Patricia Strunk

Kristallblut


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Überzeugt davon, dass alle Welt ihre Verwirrung sehen konnte, vertiefte sie sich eine Weile in den Anblick der Moose und Farne zu ihren Füßen, bis sie sicher war, dass ihr Gesicht seine normale Farbe wiedererlangt hatte. Sie sollte sich in Zukunft von Wasserfällen fernhalten.

      Die Wände des Tals schoben sich immer weiter zusammen, bis der Einschnitt gerade noch breit genug war, um die Wagen durchzulassen. Auch wenn die Beschaffenheit des Geländes einen Angriff der Amanori unwahrscheinlich machte, blieben die Gohari in Kampfbereitschaft. Immer wieder wanderten Blicke nervös nach oben und manche Hand verharrte am Schwertgurt. Die Mittagsrast fiel noch kürzer und karger aus als in den vergangenen Tagen. In aller Eile schlangen die Soldaten die ihnen zugeteilte Ration Brot und Trockenfleisch hinunter, wobei sie nicht einmal ihre Marschposition auflösten.

      Nach dem Essen musste Ishira sich dringend erleichtern. Für ihre abendliche und morgendliche Notdurft hatte sie ein Gefäß erhalten, das sie vor dem Aufbruch reinigte und bei ihrem Gepäck verstaute. Aber während der Mittagsrast konnte sie sich leider nicht einfach wie die Männer mit dem Rücken zu den anderen an den nächsten Baum stellen. Beim ersten Mal war ihr das Ganze dermaßen peinlich gewesen, dass sie ihr Bedürfnis so lange verhalten hatte, bis sie das Gefühl hatte zu platzen. Als sie sich schließlich wortlos hatte ins Gebüsch davon stehlen wollen, hatte Kiresh Yaren sie prompt aufgehalten und gefragt, wo sie hinwollte. Wahrscheinlich war sie vor Verlegenheit angelaufen wie ein gekochter Flusskrebs. Sie hatte dieses Thema nun wirklich nicht vor den Ohren so vieler Männer erörtern wollen. „Ihr wisst schon…“ hatte sie herumgedruckst. In seinen Augen hatte zuerst nichts als blankes Unverständnis gestanden, bis ihm endlich die Erleuchtung kam. Umso überraschter war sie gewesen, als er aufgestanden war und etwas davon gemurmelt hatte, dass er sie begleiten werde. Das hatte er auf ihren bisherigen Reisen nie getan. Allerdings hatte sie sich sonst auch nicht so weit in die Wildnis entfernen müssen wie hier, wo sie von einem ganzen Heer umgeben war. So weit abseits jeglicher Zivilisation gab es vermutlich mehr wilde Tiere als auf den Routen zwischen den Siedlungen. Oder glaubte er, sie vor den Soldaten beschützen zu müssen? Natürlich gab es auch noch eine andere naheliegende Erklärung: dass er sicherstellen wollte, dass sie nicht davonlief.

      Ishira räusperte sich in dem Versuch, die Aufmerksamkeit ihres Begleiters zu erlangen. „Kiresh Yaren, Deiro?“

      Er ließ den Wasserschlauch sinken und wischte sich mit dem Handrücken über die Lippen. „Was ist? ... Oh...“ Inzwischen konnte er ihr Anliegen bereits aus ihrem Gesichtsausdruck ablesen. Als er sich erhob, hatte sie den Eindruck, dass seine Wangen ein wenig gerötet waren. Diese Erkenntnis ließ ihr eigenes Gesicht aufflammen. Na, großartig! Das konnte ja noch heiter werden!

      Schweigend gingen sie den Weg ein Stück voraus, jeder darauf bedacht, den Blick des anderen zu meiden. Ishira suchte nach einem unverfänglichen Thema, um ihre Befangenheit zu überspielen. „Wart Ihr schon einmal in diesem Teil Inagis, Deiro?“ fragte sie schließlich.

      „Ja.“ Sie glaubte schon, dass das alles war, doch nach einem Moment sprach er weiter. „Hinter dieser Enge liegt ein offenes Tal.“ Seine Augen verengten sich nachdenklich. „Würde mich nicht wundern, wenn uns die Drachen dort angreifen. Sei also morgen besonders wachsam.“

      Ishira fröstelte auf einmal, obwohl sie von Anfang an gewusst hatte, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis es zur Konfrontation kommen würde. Der Amanori heute war nur die erste Ankündigung gewesen. Eine Warnung weiterzugehen. „Das werde ich“, versprach sie.

      Außer Sichtweite der Befehlshaber blieb der Kiresh stehen und musterte die Umgebung. „Scheint alles ruhig zu sein. Beeil dich trotzdem.“

      Sie nickte und ging noch einige Schritte weiter bis zu einem dichten Gebüsch, das sie vor den Augen ihres Begleiters verbarg. Ob ihm die Situation genauso unangenehm war wie ihr? Als sie ihre Notdurft verrichtet hatte und sich aus der Hocke erheben wollte, fiel ihr auf, dass der bemooste Stein vor ihr eine ungewöhnliche Form besaß. Als sei er von Menschen behauen worden. Neugierig strich sie mit der Hand darüber und versuchte mit dem Fingernagel einen Teil des Bewuchses abzukratzen. Zu ihrem Erstaunen kam darunter eine verwitterte Gravur zum Vorschein. Viel war nicht zu erkennen, aber der obere Teil hätte ein Wappen sein können.

      „Bist du fertig?“ ließ sich Kiresh Yaren ungeduldig vernehmen.

      „J-ja.“ Hastig stand Ishira auf und zog ihr Kleid zu den Knien hinunter. „Ich habe etwas Merkwürdiges entdeckt. Vielleicht solltet Ihr Euch das ansehen, Deiro.“

      Sie hörte seine Schritte näher kommen. „Was gibt es jetzt wieder?“

      Ishira wies auf den Stein. „Was haltet Ihr davon?“

      Er ließ sich stirnrunzelnd auf einem Knie nieder und fuhr mit den Fingern über die Gravur. „Sieht wie ein alter Grenzstein aus“, sagte er verblüfft. „Aber wer hätte ihn hier in dieser Einöde aufstellen sollen?“

      „Ein Grenzstein? Was ist das?“

      „Er kennzeichnet die Zugehörigkeit eines Gebiets zu einem Herrschaftsbereich. Normalerweise stellt man solche Steine entlang von Handelsstraßen auf. Sind sie dir noch nie aufgefallen, wenn wir von einem Hem in ein anderes gereist sind?“

      Ishira kramte in ihrer Erinnerung. Jetzt, wo er es sagte… „Ihr meint, dass es hier irgendwann einmal eine Straße gab?“

      Ihr Begleiter sah sich um. „Schwer vorzustellen. Wenn, muss das schon eine Ewigkeit her sein. Hier ist garantiert seit Hunderten von Jahren niemand mehr gereist.“ Er zog sich hoch. „Ich glaube nicht, dass dieser Stein große Bedeutung hat, aber ich werde Helon vorsichtshalber davon unterrichten.“

      Die Heerführer zeigten an der Entdeckung nur mäßiges Interesse; es war ihnen wichtiger, so schnell wie möglich weiterzuziehen. Anders die Telani: Sie bestanden darauf, den Fund in Augenschein zu nehmen, und so führte Ishira kurz darauf einen sichtlich missgestimmten Shohon und zwei der Gelehrten zu dem geheimnisvollen Stein.

      „Sieht mir in der Tat wie ein Grenzstein aus!“ rief Koban, kaum dass er den Stein erblickt hatte. Der nach Maßstäben der Gohari kleinwüchsige Gelehrte mittleren Alters nahm sein Messer vom Gürtel und setzte Ishiras Versuch, Moos und Flechten abzuschaben, fort. „Erstaunlich“, kommentierte er, ohne in seiner Arbeit innezuhalten. „Wenn das, worauf wir stehen, wirklich die Überreste einer alten Landstraße sind, bedeutet das, dass die Berge um uns herum einst besiedelt waren. Zumindest muss hier irgendwo ein Schrein, eine Burg oder wenigstens ein Vorposten gestanden haben.“

      „So unwahrscheinlich ist es nicht, dass hier früher eine Straße verlief“, warf der andere Telan, ein hagerer Mann mit schütterem graumeliertem Haar namens Garulan, ein. „Falls die Drachen in grauer Vorzeit tatsächlich keine Bedrohung für die Menschen darstellten, ist es durchaus denkbar, dass die Inagiri auch tiefer in den Bergen gesiedelt haben. Wir sollten uns allerdings nicht der Hoffnung hingeben, von diesen Bauwerken mehr als Reste der Schutzmauern zu finden.“ Als er Helons Blick auffing, hob er in einer beschwichtigenden Geste die Hände. „Ich wollte damit nicht andeuten, dass ich vorhabe, nach diesen Ruinen zu suchen.“

      „Mit Eurer Erlaubnis, Shohon, werde ich zumindest diese Inschrift kopieren“, sagte Koban mit leuchtenden Augen. Ohne Helons Antwort abzuwarten, förderte er aus den Tiefen seiner langen Ärmel einen Bogen Pergament zutage, den er auseinanderfaltete und über die Inschrift legte.

      „Ich werde es für Euch halten“, bot Garulan an und streckte seine knochige Hand nach dem Pergament aus.

      „Oh, danke, mein Lieber, das vereinfacht die Sache.“ Mit einem Stück Kohle, das er diesmal aus seiner Gürteltasche hervorzauberte, rieb Koban über das Blatt. Fasziniert beobachtete Ishira, wie sich darauf die Umrisse der Gravur abzuzeichnen begannen. Der obere Teil hatte wirklich Ähnlichkeit mit einem Wappen. Darunter stand etwas geschrieben, aber viele der Zeichen waren durch die Zeit stark beschädigt oder existierten überhaupt nicht mehr.

      „Die Schrift sieht eigenartig aus“, murmelte Koban. „Zwar entspricht sie weitgehend der inagischen Schrift, aber es kommt mir so vor, als würden einige Zeichen einen komplizierteren Aufbau besitzen. Was meint Ihr, Garulan?“

      Der Shohon