Hans Gerd Scholz

Sucht Ho Ki Su


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Sorya fluchte. Dies war genau das, was er nicht lesen wollte. Männer mit diesem Hintergrund konnten einem schon das Leben schwer machen. Schwerer jedenfalls als es notwendig wäre.

      Außerdem beherrschte dieser Ho Ki Su sehr gut die chinesische Sprache. Daneben verstand er

      Einigermaßen Englisch und rudimentäres Russisch.

      Han Sorya verstand, dass er diesen Mann nicht unterschätzen durfte. Der Kerl war zur Härte erzogen, würde mit widrigen Verhältnissen fertig werden und verstand zu kämpfen. Außerdem hatte er auch etwas im Kopf. Schlimmer hätte es nicht kommen können. Dennoch: Was war dies alles gegen die gesamte Staatsmacht, gegen deren Technik, gegen Männer wie ihn, die sie einzusetzen wussten. Und dieser Ho Ki Su war beileibe nicht der erste, den sie sehr schnell wieder eingefangen hatten.

      Längst war die Fahndung heraus. Längst wusste jeder Spitzel von dem Gesuchten. Längst war jede Polizei, Zoll, und sonstige Dienstelle entlang der gesamten Grenz- und Küstenlinie informiert. Eine Flucht über den internationalen Flughafen in Pjöngjang war sowieso völlig ausgeschlossen. Bald würde er entdeckt werden. Dafür sorgten schon die ständig im Fernsehen ausgestrahlten Fahndungsaufrufe. Irgendjemand würde ihn entdecken, erkennen oder einen Hinweis liefern. Der Flüchtling hatte keine Chance.

      Soeben wurde gemeldet, dass man den Lagerkommandanten gefunden habe. Han Sorya ließ den Mann vorführen.

      „Was haben sie sich eigentlich dabei gedacht, bei ihrem bodenlosen Leichtsinn? Wie konnten Sie ohne gründlich Kontrolle das Lagertor passieren? Was hatten Sie außerdem noch nachts auf den Straßen zu suchen?“

      Die Fragen prasselten wie Machinengewehrsalven auf den schockierten Kommandanten. Ehemaligen Kommandanten, soviel war längst klar. Dem nichts von seiner Selbstsicherheit, seinem großspurigen Benehmen von einst geblieben war. Sollte er je wieder dieses Vernehmungsgebäude verlassen, dann wohl nur, um direkt in eines jener Straflager zu wandern, die er zuvor kommandiert hatte. Wenn er seine Lungenentzündung, die er sich beim Warten auf Hilfe auf dem nackten, kalten Boden zugezogen hatte, überleben würde. Dafür interessierte sich aber niemand. Wenn dieser Kerl daran verreckte, dann war das eben so.

      Schicksalsergeben und kleinlaut beantwortete der ehemalige Kommandant so gut er konnte die gestellten Fragen. Im Grunde interessierten seine Antworten nicht wirklich. Aus ihnen würde sich kaum auf die Pläne und den jetzigen Aufenthaltsort von Ho Ki Su schließen lassen. Das wusste auch Han Sorya und ließ den Festgenommenen abführen.

      Kurze Zeit später wurde er informiert, dass das Fluchtfahrzeug gefunden war. Nachdem man sämtliche Feld- und Waldwege erfolglos durchkämmt hatte, begannen Taucher im Fluss zu suchen und waren fündig geworden. Man konnte noch ein paar Fingerabdrücke von dem Gesuchten sicherstellen und sie mit den gespeicherten aus der Personalakte abgleichen. Dann stand fest, dass Ho Ki Su in dem Russenjeep geflohen war.

      Doch schließlich verlor sich seine Spur in Kanji Dong, der Stadt mit dem Eisenbahnknotenpunkt. Bis dort hin war er aller Wahrscheinlichkeit nach gelangt. Han Sorya stellte sich vor die große Karte, die die hintere Wand seines Büros verhüllte. Versonnen starrte er darauf.

      „Was würdest du an seiner Stelle jetzt tun?“ fragte er sich.

      Der einzig logische Weg führte nach Norden. Der größte Teil des Landesinnern war mit Längstälern in Nord-Süd-Richtung durchzogen. Um möglichst schnell voranzukommen, würde er ihnen folgen müssen. Das ständige Überschreiten der Gebirgskämme würde nicht nur sehr viel Mühe erfordern, sondern auch die Zeit vervielfachen. Er musste diese Bach- und Flusstäler also mit Wachtposten sichern.

      Über See zu entwischen war völlig unmöglich, nachdem die Küstenwache mit modernen Patroullienbooten und Ortungssystemen jede Schiffsbewegung im Blick hatte. Kein noch so kleines Boot würde unentdeckt bleiben. Das wusste auch sein Gegner.

      Würde er es wagen, den Tumen zu überschreiten? Dieser besonders gut gesicherte Grenzabschnitt nach Russland war ebenfalls kaum zu überwinden. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Ho Ki Su es riskierte. Oder vielleicht gerade deshalb? Weil niemand damit rechnen würde? Er beschloss, noch einmal mit dem Befehlshaber dieses Bereichs zu sprechen.

      Sehr viel wahrscheinlicher war ein Versuch, über die relativ schwach gesicherte Seegrenze im

      Westen nach China zu gelangen. Hier wurde an Mitteln gespart, da der mächtige Nachbar schon dafür sorgen würde, dass kein feindlich gesinntes Schiff Zugang in den Meeresarm von Bo Hai erlangen würde. Die Meerenge zwischen den Miaodao-Inseln und der äußersten Südwestecke Nordkoreas, der Hafenstadt Lushun in der Nähe der Großstadt Dalian war hermetisch abgeriegelt.

      Deshalb musste man es mit der Überwachung dieser Region auch nicht übertreiben.

      Was blieb, war die nördliche Landesgrenze nach China. Hier würde es Han Sorya wohl versuchen, wenn er in der Lage des Flüchtlings wäre. Sie war ebenfalls nur schwach gesichert.

      Aber warum war er dann in Richtung Osten geflüchtet? Das machte irgendwie keinen Sinn. Wollte er nur eine falsche Spur legen? War das nicht zu viel der Mühe? Warum verschwand er nicht so schnell wie möglich ins innere Hochland, in die extrem dünn besiedelten Region des Rangnim-Gebirges, wo ihn auch eine Armee Soldaten so schnell nicht aufstöbern konnte.

      *********

      Ho Ki Su lugte vorsichtig durch den Spalt in der Bretterwand der Scheune. Sollte er es wagen, sich schon heute aus seinem Unterschlupf zu begeben? Bislang ging sein Plan auf. Er hatte ein sicheres Versteck gefunden. Hier hatte man bislang nicht nach ihm gesucht. In den letzten vier Tagen hatte er neue Kraft schöpfen können. Er hatte sich gründlich gewaschen, seinen zerschlagenen, geschundenen Körper mit neuer Energie versorgen und sich seelisch auf seine weitere Flucht vorbereiten können.

      Die Lebensmittel waren verbraucht. Allein schon deshalb musste er los.

      Er zog die teure Uhr des Lagerkommandanten mit dem runden Ziffernblatt vom Arm. Sie musste als provisorischer Kompass dienen, der allerdings nur bei sichtbarer Sonne funktionieren konnte. Es war gerade kurz nach sieben. Die Zwölf richtete er auf das Zentralgestirn, das matt und trübe durch den Nebel leuchtete. Er wusste, dass die Winkelhalbierende zwischen der aktuellen Stunde und der Zwölf die Richtung nach Süden anzeigte. Der rechte Winkel dazu im Uhrzeigersinn würde also nach Westen weisen, der Richtung, in die er wollte.

      Fern am Horizont erhob sich der steile Gipfel eines knapp 2000 m hohen Gebirgszug. Dies war sein nächstes Ziel. Sollte er es erreichen, würde er auf die gleiche Weise eine neue Landmarke finden müssen, auf die er dann zusteuern würde. Aber so weit war er noch nicht.

      Zunächst folgte er dem schmalen Pfad des Fußwegs, der in nördliche Richtung führte. Genau westlich befand sich das Lager, das er weiträumig umgehen wollte. Durch lichten Bergwald, bestehend aus windschiefen Kiefern, vereinzelten Hecken und Brombeergestrüpp führte der Weg leicht bergan. Im Sommer musste er mit Hirten und deren Hunden rechnen, doch jetzt war die Weidezeit längst vorüber, so dass er damit rechnen konnte, niemandem zu begegnen. So schnell er konnte schritt er voran. Er musste soviel Strecke machen wie möglich. Allerdings durfte er sich nicht überanstrengen. Seinen Wunsch, in den Laufschritt zu fallen, musste er zügeln. Schon allein deshalb, weil er sich damit verdächtig gemacht hätte, sollte ihn jemand sehen.

      Nach zwei Stunden kreuzte ein breiter Weg seinen Pfad. Er wählte die Richtung nach Westen, weil er glaubte, sich nun in ausreichender Entfernung nördlich des Lagers zu befinden. Steil wand sich der Karrenweg bergab. Frische Radspuren zeigten an, dass er häufig genutzt wurde. Er erkannte die Hufabdrücke eines Pferdes. Nach einer knappen halben Stunde überquerte er auf einer primitiven Holzbalkenbrücke einen schäumenden Gebirgsbach. Ebenso steil ging es nun weiter bergan zum Sattel des Bergrückens.

      Gerade rechtzeitig gelang es ihm, hinter einer Hecke zu verschwinden, als ihm ein Pferdefuhrwerk entgegenkam. Der Bauer hatte ihn wohl nicht gesehen. Ki Su wartete, bis das Gespann um die nächste Ecke verschwunden war.

      Wahrscheinlich gab es in den Gebirgsregionen im dünn besiedelten