Hans Gerd Scholz

Sucht Ho Ki Su


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dem Kampf stellen.

      „Ein Schwachkopf mit dicken Muskeln, habe ich gehört!“

      Sofort sprang ihn der Kerl an. Ki Su gelang es, mit einer Körpertäuschung auszuweichen. Er nutzte den Schwung des Angreifers, machte sich klein, drehte sich blitzschnell, schob seinen rechten Arm unter die Achsel und schleuderte seinen Gegner über die Schulter.

      Alle Männer im Saal, die gespannt die Auseinandersetzung verfolgten, grölten laut. Das hatten sie diesem widerlichen Arschloch schon lange gewünscht. Dass jemand kam, der ihm seine Grenzen aufzeigte.

      Ho Ki Su stürzte sich auf den benommenen Gegner und schlang seinen linken Ellbogen um dessen Hals, so dass die Beuge um dessen Kehlkopf lag. Er verschränkte seinen rechten Arm um den linken und drückte zu. Unbarmherzig würgte er Tau Wang, bis er kaum noch Lebenszeichen von sich gab. Dann lockerte er den griff, ließ den Mann los und erhob sich.

      Durch seine Judotechnik, die er schon als kleiner Junge gelernt hatte und später während seiner Militärzeit vervollkommnete, gelang es ihm, den Mann außer Gefecht zu setzen, ohne bei ihm bleibende Schäden zu hinterlassen.

      Der Kerl hatte auch seine Lektion gelernt und würde nie wieder versuchen, ihn blöd anzumachen.

      Als die Wächter hereinstürmten und sich auf ihn stürzten, ließ er es willenlos mit sich geschehen. Sie wollten wissen, was los gewesen war. Alle Männer in der Baracke erklärten, dass Tau Wang Streit gesucht habe. Daraufhin ließen sie Ho Ki Su los.

      „Das nächste Mal, wenn du Ärger machst, geht es nicht so glimpflich ab“, verwarnten sie ihn. Ho Ki Su wusste, dass er diesen Männern hilflos ausgeliefert war.

      Die hatten alle Freiheiten im Umgang mit den Lagerinsassen. Sie durften quälen, foltern, töten, ganz nach Belieben und ohne jeden Grund. Die politische Führung hatte sie sogar ausdrücklich dazu ermuntert.

      „Macht von euren Rechten, euren Möglichkeiten Gebrauch. Diese Verbrecher haben nichts anderes verdient. Um keinen von ihnen ist es schade. Sie haben sich gegen unseren geliebten Hon Kai Cheng gestellt. Haben Kritik geübt“. Und Kritik üben war das schlimmste, was einem vorgeworfen werden konnte. Nichts vertrug das Regime Nordkoreas weniger als Kritik am geliebten Hon Kai Cheng Kim Jong Il, dem Gottgleichen. Ihm waren sie ergeben, linientreu bis auf Blut. Für ihn würden sie quälen, töten und morden.

      „ Der Schutz der revolutionären Führung um jeden Preis ist der höchste Patriotismus und die erste Priorität unseres Militärs und des Volkes“ lautete die Losung. Und die galt für jeden.

      Er hatte die Schreie seiner Mithäftlinge aus den Isolationszellen gehört. Hatte ihr Flehen , Betteln, das Wimmern nach ihren Müttern noch im Ohr, wenn sie, mit einem Stock zwischen Unterschenkeln und Gesäß, Stunde um Stunde verbringen mussten. Wenn sie an den Füßen aufgehängt wie Schlachtvieh von der Decke baumelten. Wenn ihnen dabei das Blut ins Gehirn schoss und sie vor Schmerzen in Ohnmacht vielen. Nein, nur das nicht. Und so schuftete er weiter, biss die Zähne zusammen und schlug die Hacke in den gefrorenen Fels.

      Er wollte leben. Wenigstens noch eine Weile. Nein, nicht leben. Vegetieren. Vegetieren von der dünnen Brühe aus Salzwasser, vermischt mit etwas Mais und Sojabohnen. Irgendwann würde es zu Ende gehen, soviel stand für ihn fest. Noch nie hatte jemand solch ein Lager länger als zehn Jahre überlebt. Seit drei Monaten war er hier inhaftiert, noch nicht lange also. Noch hatte sein Körper Kraft, noch brach er nicht zusammen unter den unmenschlichen Lagerbedingungen.

      Ein Gedanke beherrschte ihn. Gab ihm Kraft, wenn er völlig am Boden zerstört war. Er besaß etwas, das man ihm nicht rauben konnte. Geheimes Wissen, von dessen Existenz niemand etwas ahnte. Denn hätten sie es geahnt, wäre er längst nicht mehr am Leben.

      Er kannte die Koordinaten der Raketenstützpunkte der Atomwaffen. Würden sie in die Hände des Gegners gelangen, wäre es vorbei. Vorbei mit der Waffe, die allein das Regime schützte. Und der es das Überleben bis in die Gegenwart verdankte.

      Er hatte sich Grad, Minute und Sekundenbruchteile der einzelnen Bunker, der Stellungen der Raketen eingeprägt. Immer und immer wieder hatte er sie vor sich her gesagt, bis sie unauslöschlich in seinem Gehirn verankert waren. Wie Vokabeln einer Fremdsprache. Wie Erinnerungen an die früheste Jugend, an den ersten Kuss und den ersten Sex.

      Und er würde alles tun, um sie nie, nie zu vergessen. Denn sollte er dieses Lager verlassen, sollte ihm die Flucht in die Freiheit gelingen, waren sie von unschätzbarem Wert. Dann lag es in seiner Macht, dieses Regime zu stürzen. Und die Welt von der Bedrohung eines erneuten Holocausts zu befreien.

      Doch dieses Traumbild zerbrach an der Realität des Lagers. Aus dem es kein Entweichen gab. Das ihn fest umschloss. Eine eiserne Faust, die er wohl nie abschütteln könnte. Aber er würde es versuchen. Das war er sich schuldig. Wenigstens versuchen, um seiner selbst, seiner Frau seiner Kinder wegen. Und vielleicht wegen dem Rest der Menschheit.

      Doch selbst dieses Lager schien nicht das Maximum an Grausamkeit hervorzubringen, das in anderen Lagern wohl möglich war. Es sollte schlimmere geben. Weit schlimmere. Man munkelte von Gaskammern und Menschenversuchen.

      Viel mehr jedoch als sein geschundener Körper schmerzte die Seele. Er hatte Angst. Um sich, mehr jedoch um Ni Hai, seine Frau. Auch sie hatte man ins Lager gesperrt. Nein, nicht in das gleiche. Ins Frauenlager irgendwo im Süden. Würde sie überleben? War sie stark genug, bis zu ihrer Entlassung in zwölf Jahren durchzuhalten?

      Die beiden Kinder, den achtjährigen Han und die sechsjährige Soe, hatte man Pflegeeltern übergeben. Dort führten sie ein Leben als Dienstboten oder Knechte. Wurden gequält, geschlagen und hungerten wahrscheinlich ebenfalls. Hungerten wie alle Menschen Nordkoreas im Paradies des Kim Jong Un. Aber immerhin, sie lebten. Und das war alles, was er erhoffte, was ihn ein wenig tröstete.

      ******

      Schuld war er. Er ganz allein. Noch vor fünf Monaten war ein ein geachteter Offizier der Eliteeinheit zum Schutz der Nuklearstreitkräfte des Landes gewesen. Ein durchtrainierter, zur Härte gegen sich selbst und andere erzogener und geschliffener Soldat. Einer, auf den sein Land stolz sein konnte. Und stolz war er auch auf sein Land, für das er alles, sein Leben eingeschlossen, bedingungslos gegeben hätte. Stationiert auf dem Raketenstützpunkt unweit von Songin, der Großstadt am japanischen Meer. Der Stadt, die er für die schönste auf der ganzen Welt hielt. Im schönsten Land der Erde, indem der beste aller Hon Kai Cheng das Paradies regierte. Er war glücklich. Im Kreis der Kameraden und zu Hause bei seiner Familie. Alle hatten ausreichend zu Essen, eine kleine Wohnung. Die Kinder besuchten die besonders geförderte Eliteschule der Stadt. So hätte es bleiben können.

      Doch so blieb es nicht. Wie hatte er sich nur darauf einlassen können? Wieso hatte er nicht sofort Meldung gemacht und Hai Sun Kim angeschwärzt, als dieser auf dem neuen Computer ins Internet ging? Normalerweise war dies unmöglich. Aber dieser Kerl hatte einen Bruder. Und der war Computerspezialist. Denn auch in Nordkorea gab es mittlerweile Computer. Nicht nur in der Raketentechnik und den übrigen militärischen Einrichtungen. Auch in die Verwaltung waren diese Teufelsdinger bereits vorgedrungen. Eine Atommacht ohne Computer? Unvorstellbar. So kam er irgendwie an eine Software, mit der man ins Internet kam.

      Irgendwie. Genauer gesagt war es seine Beziehung zu der schönen Pang La Wan, der Tochter des Leitenden Sekretärs der Provinz Pjongan-pukto, mit der er eine eigentlich verboten Liebschaft unterhielt. Ihr Vater, Mitglied der Nomenklatura des Staates, verfügte über die Erlaubnis, im Internet zu surfen. Und zwar im richtigen World Wide Web, nicht in dem für Studenten und Regierungsbeamten bestimmten nationalen. Mit diesem war ein Eindingen in das weltumspannende Netz nicht möglich. Sogar unter höchster Strafandrohung verboten. Selbstverständlich galt dies auch für die Nutzung von Handys. Niemand durfte außerhalb der Landesgrenzen Kontakte knüpfen, Informationen einholen, oder in sonst einer Form kommunizieren.

      Doch es gab die schöne La Wan, die Neugierige. Die stahl sich eines Tages in das Arbeitszimmer ihres Herrn Vaters, auf dessen mächtigem Schreibtisch der Computer thronte. Normalerweise