Benno von Bormann

Das Hospital


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weiß, dass ich Sie in diesem Moment nicht erreiche. Ganz gleich, was ich jetzt sage, es klingt in Ihren Ohren schal. Für Sie bin ich ein Opportunist, ein Verräter. Ist mir völlig klar. Trotzdem, hören Sie mir wenigstens zu. Wir leben jetzt. Was war, ist gewesen, unwiederbringlich, selbst die Worte, die ich gerade spreche, sind in der gleichen Sekunde bereits Vergangenheit. Nichts lässt sich festhalten. Nichts lässt sich ungeschehen machen. Nicht das Schöne. Das ist gut. Nicht das Schlechte. Das ist schlimm. Manchmal so schlimm, dass Menschen daran verzweifeln.“

      Fritsches Stimme war auf einmal weich, ungewöhnlich für den kalten, kopfgesteuerten Technokraten, den er der Welt gerne vorspielte. Bekker horchte auf in seinem Eishaus, in das er sich seit ein paar Minuten zurückgezogen hatte. Fritsches Stimme hatte etwas Flehentliches. Bekker hob den Blick. Sein Gegenüber, meilenweit entfernt an seinem Schreibtisch, konnte er nur schemenhaft erkennen. Das Zimmer war in zunehmendes Zwielicht getaucht, da Fritsche kein Licht gemacht hatte, trotz der einsetzenden Dunkelheit.

      „Die Zukunft kennen wir nicht, und obwohl wir genau wissen, dass wir sie nicht wirklich beeinflussen können, belastet sie uns. Ist es nicht verrückt, dass die meisten Menschen all ihre Kraft, all ihre Gedanken an die Zukunft verschwenden und die Gegenwart ignorieren? Herr Bekker, alles um das ich Sie heute bitte, ist, meinen Rat anzunehmen. Schlafen Sie über die ganze Sache. Tun Sie nichts Unüberlegtes. Brücher ist nicht irgend jemand. Sie können den körperlichen Schaden, den ihr Freund erlitten hat, nicht ändern, indem Sie einen aussichtslosen Feldzug gegen einen hoffnungslos überlegenen Gegner beginnen. Aber Sie können viel für Jürgen Menzels zukünftige körperliche und mentale Entwicklung tun. Das steht fest, auch wenn wir beide noch nicht wissen, wie groß der zerebrale Defekt ist. Das müssen die nächsten Tage und Wochen zeigen. Gehen Sie die Sache pragmatisch an, mag Ihre Wut auch noch so groß sein. Wut ist ein schlechter Ratgeber. Sie Bekker sind die beste Lobby für die Zukunft Ihres Freundes. Schon wieder die Zukunft, sehen Sie.“

      Bekker wusste, dass Fritsche für einen Moment lächelte, auch wenn er sein Gesicht in der Dunkelheit nicht sehen konnte.

      „Natürlich wird man die Sache nicht unter den Tisch kehren können. Aber man muss es nicht an die große Glocke hängen. Es gibt Schlichtungsstellen, die fachkundig und emotionslos arbeiten. Ausgesprochen qualifizierte und weitgehend unabhängige Institutionen, soweit so etwas heutzutage möglich ist.“ Sein Realitätssinn war Fritsche immerhin noch nicht abhanden gekommen, dachte Bekker.

      „Dort wird man einen Kompromiss aushandeln. Ein Mann wie Brücher ist bestens abgesichert, und die Haftpflichtversicherer folgen überwiegend den Empfehlungen der Kommission und ihren Experten. Ihr Freund und seine Frau werden sehr, sehr viel Geld bekommen. Da verbürge ich mich. Geld, das sie dringend benötigen. Für die Rehabilitation, die Weiterführung oder Liquidierung der Firma. Eventuell die Pflege. Tut mir leid, aber auch daran muss man denken. Wie ich die Sache einschätze, steht zu befürchten, dass Ihr Freund nie mehr allein zurechtkommt.“

      Es war heraus, in aller Deutlichkeit, das erste Mal, seitdem sie zusammensaßen. Fritsche sah die medizinische Seite ebenso wie Bekker. Eher noch schlimmer. Nur bei der Beurteilung der Hintergründe wollte er sich offenbar bedeckt halten. Zumindest verfolgte er eine gänzlich andere Strategie.

      „Das Gericht ist die schlechteste Lösung. Ich weiß, was in Ihnen vorgeht. Sie wollen Gerechtigkeit. Sie wollen die Bestrafung des Mannes, der nach Ihrer Einschätzung, Ihrer ganz persönlichen Einschätzung“, Fritsche ließ keinen Zweifel, dass nicht jeder Bekkers Meinung teilen musste, zumindest nicht in dieser Konsequenz und keinesfalls offiziell, „die Gesundheit und Unversehrtheit ihres Freundes auf dem Gewissen hat. Ein schwerer Vorwurf. Durch einen angestellten Arzt der Universitätsklinik erhoben gegen einen ihrer Ordinarien, eine weltweit renommierte Kapazität auf seinem Gebiet, einen Mann mit enormem Einfluss in der Universität und auch außerhalb.“

      Fritsche malte ein vollkommen realistisches Szenario. Er übertrieb kein bisschen. Bekker wusste, dass es sich haarklein so verhielt.

      „Glauben Sie allen Ernstes, Herr Bekker, es fände sich in Deutschland oder anderswo im deutschsprachigen Ausland ein einziger anerkannter Fachmann, der als Gutachter gegen Brücher auftritt? Es wird Gefälligkeitsgutachten hageln. Am Ende ist der Patient selbst schuld gewesen. Die Anständigen werden die Begutachtung ablehnen, wegen Befangenheit oder angeblicher Überlastung. Aber die anderen – wie gesagt. Hören Sie auf zu träumen. Ein solcher Prozess wird ein Begräbnis erster Klasse für die Karriere und die Zukunft – schon wieder die Zukunft, wir kommen einfach nicht daran vorbei – eines gewissen Herrn Dr. Peter Bekker, aufstrebender anästhesiologischer Oberarzt mit besten Chancen. Peng! Das wird so schnell gehen, dass Sie es kaum wahrnehmen. Selbst ich könnte das nicht verhindern. Und Ihr Freund und seine Familie gehen womöglich leer aus. ‘Schicksalhafter Verlauf‘, Sie wissen doch. Vielleicht ein paar Mark von der Regenbogenpresse. Nicht der Rede wert im Vergleich zu dem, was die Versicherung zahlen wird. Zahlen muß, wenn der Anwalt und die Berater der Familie“, ein vielsagender Blick durch die Düsternis des Raumes, „es geschickt anstellen und vor allem kaltes Blut bewahren.“

      Bekkers Ablehnung war spürbar, auch wenn er noch nichts kommentiert hatte. Fritsche versuchte seinen Standpunkt mit unstreitigen Sachargumenten zu untermauern.

      „Machen Sie einen Haftpflichtschaden aus der ganzen Sache. Brücher wird sich zieren, aber er wird zustimmen. Natürlich hat er kein Interesse, durch einen Prozess vor die sensationslüsterne Öffentlichkeit gezerrt zu werden. So verrückt es klingen mag, aber Ihrer Beider Interessen sind ganz ähnlich gelagert. Ein Prozess nützt niemandem, außer den Rechtsanwälten. Oder glauben Sie allen Ernstes, vor Gericht gäbe es Gerechtigkeit?“

      Fritsche tastete nach der Stehlampe und machte in dem inzwischen stockdunklen Raum das Licht an. Er spähte hinüber zu Bekker, der aufmerksam zugehört hatte und sich jetzt räusperte.

      „Es ist in jedem Fall nett, dass Sie sich so bemühen, Herr Fritsche.“ Das war keine Floskel. Bekker meinte es ehrlich.

      „Ich weiß, dass Sie mir helfen wollen, und dass es Ihnen nicht nur darum geht, einen Skandal abzuwenden. Aber ich bin grundsätzlich anderer Ansicht. Unrecht hat immer eine Wurzel und beginnt dort, wo man wegsieht oder vertuscht, seien die Argumente dafür auch noch so schlüssig. Recht, mag dieser Begriff durch die menschliche Gesellschaft inzwischen auch noch so pervertiert sein, folgt keiner opportunistischen Logik. Recht ist unteilbar und sollte eigentlich unser höchstes Gut sein. Sollte! Um es zu erhalten, so wie ich es verstehe, müssen schmerzhafte Auseinandersetzungen in Kauf genommen werden. Ich habe nicht vor, Herrn Brücher zu vernichten. Das kann ich gar nicht.“ Es war offensichtlich, wie schwer es ihm fiel, den Namen auszusprechen.

      „Glauben Sie mir, Rachegefühle sind mir fremd. Aber ich werde mich dafür einsetzen, dass ein Gericht sagt, hier ist Schuld. Hier wurde ein verhängnisvoller Fehler begangen, gegen alle Regeln der Medizin und gegen den Widerstand fachkundiger Ärzte vor Ort. Hier wurden gegen jede Vernunft falsche Maßnahmen durchgesetzt. Nicht mittels überragender Kompetenz, sondern ausschließlich durch Machtmissbrauch in einem erstarrten, anachronistischen hierarchischen System, das zu derartigen Katastrophen geradezu einlädt. Dafür werde ich als Zeuge zur Verfügung stehen, und wenn ich ganz allein bin. Brücher hat ein Verbrechen gegen seinen Eid begangen, den man außer ihm wohl niemandem durchgehen lassen würde. Alles spricht dafür, dass er damit durchkommt. Ich will und werde all meine Kraft einsetzen, dass dies nicht geschieht.“

      Bekker spürte Fritsches Enttäuschung beinahe körperlich.

      „Tut mir Leid, Herr Fritsche. Wirklich. Ich werde Sie auch in keiner Weise in Bedrängnis bringen und nichts von Ihnen erwarten. Nur Fairness, aber da habe ich keine Sorge.“ Er stand auf. Das Gespräch war für ihn beendet. Er erwartete, dass Fritsche dies respektierte.

      „Ich hab’ Sie lang genug aufgehalten und gehe jetzt nach Hause.“ Er fasste in die Hosentasche.

      „Oh je, ich hab’ ja gar keine Schlüssel“, und mehr zu sich selbst, „Hoffentlich ist mein Vermieter zu Hause.“ Fritsche hatte seine Ernüchterung bereits wieder im Griff. Er war ebenfalls aufgestanden und nahm seinen Mantel, der an einem Haken hinter ihm aufgehängt war.

      „Schon okay,