Hans Gerd Scholz

Sucht Ho Ki Su


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vor allem seine Kenntnisse über die Stationierung der Atomraketen, die das gesamte Verteidigungsprogramm des Landes Makulatur werden ließen, sollten sie in die Hände des Feindes fallen. Sie würden alles, wirklich alles daran setzen, ihn zu finden.

      Sollte seine Flucht Erfolg haben, musste er sich völlig anders verhalten, als sie es von ihm erwarten würden. Die logische Fluchtroute wäre in Richtung des Grenzabschnitts im Nordosten des Landes nach Russland. Die knapp zwanzig Kilometer entlang des Flusses Tumen würden sie vollständig abriegeln. Und zwar so lange, bis sie ihn gefasst hätten. Sollte er die Grenzanlagen überwinden können, wäre es von dort nach Wladiwostok nur noch ein Katzensprung. In der Hafenstadt sollte es möglich sein, auf einem Frachter nach Japan zu gelangen. Dort wäre er vor einer Auslieferung sicher. Aber dieser Weg war versperrt, davon konnte er ausgehen.

      Die Küste würden sie ebenfalls genauestens überwachen. Von dort, sowohl im Osten wie im Westen, verließen immer wieder Flüchtlinge auf kleinen, zerbrechlichen Booten das Land.

      Vertrauten sich der See an, obwohl ihre Gefährte meist weder über die erforderlichen Sicherheitseinrichtungen, Rettungsmittel noch über ausreichende Seeerfahrung ihrer Kapitäne verfügten. Hinzu kam, dass jetzt alle Häfen genauestens kontrolliert wurde, ein Heer von Spitzeln und Aufpassern angeheuert würde, um seine Flucht zu verhindern. Er war der meistgesuchte Mann. Nein, über See nach Südkorea zu gelangen, war zumindest ihm unmöglich.

      Die chinesische Grenze im Norden war dagegen verhältnismäßig schwach bewacht. Noch vor nicht allzu langer Zeit herrschten ja brüderliche Beziehungen zu dem Riesenreich. Nordkorea konnte sicher sein, dass alle aufgegriffenen Flüchtlinge umgehend zurückgeschickt wurden. Doch dies war der einzige Weg. Rund eintausendfünfhundert Kilometer lang war diese Grenze. Da musste es ein Loch geben, durch das er verschwinden konnte. Selbst dem mächtigen Geheimdienst konnte es nicht gelingen, sie hermetisch abzuriegeln. Hier blühte immer noch der Schmuggel, mit dem der größte Mangel im Land behoben wurde und allein deshalb schon nicht völlig unterbunden wurde. So gelangten hochwertige elektronische Güter ins Land, für die es in Nordkorea keine Produktionsstätten gab. Fernseher in Digitaltechnik, Handys, Kameras und vieles mehr. Es gab zwar ein striktes Handyverbot, doch nicht alle hielten sich daran. Allein deshalb stand die Regierung diesem Schmuggel zwiespältig gegenüber.

      Es hatte schon im Jahr 2002 einen Mobilfunkbetreiber gegeben. Doch achtzehn Monate später war die Firma bereits verboten worden. Die Regierung fürchtete, dass unliebsame Informationen ins Land gelangen könnten. Oder, noch schlimmer, Informationen das Land verlassen könnten. Am meisten aber fürchtete sie sich davor, dass Oppositionelle geheime Verabredungen treffen könnten. Doch das galt für die normale Bevölkerung. Militär und Polizei konnten die Geräte selbstverständlich uneingeschränkt nutzen.

      Natürlich würde man jetzt, nach seiner Flucht, die Grenzüberwachung drastisch verschärfen. Doch je länger er unentdeckt blieb, desto mehr erhöhten sich seine Chancen. Das gleiche galt für die Himmelsrichtung. Je weiter er nach Westen gelangte, desto weniger würde gesucht werden. Im Westen würde mit jedem Kilometer der Weg durch China nach Japan, dem einzig logischen Ziel, länger. Und China war gefährlich. Je länger er in China blieb, desto größer war die Chance, aufzufliegen.

      Zuvor musste er noch fast das komplette Land durchqueren. Wie sollte er das anstellen? Sie würden ihn bald haben, falls er den Wagen benutzen sollte. Den Hubschraubern, die die wenigen Straßenverbindungen und Feldwege absuchen würden, konnte er nicht entgehen. Woher bekam er Benzin? Schon jetzt zeigte die Treibstoffuhr, dass der linke der beiden 40 Liter Treibstoff fassenden Tanks fast leer war. Er schaltete auf den rechten. Dieser war noch gut gefüllt. Gott sei Dank.

      Der Kommandant hatte immer wieder einige Häftlinge dem Militär ausgeliehen, wo sie für private Zwecke der Offiziere eingesetzt wurden. Er selbst war einmal beim Ausschachten der Fundamente eines Privathauses im Einsatz gewesen. Bezahlt wurde diese Gefangenenvermietung in Naturalien wie Lebensmitteln oder Treibstoff.

      Diese Möglichkeiten hatte er nicht. Wenn der Tank leer wurde, war das Auto wertlos. Jetzt aber konnte es dazu dienen, eine falsche Spur zu legen. Er wollte in die Küstenebene zur Bahnstrecke. Dorthin, wo das Magnesiumerz, das auch er gefördert hatte, auf die Eisenbahn umgeschlagen wurde.

      Nach zwei Stunden Fahrt über die halsbrecherische Piste durchs schroffe Inlandsgebirge erreicht er die Kleinstadt Kanji-Dong. Sie war der Ausgangspunkt der Zugstrecke zur 80 km entfernten

      Hauptverbindungslinie in den Norden und Süden entlang der Ostküste. Hier befand sich das Erzterminal, wo das Gestein von den LKW auf die Bahn umgeschlagen wurde.

      Doch vorher musste er den Geländewagen verschwinden lassen. Er fuhr bis zum Damm, dort wo der Fluss durchs Tal zur Stromgewinnung aufgestaut wurde. Kurz vorher, außer Sichtweite des Wachpersonals, hielt er oberhalb der steilen Uferböschung den Wagen an. Er stieg aus, kam mit einem dicken Felsbrocken zum Wagen zurück, der im Leerlauf schnurrte. Bevor er den Jeep das Ufer hinab stürzen wollte, musste er ihn auf verwertbare Gegenstände absuchen. Sehr viel fand er nicht. In den beiden Klappen, der Fortsetzung der hinteren Kotflügel im Inneren des Fahrzeugs, fand er etwas Bindedraht. Außerdem, und dies war ungleich wertvoller, eine Ein-Mann-Zeltbahn. Sie stellte in fast allen Armeen einen festen Bestandteil der Ausrüstung dar. Knüpfte man sie zusammen mit der Bahn eines Kameraden, wurde ein Zelt daraus. Aber auch allein war sie nicht nur als als Wetterschutz für die Nacht verwendbar, sondern man konnte sie tagsüber auch als Poncho gegen Wind und Regen beim Marschieren tragen.

      Als er die Gegenstände auf den Straßenrand geworfen hatte, beugte er sich mit der rechten Körperseite in das Fahrzeug, legte den ersten Gang ein und hielt die Kupplung mit dem rechten Fuß getreten. Den Felsbrocken legte er auf das Gaspedal. Nun heulte der Motor auf. Er zog sein Bein zurück und rollte sich auf die Straße. Der schwere Wagen überwand problemlos die fehlenden Meter bis zur Uferböschung und plumpste ins Wasser. Sehr bald darauf verstarb der Motor. Dicke Luftblasen begleiteten den Weg des Jeeps in die Tiefe.

      Ki Su zog sich wieder den Mantel an, den er vor der Versenkung auf einen Stein am Straßenrand gelegt hatte, damit er sauber bleiben sollte. Er schlang sich den Beutel mit den Lebensmitteln um die Schulter. Dann machte er sich auf, um zu Fuß die restlichen sechs Kilometer bis zur Bahnlinie zurückzulegen. Dort hoffte er, einen Fahrer der LKW-Kipper zu finden, der ihn zurück in Richtung der Erzmine und des Lagers mitnehmen würde. Er war sicher, dass jetzt noch niemand von seinem Ausbruch wusste.

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      Ja, er musste zurück. In unmittelbarer Nähe des Lagers würde ihn niemand vermuten. Dies war der einzige Platz im Land, in dem er nicht gesucht würde. So tolldreist es war, so logisch war es auch. Wer sollte auf die Idee kommen, dass er zurückkehren würde?

      Er musste einen LkW-Fahrer finden, der keine Fragen stellte. Der mit dem halben Wochenlohn, mit dem er ihn bestechen wollte, zufrieden sein würde. Der hoffentlich intelligent genug war, auf keinen Fall ein Wörtchen zu dem Sicherheitspersonal, schon gar nicht der Geheimpolizei gegenüber, zu verlieren. Denn dann müsste er nicht nur das Geld abgeben, sondern möglicherweise auch den Kopf.

      Nach Kanji-Dong würde er noch zwei Stunden unterwegs sein. Er konnte sich Zeit lassen. Die Straße war leer. Kein Kraftfahrzeug, kein sonstiges Fuhrwerk oder irgendwelche Menschen waren unterwegs. In den frühen Morgenstunden würde sich das ändern. Kleinbauern, die es trotz der Landreform noch hier und da gab, würden ihre Waren, zumeist Obst und Gemüse, vielleicht sogar etwas Fleisch, in die Stadt bringen und sie verkaufen. Arbeiter aus den kleinen Dörfern der Umgebung würden sich zu Fuß oder auf dem Fahrrad zu ihren Arbeitsstellen in der Stadt aufmachen. Dann musste er bereits in einem LKW Richtung Nordwesten unterwegs sein. Auf der Straße, auf der er gerade gekommen war.

      Denn dann war mit intensiven, strengen Polizeikontrollen zu rechen. Bald würde sein Konterfei auf riesigen Plakaten von den Wänden herunter schauen. Er war nun der Staatsfeind Nummer eins. Auf seinen Kopf würde eine Belohnung ausgesetzt werden.

      Er erreichte das Bahnhofsgebäude und verzog sich in den hintersten Winkel des kalten, ungeheizten

      Warteraums.