Hans Gerd Scholz

Sucht Ho Ki Su


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ihn niemand in dem gleißenden Licht bemerkte. Dann spurtete er los. Als er das Auto erreicht hatte, kroch er schnell darunter, um das helle Licht erneut vorüber streichen zu lasse. Dann kam wieder die kurze Dunkelphase. Blitzschnell öffnete er die hintere Tür.

      Dieser Fahrzeugtyp verfügte in der Militärversion über keine abschließbaren Türschlösser. Niemand hätte es gewagt, weder in der Sowjetunion früher noch jetzt in Nordkorea, sich am Eigentum der Streitkräfte zu vergreifen.

      Eng presste er sich hinter die Vordersitze und hoffte, dass er die ungemütliche, zusammengekauerte Stellung noch eine Weile durchhalten könnte. Wenigstens so lange, bis sie das Tor passiert und er mit dem Kommandanten allein war.

      Ki Su hoffte natürlich, dass dieser keinen weiteren Mitfahrer einsteigen lassen würde. Aber auf Grund des Rufes, den der Lagerleiter hatte, war damit eigentlich nicht zu rechnen. Weiter musste er hoffen, dass dieser seinen Wagen in der Dunkelphase besteigen würde, weil er sonst den blinden Passagier möglicherweise entdecken konnte.

      Schwere Schritte näherten sich. Ki Sus Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Mit einem Ruck wurde die Fahrertür geöffnet. Der Kommandant warf eine schwere Tragetasche auf den Beifahrersitz. Dann steckte er den Zündschlüssel ins Schloss, drehte. Der Anlasser begann mühsam seinen Dienst aufzunehmen. Die Batterie war fast am Ende. Auch nach mehreren Versuchen wollte der Motor nicht anspringen.

      Wenn es ihm beim nächsten Versuch nicht gelang, den Wagen zu starten, würde der Kommandant wahrscheinlich Hilfe holen. Dann war Ki Su geliefert.

      Das Wunder geschah. Auf den letzten Rest Batteriestrom begann der Motor stotternd, sich in Bewegung zu setzen. In Bewegung setzte sich auch der alte Geländewagen, hielt dann vor dem Tor. Das schwere, rund drei Meter hohe rostige Eisengitter schwang auf. Sie waren draußen.

      Ki Su wartete noch zehn Minuten, während denen sie in Richtung auf das etwa 20 km entfernte Dorf zufuhren. Dann begann er zu handeln. Er zog den Nagel aus dem Ärmel, richtete sich vorsichtig auf. Der Fahrer war voll damit beschäftigt, sich auf die Straße zu konzentrieren, um den tiefsten Löchern und dicksten Steinbrocken auszuweichen, die immer wieder im trüben Scheinwerferlicht auftauchten. Auch das laute Brummen der Maschine trug dazu bei, dass Ki Su nicht vorzeitig entdeckt wurde.

      „Fahr einfach geradeaus weiter“, zischte er dem Kommandanten ins Ohr. Dabei presste er die Nagelspitze schmerzhaft unter dessen rechte Ohrmuschel. „Komm auf keine dummen Gedanken, oder du hast einen rostigen Nagel im Kopf“. Dem Fahrer war sofort klar, dass er keine Chance hatte. Dieser verdammte Kerl würde umgehend Ernst machen, wenn er nur das kleinste Zeichen von Widerstand spürte. Er musste seinen Anweisungen folgen. Aber das würde er ihn später spüren lassen.

      „Wo willst du hin?“ fragte Ki Su.

      „Geht dich nichts an2; antwortete der nKommandant scharf.

      „Ich frage nicht noch einmal?“, zischte Ho Ki Su und presste die scharfe Klinge fester unter das Ohr. Ein dünner Faden Blut begann zu rinnen.

      „Zu einer Frau“.

      „Wo?“

      „Im nächsten Dorf“, kam die Antwort.

      „Was ist in der Tasche“ wollte er dann wissen.

      „Ein paar Lebensmittel“, erwiderte der Kommandant.

      Die hat er bestimmt von den Rationen der Wachmannschaft abgezweigt, dachte Ki Su bei sich. Wenn dem so war, er würde sie gut gebrauchen können.

      Auf der rechten Straßenseite tauchte eine Buschreihe auf. Ki Su befahl, dahinter anzuhalten. Sie waren das einzige Auto weit und breit auf der Straße, die ansonsten nur von den uralten Kippern zum Abtransport des Magnesiumerzes genutzt wurde. Privatbesitz von Autos war in diesem Land nur den obersten Schichten der Bevölkerung vorbehalten. Dieser Russenjeep war eine Ausnahme, die der Kommandant irgendwie gedreht haben musste. Das Fahrzeug selbst stammte aus einer Zeit, als die Russen mit Nordkorea Geschäfte machten. Damals, vor den Neunzigern, arbeiteten viele koreanische Strafgefangene in Sibirien, meistens als Holzfäller. Da war es noch leicht, die Biege zu machen, dachte Ki Su voller Bedauern.

      Er formte eine Schlaufe aus der Kordel, die bisher seine Hose gehalten hatte. Dann befahl er dem Kommandanten, die Arme hinter den Fahrersitz zu strecken. Während Ki Su den Nagel nach wie vor am Ohr seines Gefangenen hatte, schlang er ihm blitzschnell die Schlaufe über die Unterarme und zog fest. Nun waren sie hinter dem Sitz fixiert und er konnte seine rechte Hand herunternehmen, um die Fesselung provisorisch zu beenden.

      So gut es in dieser Stellung ging, begann er den Gefangenen nach Waffen abzusuchen. Auch wenn er seine Uniform im Dienstzimmer gelassen und mittlerweile Zivilklamotten trug, konnte er trotzdem eine Schusswaffe bei sich führen. Und so war es auch. Ki Su fand in der inneren Tasche der braunen Wattejacke eine kleine Pistole, Kaliber 7,65. Schnell untersuchte er, ob sie durchgeladen war.

      Dann prüfte er, wieviel Schuss sich im Magazin befanden. Er war zufrieden. Mit einer tausendfach geübten Bewegung zog er den Schlitten nach hinten, wodurch der Hahn gespannt und die erste Patrone aus dem Magazin in den Lauf geschoben wurde. Jetzt war die Waffe feuerbereit.

      Er löste die Fesseln und befahl dem Gefangenen auszusteigen. Diese Situation war kritisch, möglicherweise würde sein Gegner jetzt einen Angriff starten. Deshalb hielt er ihm die Pistole an den Hinterkopf. Er würde im Fall des Falles abdrücken. Und das wusste auch der Kommandant.

      Er brauchte die Zivilkleidung des Mannes.

      „Zieh deine Klamotten aus!2, befahl er.

      „Was soll das? Soll ich erfrieren?“.

      „Ich geb dir meine dafür. Werden dir bestimmt gut stehen!“.

      Ho Ki Su bereitete es eine gewisse Genugtuung, das angewiderte gesicht des Lagerkommandanten zu sehen. Er in Häftlingskleidung. Da waren ihm Hohn und Spott der gefangenen sowie aller Wachsoldaten gewiss.

      Doch daran dachte der Kommandant jetzt nicht. Er wollte mit dem Leben davon kommen. Er hatte durch seine oft ungerechtfertigten Bestrafungen so viel Wut und Hass auf sich gezogen, dass dem kerl zuzutrauen war, dass er bei der kleinsten Gelegenheit abdrückte.

      Ho Ki Su entledigte sich seiner verschmutzten Lumpen und forderte seinen Gefangenen auf, diese anzuziehen. Als die Kleidung gewechselt war, befahl Ki Su ihm, sich mit der Stirn am Wagen abzustützen, die Beine zu spreizen und einen Schritt zurückzutreten. Dann fesselte er ihm die Hände erneut auf den Rücken.

      Vorn rechts im Fußraum befand sich die Halterung für den Verbandskasten. Er war gegen alle Wahrscheinlichkeit noch vorhanden. In ihm lag noch etwas Heftpflaster, drei Mullbinden und eine rostige Schere. Mit einer der Binden fesselte er die Füße des Kommandanten. Das Heftpflaster klebte er ihm über den Mund.

      Dann zog er ihn weiter ins Gebüsch und ließ ihn liegen. Wahrscheinlich würde er sich selbst befreien können. Wenn nicht, hatte er eben Pech gehabt. Darüber dachte Ki Su im Moment nicht nach. Es beunruhigte sein Gewissen auch nicht weiter. Er brauchte nur an das Verhalten dieses Lagerkommandanten gegenüber den Gefangenen zu denken.

      Nachdem er in die Kleidungsstücke seines Opfers geschlüpft war, schwang er sich in den Wagen. Ki Su freute sich über die warmen, sauberen Sachen, den fast neuen, dicken Wollpullover, die derben Lederstiefel und die saubere Baumwollhose. In ihr fand er ein kleines Gasfeuerzeug und eines dieser billigen Werkzeugmesser aus chinesischer Produktion, die mittlerweile auch nach Nordkorea gelangt waren. In der Manteltasche entdeckte er ein Portemonnaie mit einem ansehnlichen Geldbetrag. Alles Dinge, über die er sehr glücklich war und die für seine Flucht von großem Wert sein würden.

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      Lange hatte er darüber nachgedacht, wie er nun vorgehen sollte. In den schlaflosen Nächten der letzten Wochen war ihm klargeworden, dass die Regierung es unter keinen Umständen zulassen konnte, dass er das Land verließ. Da waren nicht nur die Vorbildfunktion einer geglückte Flucht für Nachahmer