro sein. Bitte kommen Sie nachher zu mir hinein, vorausgesetzt, Sie haben nichts Dringenderes vor.“ Das war ätzende Ironie, aber Fritsches Miene ließ keinen Zweifel, dass er Bekker zum Rapport erwartete. Er verließ die Umkleide ohne ein weiteres Wort.

      Bekker atmete auf, erleichtert, als die Tür sich endlich hinter dem anderen geschlossen hatte. Er zog in größter Hast grüne OP-Wäsche an, und ließ seine eigene Kleidung achtlos an einem der Haken zurück, die für Besucher angebracht waren. Keiner nahm von ihm Notiz, als er so geräuschlos wie irgend möglich die Schiebetür zum neurochirurgischen OP öffnete, wobei er bewusst auf die Betätigung der elektrischen Automatik verzichtete, da er das unbestimmte Gefühl hatte, nicht willkommen zu sein. Lediglich die Anästhesieschwester bemerkte ihn, aber er legte einen Zeigefinger auf den Mund, und so sagte sie nichts, sondern wendete sich wieder dem Patienten zu.

      Professor Schaum, der diensthabende Anästhesist und leitende Oberarzt der anästhesiologischen Klinik, stand mit dem Rücken zu ihm am Fußende des Patienten, wo das Beatmungsgerät und das gesamte Monitoring aufgebaut waren. Den Patienten konnte man nicht erkennen, denn er war komplett mit sterilen Tüchern abgedeckt. Der Brustkorb hob und senkte sich darunter im stetigen, eintönigen Rhythmus des Beatmungsgerätes.

      Bekker stellte sich einige Schritte seitlich von der Tür an die Wand des großen Raumes, bemüht, weiterhin unbemerkt zu bleiben. Von seinem Standort hatte er einen vagen Blick auf das Operationsfeld, allerdings nur dann, wenn der Operateur sich nach der Seite wendete, um von der instrumentierenden Schwester etwas entgegenzunehmen oder ein Instrument zurückzureichen. Ansonsten sah er wenig. Allerdings spürte er die allgemeine Anspannung. Müller operierte mit einem der neurochirurgischen Assistenten, ein junger Mann, den Bekker nicht kannte. Das Reservoir des Saugers war fast voll. Das waren etwa dreieinhalb Liter. Allerdings wurde bei derartigen Operationen viel mit Kochsalzlösung gespült, um dem Operateur eine einwandfreie Sicht auf das Operationsfeld zu gewähren. Bekker erkannte in dem großen Glasgefäß etliche Blutgerinnsel mit der typischen schwärzlichen Marmorierung alten Blutes, das der Operateur beim Öffnen des Schädels offenbar ausgeräumt hatte.

      Er ließ den Blick ziellos durch den Raum schweifen und begann in Ruhe, die Details zusammenzufügen. Er hatte Zeit, konnte im Moment nicht das geringste tun. Wenn Martina Zech sich nicht vertan hatte, dann dauerte die Operation bereits mehr als zwei Stunden. Das war für eine Revision verdammt lang. Schließlich musste der Schädel nicht mehr auf gesägt werden. Eine arterielle Blutung spritzte und war schnell zu finden. Dann die Blutstillung mit ein paar Nähten oder durch Verkochen von Gefäßstümpfen, und das war’s dann schon. Alles in allem dauerte so etwas bei einem erfahrenen Operateur wie Müller eine dreiviertel Stunde. Maximal! Die Operation aber war zweifellos noch längst nicht zu Ende. Das Gehirn lag offen, und selbst aus seiner Position konnte Bekker erkennen, dass sich auf der Oberfläche immer wieder frisches Blut sammelte. Langsam aber stetig. Dunkles venöses Blut. Auch das noch. Der Druck in den Venen reicht gerade aus, dass Blut aus einem verletzten Gefäß herausläuft. Es ist daher schwierig die Blutungsquelle zu finden, besonders in der Tiefe und ganz besonders am Gehirn. Man konnte nicht, wie bei einem offenen Bauch, einfach ein paar Organe zur Seite räumen. Müller war also in echten Schwierigkeiten.

      Für Bekker bestand kein Zweifel mehr. Durch eine arterielle Blutung nach der ersten Operation war der Patient viele Stunden lang zunehmend einem erhöhten Hirndruck ausgesetzt. Schließlich der viel zu spät erfolgte Entlastungseingriff mit Verletzung von Hirngewebe bei tiefer venöser Blutung. Das überstand niemand ohne bleibende Schäden. Das konnte man drehen und wenden wie man wollte. Sein Freund Jürgen Menzel, die Sportskanone, der Schwarm aller Frauen, würde einen schwerwiegenden Hirnschaden davontragen. Durchaus möglich, dass er als sabbernder Krüppel endete, der zeitlebens auf fremde Hilfe angewiesen war.

      Bekker versuchte, sich auf das aktuelle Geschehen zu konzentrieren. Es half nichts, sich jetzt mit der Zukunft verrückt zu machen. Jürgen Menzel benötigte eine optimale Betreuung, wenigstens jetzt, nachdem so vieles bereits versäumt worden war. Aber was half das alles noch? Sie alle, Müller, das Anästhesieteam und er standen am Ende der Kette. Das Gesetz des Handelns lag nicht mehr bei ihnen. Der aktuelle Zustand des Patienten diktierte das Geschehen. Er, Bekker, das wurde ihm nun schmerzlich bewusst, konnte gar nichts tun. Seine Chance etwas für den Freund zu tun, seine Unversehrtheit zu retten war dagewesen. Heute Nacht hatte er sie gehabt, die Chance, aber er hatte versagt, hatte den Freund, den besten den er je hatte, im Stich gelassen. Er hätte die Intensivstation nicht verlassen dürfen, er hätte nicht nach Hause fahren dürfen. Er erinnerte sich genau an das ungute Gefühl letzte Nacht.

      ‚Lieber Gott, warum hab’ ich das getan‘, dachte Bekker. Er hatte es geahnt, ganz tief im Innern. Aber er hatte sich einlullen lassen. Einlullen lassen wollen, weil es ihn nach Hause zog. Und aus Bequemlichkeit. Birte, die Kinder, der Urlaub. Ärger hatte er vermeiden wollen. Ärger, den er nun doch hatte – reichlich. Spätestens morgens, als er von den nächtlichen Ereignissen erfahren hatte, dass die Operation abgeblasen worden war, es dem Patienten angeblich blendend ging, obwohl er noch beatmet war, da hätte er reagieren müssen. Müssen! So etwas gab es nicht. Aber erneut hatte er sich willfährig belügen lassen. Wieder aus Bequemlichkeit. Er war schuldig. Er hatte den Freund verraten. Er war ein beschissener, feiger Opportunist und unterschied sich in nichts von denen, die er verachtete.

       12. Kapitel Universitätsklinik

      Die Tür zu Fritsches Sekretariat war angelehnt. Bekker trat ein, durchquerte die beiden Räume der Sekretärinnen und einen Untersuchungsraum. Er öffnete ohne anzuklopfen die Tür zum Büro seines Chefs.

      „Kommen Sie nur herein.“ Fritsches Ton war nicht mehr so schroff wie noch vor kurzem in der OP-Umkleide. Er deutete auf die üppige Sitzecke mit schwarzen Ledersofas und edelstahlgefasstem Glastisch am Ende des großen Raumes, unmittelbar vor einer mahagoni farbenen Bücherwand, die sich bis unter die Decke erstreckte und voll war mit wichtig und wertvoll wirkenden Buchrücken. Bekker blickte verstohlen an sich herunter. Seine Kleidung war in diesem Ambiente fehl am Platze.

      „Nun setzen Sie sich.“ Fritsche kam hinter seinem Schreibtisch hervor, an dem er sich gerade eine seiner geliebten Pfeifen gestopft hatte, und die er nun auf seinem Weg zu der Sitzgruppe geübt anzündete. Er setzte sich, behielt dabei die kurz geschwungene Pfeife im Mund und nahm die Brille von der Nase, um sie umständlich zu putzen. Bekker kannte dieses Manöver. Fritsche wollte Zeit gewinnen, und Bekker fragte sich wozu. Er hatte eine kurze und drastische Zurechtweisung erwartet und nicht, dass man ihm Platz anbieten würde und sich zum Smalltalk niedersetzte. Aber das dicke Ende würde noch kommen, da war er sicher. Immerhin, Fritsche hatte sich offensichtlich erst einmal für die väterliche Variante entschieden, und Bekker war froh darüber. Sein Nervenkostüm lag blank. Er wusste, dass es ihm zunehmend schwerfallen würde, weiterhin mit ungerechtfertigten Vorwürfen und Anschuldigungen umzugehen.

      Unter der Dusche im Umkleideraum, bevor er