Benno von Bormann

Das Hospital


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Bekker schlug sich an die Stirn, „so ein Schmarren, so ein ausgemachter Schwachsinn. In der Schwesternschule würden sie einen für so eine Story auspfeifen. Ich muss Ihnen ja wohl nichts über intrakranielle Blutung und Hirndruck erzählen? Ich kann mich selbst nicht verstehen. Aber ich hab’s glauben wollen. Ich wollte meine Familie endlich einmal nicht enttäuschen und hab’ dafür einen Patienten im Stich gelassen.“

      Wieder hatte Bekker zu kämpfen. Er schwieg. Es war eigentlich eh alles erzählt. Es gab nichts hinzuzufügen. Er wartete, dass Fritsche sich äußern würde. Wenn nicht, dann hatte er sich offensichtlich für die politische Lösung des Problems entschieden. Die hohen Herren würden die Sache gemeinsam auskungeln. Relativieren als schicksalhaften Verlauf. Dann stand Bekker allein, als Michael Kohlhaas, als Eiferer oder Querulant.

      Fritsche sagte immer noch nichts und schaute an Bekker vorbei. Wind war aufgekommen und schlug eines der geöffneten Fenster gegen die Fassung. Fritsche stand auf, es zu schließen. Er zog die Gardinen vor und ließ die hereinbrechende Dämmerung draußen. Anschließend kehrte er nicht an seinen Platz zurück, sondern setzte sich hinter seinen Schreibtisch. Offensichtlich hatte er sich entschieden. Bekker wertete sein Verhalten als Hinweis, dass das vertraute, offene Gespräch beendet sei.

      Fritsche zündete erneut seine Pfeife an. Als er schließlich zu sprechen anfing, war es so leise, dass Bekker Mühe hatte, ihn zu verstehen.

      „Herr Bekker, wie lange sind Sie jetzt in der Neurochirurgie. Als Oberarzt, meine ich.“

      „Ziemlich genau vier Jahre.“

      „Vier Jahre. Ganz schön lang. Normalerweise lasse ich die Oberärzte in kürzeren Intervallen zwischen den operativen Kliniken rotieren. Zwei Jahre war eigentlich immer das Äußerste. Wissen Sie, warum ich bei Ihnen eine Ausnahme gemacht habe?“

      „Sicher nicht, weil ich mit Herrn Brücher so besonders gut harmoniere“, sagte Bekker trotzig. „Ich mochte ihn von Anfang an nicht, um ehrlich zu sein“, fügte er hinzu, da er eine solche Frage erwartete. Und, um seiner Äußerung die Arroganz zu nehmen, „Das beruht wohl auf Gegenseitigkeit.“

      „Da sind Sie im Irrtum, Herr Bekker. Brücher ist zwar alles andere als ein angenehmer Mensch, aber er schätzt Sie außerordentlich. Das ist nicht auf meinem Mist gewachsen. Ich weiß es von Dritten. Mir gegenüber würde er natürlich niemals zugeben, dass er Respekt vor der Leistung eines Anästhesisten hat. Unmöglich! Aber wissen Sie, das ist auch ein bisschen ein Generationsproblem. Brücher stammt aus einer Zeit, als es die Anästhesie bestenfalls als notwendigen, lästigen Zustand gab, nicht jedoch als gleichberechtigtes klinisches Fach. Sind wir mal ehrlich, Bekker, hier unter uns. Die ersten Anästhesisten waren, gemessen an dem, was die Chirurgen bereits draufhatten, nicht gerade große Leuchten. Da gab es schon ein deutliches Kompetenzgefälle, aus dem sich viele Vorurteile entwickelt haben. Das hängt dem Verhältnis zwischen Anästhesie und schneidenden Fächern, aber nicht nur denen, bis heute nach. Wie gesagt, alles historisch bedingt. Brücher hat sich an die neue Entwicklung nie gewöhnen können. Sein großer Ruf als Neurochirurg und Wissenschaftler war sicherlich nicht dazu geeignet, seine Bereitschaft für Kollegialität und Kooperation zu schärfen.“ Bekker nickte, aber es war keine Zustimmung. Stattdessen sagte er,

      „Und damit ist alles entschuldigt? Ist es das, was Sie mir sagen wollen? Das Drangsalieren von Schwächeren, die Geringschätzung anderer Fachgebiete und die Ignoranz gegenüber allem, was der hohe Herr für unwichtig hält? Alles Generationssache?“

      Bekker hielt mit seiner Abscheu nicht hinterm Berg, ärgerte sich aber über seinen Ton. Dennoch, Anstand und Führungsqualitäten waren zeitlos. Sie waren keine Generationsfrage. Das war alles Gerede. Er wusste genau, wo dieses Gespräch sich hinwendete. Seine berühmte Intuition hatte eingesetzt. Noch während er über den Fall Jürgen Menzel berichtete, ahnte er im tiefsten Inneren, dass Fritsche und er in dieser Sache nicht auf der gleichen Seite stehen würden.

      „Lassen Sie mich gefälligst zu Ende sprechen.“ Fritsche reagierte ungnädig auf die Unterbrechung.

      Bekker lehnte sich ergeben zurück. Er wusste eh, was nun kam, kannte lediglich die Wortwahl nicht und nicht die Variante der eingesetzten Logik. Aber im Ergebnis war alles vorhersehbar. Es würde nun die Story kommen vom großen Neurochirurgen, der so vielen Patienten Leben und Gesundheit wiedergegeben hatte. Der durch seine bahnbrechenden wissenschaftlichen Erkenntnisse ganze Generationen von Neurochirurgen in ihrer segensreichen Tätigkeit beflügelt und bestimmt hätte, und der nun, am Ende seiner Laufbahn, eine kleine Nachlässigkeit begangen hätte, deren Beurteilung zudem noch gar nicht abgeschlossen war. Natürlich, da war der Patient. Aber so war das Leben. Es gab Opfer, unvermeidbare Opfer. Die physiologische Ausfallrate, Sie wissen doch, Herr Bekker. Sorry. Durfte man dafür das Leben einer solchen Persönlichkeit, die so segensreich für die Menschen gewirkt hatte, zerstören?

      Bekker gähnte verstohlen. Er hätte genauso gut nach Hause gehen können und spielte für einen Moment mit dem Gedanken, einfach aufzustehen und sich zu verabschieden. Doch die Achtung, die er Fritsche trotz allem entgegenbrachte, ließ ihn ruhig auf seinem Platz sitzen bleiben.

      „Wie bereits gesagt, Brücher ist zuweilen ein äußerst unangenehmer Mensch. Zugegeben. Ich kann mich mit seinen Methoden, persönliche Interessen durchzusetzen, aber auch mit seiner Art der Menschenführung in keiner Weise identifizieren. Ich denke, das habe ich hinlänglich bewiesen.“

      Bekker nickte stumm. Das stimmte. Fritsche war der einzige im ganzen Klinikum, der den Mumm hatte, sich mit dem alten Kotzbrocken, aber auch anderen Provinzfürsten des deutschen Universitätsbetriebes anzulegen. Da hatte es teilweise heftig gekracht. Fritsche duldete kein Mobbing gegen seine Mitarbeiter und legte sich dafür mit jedem an. Ob aus grundsätzlichem Gerechtigkeitssinn oder weil dies seinem Selbstverständnis für sein Fachgebiet und damit für sich selbst entsprach, hätte niemand sicher beurteilen können. Das war letztendlich auch nicht wichtig. Bekker respektierte ihn dafür, nein, er bewunderte ihn sogar. Vielleicht saß er deshalb noch auf dem Ledersofa in seinem Büro.

      „Sei’s drum, Herr Bekker, Brücher ist eine Institution. Nicht von ungefähr. Ich habe ihm deshalb für die letzten Jahre ‘seinen‘ Anästhesisten gelassen, nämlich Sie. Nicht aus Sympathie, aber aus Respekt. Er hat zu einer Zeit, als gewisse Operationen am offenen Schädel noch als Husarenstück galten, richtungsweisende Techniken entwickelt, die heute jeder erfahrene Neurochirurg anwenden kann. Die Sicherheit für die Patienten hat sich damit vervielfacht. Haben Sie eine Idee, was das für Patienten mit gutartigen Hirntumoren oder Hämangiomen oder intrakraniellen Missbildungen bedeutet?“ Er registrierte Bekkers Ablehnung und seine Verschlossenheit.

      „Sie wissen es ganz offensichtlich nicht.“ Fritsche hob zum ersten Mal, seitdem sie beisammen saßen, die Stimme und schlug mit der Hand auf die Schreibtischplatte.

      „Ja, verflucht noch mal, das mit Ihrem Freund hätte nicht geschehen dürfen. Es ist leider genau, wie Sie sagen, nämlich ein offensichtlicher, verdammter Fehler. Rational nicht zu erklären. Ich zermartere mir, seitdem ich den Fall kenne, also seit ein paar Stunden, den Kopf darüber, wie so etwas möglich ist, komme aber zu keinem Ergebnis, glauben Sie mir. Es war zudem genügend Zeit vorhanden, einen ersten Blackout, den man ja noch konzedieren könnte, zu korrigieren.“

      Bekker fühlte einen Wackerstein in seinem Magen. Ja, alle Zeit der Welt hätte man gehabt, alle. Nichts wäre dem Patienten passiert, wäre nur einer dagewesen, der das Heft in die Hand genommen hätte. Gegen alle Widerstände. ‘Zum Wohle des Patienten‘, hieß es nicht so? Aber da war niemand gewesen, und er hatte zu Hause in seinem Bett gelegen. Fritsche blieb Bekkers stumme Selbstzerfleischung verborgen.

      „Aber nichts! Bis zum frühen Nachmittag ist der Irrsinn fortgesetzt worden, auf höchste Anordnung. Müller ist in der Sache hundertprozentig ihrer Ansicht. Er hat es zwar nicht gesagt, aber seine Körpersprache war ein offenes Buch. Jedenfalls für mich. Brücher hat Müller bei der Revision lediglich assistiert. Nach einer halben Stunde ist er schon wieder abgetreten, obwohl ein Ende des Dramas nicht abzusehen war zu diesem Zeitpunkt. Sie haben kein Wort miteinander gesprochen, nicht ein einziges. Die Stimmung war eisig, da hat’s einen gefroren. Aber das alles ändert nichts. Es ist passiert, Bekker, es ist passiert.