Hans Gerd Scholz

Sucht Ho Ki Su


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Die wollen uns schlecht machen. Glaubst du den Blödsinn denn?“

      Wütend entgegnete sie: „Wie kann man nur so blöd sein. Du bist wie ein Geisterfahrer auf der Autobahn, der glaubt, auf der richtigen Spur zu sein und alle anderen führen falsch. Nimm nur für eine Sekunde an, dass die Nachrichten, die du gerade gelesen hast, der Wahrheit entsprechen. Die so auf der ganzen Welt verbreitet werden. Von Peking bis Tokio, von New York bis London. Nur in Pjöngjang klingen sie völlig anders“-

      Gemeint war die Meldung über den neuesten Atomtest ihres Landes. Und die internationalen Reaktionen darauf.

      „Sieh die die Bilder der Einkaufsstraße in Tokio an. Die Lichtreklamen. Vergleiche das doch mal mit dem, was du draußen siehst. Egal, wohin man blättert, überall scheint es den Menschen besser zu gehen als bei uns. Woran kann das liegen?“, wollte sie von ihm wissen.

      „Warum lässt man uns nicht ins Netz, was haben die da oben zu verbergen, wovor haben sie Angst?“, insistierte sie.

      Ihr Geliebter hatte darauf keine Antwort.

      „Ich muss nachdenken“; sagte er und legte sich auf das Sofa.

      Sie kuschelte sich an ihn, begann ihn zärtlich zu streicheln. Doch er schob ihre Hand weg.

      „Nein, komm lass mich. Ich bin zu aufgewühlt, muss das alles erst mal verarbeiten“.

      Dafür hate sie volles Verständnis. Ihr war es ja ähnlich ergangen. Und morgen war ein neuer Tag, um sich den Kopf zu zerbrechen oder zur Abwechslung mal wieder an Sex zu denken.

      ******

      Seit mehreren Tagen war Sun Kim verstört. Wirkte abwesend, setzte plötzlich zum Reden an, unterbrach sich nach wenigen Wörtern. Irgendetwas stimmte nicht. Nicht mit ihm, sondern mit seinem Freund, dem er mehr vertraute als irgend jemandem sonst unter den Kameraden. Das war etwas ganz besonderes. Vertrauen, jemandem vertrauen in einer Welt, in der jeder jeden bespitzelte. „Selbst dein Rücken ist dir fremd“, warnt eine nordkoreanische Volksweisheit vor zu viel Vertrauensseligkeit. Und doch, seinem Freund vertraute er. Denn irgend jemandem musste man vertrauen. Denn ohne kann man nicht leben. Nirgendwo.

      Sun Kim vertraute ihm ebenfalls. Mehr als irgendjemandem sonst. Das wusste Ki Su. Deshalb fragte er nicht. Fragte nicht nach dem sonderbaren Verhalten. Er würde ihm schon sagen, was ihn bedrückte. Dann, wann er es wollte. Wenn der richtige Zeitpunkt gekommen war.

      Hai Sun Kim schloss und verriegelte die Tür des Zimmers, das sie gemeinsam bewohnten. Des Zimmers mit dem Computer, an dem sie arbeiteten. Der die streng geheimen Pläne mit den Raketenstellungen enthielt. Die niemals in die Hände der Feinde gelangen durften.

      Plötzlich zog Hai Sun einen winzigen USB-Stick aus der Tasche, steckte ihn in den Slot. Wenige Augenblicke später flimmerten Bilder über den Bildschirm. Bilder, wie Ki Su sie noch nie gesehen hatte. Eine Straßenschlucht in Tokio. Menschengewimmel. Luxuslimousinen. Ein Meer bunter Neonreklamen, deren grelles Licht in den Augen schmerzte.

      „Was war das?“

      Ki Su erschrak bis ins Mark, wollte nicht glauben, was ihm seine Augen vorgaukelten. Unmöglich. Dies war absolut unmöglich.

      Wütend fuhr er seinen Freund an: „Was soll der Scheiß? Wo hast du das her?“.

      Sun Kim hatte mit dieser Reaktion gerechnet. Genau so hatte er selbst reagiert, als er zum ersten Mal diese Bilder sah. Bilder aus einer anderen Welt. Von einem anderen Planeten. Bilder, die es nicht geben konnte.

      Und Informationen. Texte aus Zeitschriften, Magazinen und Journalen. Fernsehnachrichten aus

      Südkorea. Er wollte alles abtun als Propaganda. Doch es gelang ihm irgendwie nicht. Wollte nicht daran glauben, dass es diese Dinge wirklich geben konnte.

      Die aber existierten. Wie ihm sein Kamerad versicherte, waren sie ebenso wirklich, ebenso real wie das was er sah, wenn er den kleinen alten schwarz-weiß Fernseher einschaltete oder wenn er aus dem Fenster blickte. Nichts sei getrickst, nichts gelogen. So hatte es ihm Hai Sun Kim versichert.

      Dann hatten sie sich gemeinsam im Internet umgeschaut. All die bunten Reklamebilder von lachenden, fröhlichen, reichen Menschen. Restaurants, Autos, Villen. Eine Welt, deren Exotik ihnen den Atem raubte. Immer und immer wieder, stunden, tagelang konnten sie sich von dieser Welt nicht losreißen. Als wären sie heroinabhängig. Bilder, die sonst nur dieser Stoff hervorzauberte, flimmerten über den Monitor.

      Lange hatte Sun Kim mit sich gerungen, ob er Ki Su damit konfrontieren sollte. Konnte er es wagen, konnte er ihm vertrauen? Was, wenn sein Freund ihn verriet? Aber es ging nicht anders. Wenn er schwieg, würde er ersticken. Ersticken an all dem, was er nun wusste, was er gesehen, aber nicht verarbeitet hatte. Er brauchte seinen Freund. Als Mitwisser, als Gesprächspartner, als Teilhaber an diesen völlig verrückten Visionen.

      „Dieser Scheiß ist die Welt. Ist die Wahrheit. Die Wirklichkeit. Das Leben. Wir leben eingesperrt in einem dunklen Stall, der nie einen Lichtstrahl gesehen hat. Ohne Licht und ohne jede Erkenntnis. Wir werden systematisch betrogen und verblödet. Alles um uns herum ist völlig anders. So anders, dass wie wir es nie für möglich halten würden. Man hindert uns daran, wie Menschen zu leben“. Seine Stimme klang bitter, so bitter, wie Sun Kim noch nie geklungen hatte. Ki Su schwieg. Schwieg lange. „Ich will mehr sehen“, äußerte er gepresst. Und so flimmerten immer neue, immer fremdere, erschreckendere bestürzendere Bilder über die Mattscheibe.

      Neben all den Pages, die Informationen enthielten, gab es natürlich auch jene, die für die Männer dieser welt gemacht haben und die kostenlos zu besichtigen waren. Ki Su fühlte sich zeitweise in einen Schlachterladen versetzt bei all dem nackten Fleisch, das über den Bildschirm flimmerte. Nie hätte er geglaubt, dass derart widerliche Filme gedreht würden. Zumindest dies war in Nordkorea unmöglich.

      Die Bilder erregten ihn im Gegensatz zu Sun Kim nicht. Diesen teil des Internets würde er nicht akzeptieren. Doch offensichtlich gehörte er dazu. Man konnte sich nicht nur für die eine Seite der Medaille entscheiden. Doch offensichtlich konnte man auswählen.

      Schließlich schaltete Sun Kim den Computer aus.

      „So kann ich nicht mehr weiterleben. Nicht, nach dem ich dies alles gesehen habe. Nicht in diesem Land. Mir ist der Boden unter den Füßen weggezogen“, meinte Hai Sun Kim schließlich.

      Auch für Ki Su drehte sich alles im Kopf. Dieses Neue hatte Konsequenzen. Das wusste er. Nur nicht, welche genau.

      Das Land zu verlassen war unmöglich. Nie würde er es schaffen, die chinesische Grenze im Norden zu überwinden. Selbst wenn diese so durchlässig war wie noch nie. Ganze Heerscharen von Schmugglern passierten sie täglich. Brachten all die Güter ins Land, die sich der Staat auf offiziellem Weg nicht leisten konnte. Man duldete diesen kleinen Grenzverkehr stillschweigend weil er half, die schlimmste Not zu lindern.

      Aber er stand unter Beobachtung. Er war Geheimnisträger. Seine Kenntnisse über die Standorte der Atomraketen machten ihn zu einem Sicherheitsrisiko. Man würde alles tun, um zu verhindern, dass dieses Wissen in die falschen Hände gelangte.

      Da war auch noch seine Familie. Er würde sie zurücklassen müssen. Nicht nur das. Sie würden alle auf das schwerste bestraft werden. Die Frau mit Lagerhaft, die Kinder mit Pflegefamilien.

      Nein, Flucht war unmöglich. Dies konnte er niemals verantworten. Aber er konnte auch nicht mehr leben wie bisher.

      ********

      „Gibt es irgend etwas, was wir tun können“?, fragte Ho Ki Su.

      „An was denkst du?“, wollte Sun Kim wissen.

      Sollten sie weitere Kameraden ins Vertrauen ziehen, ihnen die Wirklichkeit, das Leben draußen, zeigen? Wenn ja, wohin könnte das führen? Letztendlich, sollten sich genügend gleichgesinnte Soldaten finden, zu einem Staatsstreich? Ki Su fröstelte. Dieser Gedanke allein war ein Verbrechen.

      Ein