Patricia Strunk

Kristallblut


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Blick behalten würden, oder ob sie gegen alle Vernunft hoffte, bis dahin würde etwas geschehen, dass ihr die Entscheidung leichter machte.

      Ihr Bruder ließ sie los. „Wie du meinst.“ Er gab sich keine Mühe, die Enttäuschung in seiner Stimme zu verbergen. „Ich hoffe nur, du weißt, was du tust.“

      KAPITEL IV – Auf und davon

       Bilder flossen in Ishiras Geist, unscharf und verschwommen wie Spiegelungen in unruhigem Wasser. Um sie herum nahm sie Bewegung wahr. Geschuppte Leiber und schlangenartige Hälse schoben sich geisterhaft wabernd in ihr Gesichtsfeld, lösten sich auf und formten sich neu. Den Bildern folgten Worte, die durch ihren Kopf rollten wie Donnergrollen. Sie waren gleichzeitig nah und fern und auch wenn Ishira ihren Sinn nicht erfasste, besaßen sie etwas Emphatisches, Einpeitschendes, das sie an die Rede des Marenash vor der goharischen Armee erinnerte. Das Donnergrollen steigerte sich zu einem mit Gongschlägen gepaarten Trommelwirbel, unterlegt von durchdringendem Summen, so als ob ein aufgescheuchter Bienenschwarm um Ishira herum schwirren würde. Etwas rauschte wie Sturmböen, die durch eine enge Gasse fegten. Um sie herum verdunkelte sich der Himmel, als sich ein Wald aus Schwingen entfaltete.

      Ishira fuhr hoch. Sie erinnerte sich daran, geträumt zu haben, aber wie so oft zerrann ihr der Traum zwischen den Fingern, als sie danach greifen und ihn festhalten wollte. Sie wusste nur, dass er mit den Amanori zu tun gehabt hatte. War es ein schlichter Alptraum gewesen, weil Kiresh Yaren gestern seine Befürchtung eines Angriffs mit ihr geteilt hatte? Oder war es eine ihrer Visionen? Ishira zögerte. Sie hatte diese Visionen eigentlich noch nie im Schlaf gehabt, aber die Szene hatte trotz aller Undeutlichkeit real gewirkt. Sich real angefühlt. Als sie an all die Schwingen dachte, die sich in den Himmel erhoben hatten, stellten sich auf ihren Armen sämtliche Härchen auf. Es mussten mehr Amanori sein, als jemals einer von ihnen gesehen hatte – und sie waren bereit zum Kampf.

      Abwesend schlug sie die Decke zurück und langte nach ihrem Kleid. Sollte sie ihrem Begleiter davon berichten? Aber was sollte sie sagen? Dass sie von den Amanori geträumt hatte? Er würde sie höchstens mitleidig ansehen und ihr versichern, dass er sie beschützen würde. Neben ihr gab Kenjin einen verschlafenen Laut von sich und blinzelte sie an. „Was ist los, Nira? Du siehst so beunruhigt aus.“

      Ishira zog sich ihr Kleid über den Kopf. „Ich habe davon geträumt, dass die Amanori auf dem Weg hierher sind“, nuschelte sie durch den Ausschnitt.

      Ihr Bruder blieb entspannt. „Mach dich nicht verrückt, das-“

      Er kam nicht dazu den Satz zu beenden, weil Kiresh Yaren im selben Moment den Vorhangstoff beiseite riss. „Was sagst du da? Die Amanori sind hier?“ Offenbar hatte er nur den zweiten Teil ihres Satzes aufgeschnappt. Er konnte selbst gerade erst aufgestanden sein, denn er war nur halb angekleidet und eine Strähne seines dunklen Haars hing ihm in die Augen. Ungeduldig strich er sie zurück. Ishiras Blick blieb an seinem offen stehenden Hemd hängen, das freie Sicht auf seine muskulöse Brust gewährte, auf der die Kette mit Drachenzähnen klimperte. Hitze flutete durch ihre Adern. Einen Moment lang war sie zu abgelenkt um zu antworten. „Jetzt rede schon!“ fuhr er sie an.

      „Es, es war nur ein Traum“, stotterte sie. „Sie sind nicht hier.“ Tatsächlich konnte sie keine Anzeichen irgendeiner Drachenpräsenz entdecken. Hieß das, sie hatte tatsächlich nur geträumt?

      Der Kiresh starrte sie noch einen Augenblick länger an, als brauchte er Zeit, um zu verarbeiten, was sie gesagt hatte. Dann räusperte er sich und zog mit einer Hand zerstreut sein Hemd zusammen. „Verzeih das Missverständnis“, entschuldigte er sich zu ihrer Überraschung, bevor er den Kopf abrupt zurückzog und den Vorhang fallen ließ.

      In Ishira regte sich Unbehagen, dass sie ihm etwas dermaßen Bedeutsames wie ihre Verbindung zu den Amanori verschwieg. Aber sie konnte es niemandem sagen. Jedenfalls keinem Gohari.

      Als der Kiresh sie kurze Zeit später aus dem Zelt scheuchte, herrschte im Lager rege Betriebsamkeit. Zelte wurden abgebaut, Pferde gesattelt, Gepäck verladen, Umasus angeschirrt. Die Kireshi, die für Rohins ‚Drachentöter‘ verantwortlich waren, vergewisserten sich, dass die Sprengrohre rasch geladen werden konnten. Augenscheinlich wollten die Gohari bereit sein, falls die Amanori heute tatsächlich angriffen.

      Kiresh Yaren hielt Ishira ein Stück Brot hin. „Hier. Teil es dir mit deinem Bruder. Das muss heute als Frühstück reichen.“ Er legte den Kopf in den Nacken, als wollte er Ausschau nach ihren Gegnern halten, obwohl die Zweige der Zedern nur kleine Ausschnitte des Himmels preisgaben. „Der Shohon will früh aufbrechen, um das Tal so schnell wie möglich zu durchqueren. Am liebsten wäre er in der Nacht weitermarschiert, aber das war wegen der Wagen nicht möglich.“

      Ishira nickte geistesabwesend. Halb hing sie noch immer ihrem Traum nach. Ihre Unruhe ließ sich nicht vertreiben, hatte sich eher noch verstärkt. Was, wenn sie doch reale Ereignisse beobachtet hatte? Wenn die Amanori sich bereits zum Angriff formierten? Konnte sie einfach ignorieren, was sie gesehen hatte?

      Sie schloss die Augen, um sich besser konzentrieren zu können, und suchte nach den Echsen. Sie stellte sich vor, dass sie ihren Geist in alle Himmelsrichtungen zugleich aussandte, als würde sie einen Stein ins Wasser werfen und die Wellen sich vom Punkt seines Eintauchens aus kreisförmig ausbreiten. Mit all der Unruhe um sie herum fiel es ihr schwer, ihre Konzentration aufrechtzuerhalten, aber irgendwie gelang es ihr, die störenden Geräusche auszublenden.

      Unvermittelt wurde es um sie herum hell, als hätte ihr jemand eine Decke vom Kopf gerissen.

       Sie saß mit den anderen Amanori auf einem Bergkamm und wartete. Unter ihr breitete sich ein Tal aus, das große Ähnlichkeit mit demjenigen hatte, an dessen Rand die Armee lagerte, auch wenn es aus dieser Perspektive natürlich anders aussah. Aber Ishira erkannte die Felsen, die wie hingeworfen auf der Wiese lagen. Dann sah sie in den Ausläufern des Waldes zu ihren Füßen Rauch aufsteigen. Die letzten Rauchkringel der gelöschten Lagerfeuer. Es war kein Zweifel möglich: Die Amanori beobachteten sie. Ishira spürte deutlich die Erregung der Echse, in deren Körper sie geschlüpft war, und fand Antwort in den bebenden Leibern ihrer Artgenossen. Ihr eigenes Blut begann in Erwartung des Kampfes zu pulsieren. Sie reckte den Hals und fühlte, wie sich die Hautlappen zu beiden Seiten auffächerten. Sobald die Menschen den Schutz der Bäume verließen, würden sie über ihnen sein und sie zerbrechen wie trockenes Holz.

      Das Brot in Ishiras Hand wurde matschig, als ihre Finger es zusammenquetschten. Ihre Kopfhaut prickelte auf einmal wie wild. Kiresh Yaren musterte sie mit zusammengekniffenen Augen. „Was ist?“

      „Die Amanori sind ganz in der Nähe“, erwiderte sie atemlos. „Sie warten irgendwo hinter uns auf einem Berg darauf, dass wir den Wald verlassen.“

      „Willst du sagen, sie lauern uns auf?“ Er bemühte sich, das grüne Nadeldach mit seinen Blicken zu durchdringen.

      „Kannst du sagen, wie viele es sind?“ fragte der Shohon neben ihm.

      Ishira sah in ihrer Erinnerung den Wald aus Schwingen. Geschuppte Leiber dicht an dicht. „Vier- oder fünfmal zehn“, antwortete sie gepresst. „Vielleicht noch mehr.“

      Helon wirkte einen Moment lang bestürzt. „Bei den Göttern“, murmelte er. Dann drehte er sich zu den Kireshi um. „Macht die Geschütze bereit, Männer! Die Drachen werden uns höchstwahrscheinlich angreifen, sobald wir den Wald verlassen. Lasst die Vorratswagen und die Pferde hier. Wir holen sie später nach. Aber sorgt dafür, dass die Tiere nicht durchgehen können.“

      Beruk musterte Ishira argwöhnisch. „Ich möchte wirklich wissen, woher du deine Weisheit beziehst. Allein aus ihrer Aura kannst du wohl kaum schließen, was die Drachen vorhaben.“

      „Bei allem Respekt, Bashohon, aber was schließt Ihr selbst aus der Tatsache, dass eine enorme Anzahl Drachen ganz in der Nähe ist, ohne dass wir sie sehen?“ gab Kiresh Yaren mit kaum verhohlener Ungeduld zurück. „Diese Bestien werden vom Instinkt des Jägers angetrieben, der allen Raubtieren angeboren ist. Sie warten auf den günstigsten Moment um zuzuschlagen.“ Etwas ruhiger fuhr er fort. „Ich gebe allerdings