Linda Große

Alte Männer - böser Traum


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er mittlerweile vergessen hatte. Dieser Gefreite mit seinem Krad. Ein verwegener Kerl, leider mit einem herben Mangel an Disziplin. Ohne den Befehl abzuwarten, reagierte er auf die, schwer einzuschätzenden Handzeichen der russischen Bauern am gegenüber liegenden Ufer. Mit Vollgas war er in den Fluss gerast. Und hatte so die Furt entdeckt.

      Es klopfte an die Tür des Büros, und Henriette betrat den Raum.

      „Ich gehe jetzt zu Bett. Kann ich Ihnen vorher noch irgendetwas bringen?“ So entspannt durch den Alkohol erfreute ihn ihre gewohnte Unterwürfigkeit. Diese Freude wollte er auskosten.

      „Mach mir doch noch ein Spiegelei. Mit Speck, knusprig gebraten. Und eine Scheibe getoastetes Graubrot dazu.“

      Henriette ließ sich ihre Überraschung nicht anmerken, fragte lediglich: „Hier oder im Esszimmer servieren?“

      „Hier.“

      Er verspürte nicht den geringsten Appetit auf Spiegelei mit Speck, auch keine Spur von Hunger, aber es tat gut, einen so brav befolgten Befehl zu erteilen. Henriette war die vollkommene Dienerin schlechthin. Es sollte mehr solcher Frauen geben, dachte er. Für Sigurd hatte er bereits eine solche Frau gefunden. Und er würde sie, zum Wohle der Partei, bald ehelichen. Daran hegte er keinen Zweifel, auch wenn sein Enkel noch nichts davon wusste. Er war immer ein gehorsamer Junge gewesen. Man musste ihm nur genug Leine lassen.

      Das uralte Rezept: Brot und Spiele. Ließ man ihm seine Spielchen, funktionierte er brav. Zur Lenkung gehörte zwar ab und an auch etwas Druck, aber der sollte möglichst unmerklich erfolgen. Er lachte leise vor sich hin. Der Höhepunkt seiner mühevollen Arbeit lag in greifbarer Nähe. Nichts würde seine Pläne stören können. Menschen zu lenken, das war seine Gabe. Und Sigurd war schon immer Wachs in seinen Händen gewesen, ganz anders als dessen Vater. Leichtsinn und Eigensinn hatten ihn ungeeignet gemacht für den Dienst am Vaterland. Wie gut, dass die Vorsehung auch Herr über die Zeit ist, dachte Heinrich und spülte die unangenehme Erinnerung an Albert mit einem großen Schluck Cognac hinunter. Und trotz allem konnte schließlich auch Albert seinen Teil dazu beitragen. Ja, Menschenführung, dass war die Gabe, die ihn ausmachte und erfüllte. So hatte er letztlich auch Albert in sein gut vorbereitetes Netz einbeziehen können.

      Henriettes Klopfen überhörte er dieses Mal, eingesponnen in seine wohltuenden Erinnerungen. Sie stellte den Teller vor ihn hin, wünschte guten Appetit und verschwand wieder.

      Der Anblick des gebratenen Eies mit dem Speck löste die nächste Erinnerung aus. Der Rückzug. Das russische Dorf. Seine Männer jagten die Hühner, die russischen Frauen kochten sie in einem großen Kessel. Und damit das Warten nicht zu lang wurde, brieten die Russen einige Eier. Dafür teilten seine Männer die Hühnersuppe mit den Bauersleuten. Wortführer dabei war wieder dieser Kradfahrer. Er holte alle an den Tisch, so als wären es Kameraden. Mit einer unbewusst heftigen Bewegung kippte Heinrich den letzten Schluck Cognac in sich hinein, schlug mit geballter Faust auf den Schreibtisch und verkündete laut:

      “Die Zeiten sind vorbei. Es wird wieder gehorcht!“

      Kapitel 4

      „Ganz ruhig, mein kleiner Kaspar! Mami ist ja bei dir!“

      Seit Stunden wiederholte Lilo diesen Satz. Als wenn der sowieso total apathische Mops, der wie eine schlecht gestopfte Wurst auf dem Rücksitz lag, diesen Zuspruch nötig hätte. Dafür entfaltete er seine hypnotisierende Wirkung ungewollt bei Clea. Sie hing mit hin und her pendelndem Kopf schlafend in ihrem Sicherheitsgurt. Simon war trotz seines hohen Alters fast die gesamte Strecke von Köln aus alleine gefahren. Die Nacht im ungewohnten Bett hatte ihm anscheinend weniger zugesetzt als seiner Tochter und seiner Ehefrau. Lilo war nicht bloß müde, sondern unüberhörbar entnervt. Seit sie durch Frankreich fuhren, erklärte sie alle fünf Minuten, sie fühle sich völlig “derangiert“.

      Das konnte Simons guter Laune allerdings nicht das Geringste anhaben. Seit sie kurz hinter Mons die belgisch-französische Grenze überquert hatten, summte er immer wieder die französische Nationalhymne vor sich hin. Schließlich sang er laut die erste Zeile. Mehr vom Text konnte er zu Lilos Leidwesen nicht. So fing er immer wieder von vorne an: „Allons enfants de la patriiiiije...“

      Die vielen i’s holten Clea endgültig aus ihrem unruhigen Schlummer. Auch Kaspar schreckte hoch. Wenn man bei seinen trägen Bewegungen überhaupt von Aufschrecken reden konnte. Jedenfalls öffneten sich die speckigen Fellröllchen um seinem Maul und er stieß einen hohen, langgezogenen Ton aus. Der hörte sich nicht im Entferntesten nach Hundegebell an. Eher nach dem Gesang eines Wals, fand Clea. Der nächste Urlaub geht nach Grönland, Wale beobachten, dachte sie, aber ohne das Hundevieh!

      „Ganz ruhig mein kleiner Kaspar, Mami ist ja bei dir“, säuselte Lilo und knetete die Speckröllchen in Kaspars Genick. „Papi hat gute Laune“, erklärte sie dem Mops. Der ließ daraufhin augenblicklich seine Stimmmuskeln gemeinsam mit den Halsmuskeln erschlaffen und lag erneut so reglos wie zuvor.

      „Du hast den armen Hund erschreckt, Simon!“, wandte sich Lilo nun an ihren Mann. Da Clea absolut keine Lust auf Diskussionen über Kaspars Seelenleben verspürte, schlug sie schnell eine kleine Pause vor:

      „Bisschen die Beine vertreten.“

      Ihr Vater war einverstanden.

      „Ist schon nach zwölf. Mir wäre auch nach Mittagessen. Danach könntest du weiterfahren. Langsam spüre ich meine alten Knochen.“

      Eigentlich war Clea überhaupt nicht hungrig. Sie konnte es kaum erwarten, endlich ans Ziel zu kommen. Doch leider befand sie sich in der Minderheit. Lilos Tonlage wechselte überraschend in erwartungsvolle Fröhlichkeit. Schließlich war die französische Küche bekannt für ihre Gaumengenüsse! Allerdings vertrat sie, rein verbal, in erster Linie die Bedürfnisse ihres armen Hundes.

      „Kaspar muss unbedingt Gassi gehen!“

      Drei zu eins, dachte Clea ergeben. Während Lilo den Hund an der Leine über den Parkplatz zu einem Baum zerrte, lehnte Clea sich mit dem Rücken an den Wagen und sah ihrem Vater zu, wie er einige halbherzige Kniebeugen machte. Der Parkplatz war ziemlich leer bis auf eine Reihe von Trucks.

      Sie beobachtete amüsiert wie ihre Stiefmutter Kaspar zum nächsten Baum schleifte. Anscheinend gefiel dem Mops der trostlose Parkplatz genauso wenig wie Clea.

      Eine Trostlosigkeit, die das Herz erwärmt! Marlies Wittkes Beschreibung ihrer Urlaubseindrücke fiel ihr plötzlich ein. Hatte so ungewohnt poetisch geklungen. Jedenfalls aus dem Mund von Marlies. Plötzlich zweifelte sie für einen Moment, ob die Wahl des Urlaubsortes wirklich die richtige war. Was hatte sie bloß an Trostlosigkeit anziehend gefunden? Allerdings erklärte Marlies anschließend sehr überzeugend, seit Jahren habe sie sich nirgends so wohl gefühlt und so gut erholt. Eine Entdeckung, eine wirkliche Entdeckung. Aber du solltest hinfahren, wenn die Rosen blühen! Die wiederholten Schwärmereien ihrer einzigen Freundin lösten dann allmählich den Wunsch aus, ihre seit acht langen, einsamen Jahren andauernde, selbst gewählte Isolation zu beenden. Mal wieder die Nase in die Welt stecken, in das Leben. Die wenigen Menschen, mit denen sie eher nur ein Hauch von zwischenmenschlichen Beziehungen verband, redeten ihr alle gut zu. Obwohl außer ihrem Vater keiner von ihnen den Grund für ihr selbst gebasteltes Schneckenhaus kannte, sagten alle irgendwie das Richtige. Et voila! Hier war sie also, in Frankreich!

      Als sie nach dem Essen die Autobahn verließen und auf schmaler, schnurgerader Landstraße Richtung Amiens fuhren, war Clea überrascht, wie hoch sich der Himmel über der flachen, baumlosen Landschaft wölbte. In Berlin sah sie ihn meistens nur Stückchenweise. Selbst vor ihrem Wohnzimmerfenster im dritten Stock eines typischen Berliner Altbaus, erschien er nur als schmaler Streifen über der Straßenschlucht. Ihr Vater hingegen wurde von ganz anderen Sachen angeregt. Die Hinweisschilder ließen bei ihm erneut alte Kriegserlebnisse lebendig werden.

      „Über Stadtkyll, Eupen, Malmedy sind wir rein. 15. November 39. Die erste große Panzerschlacht. Philippsville? Ich glaube, so hieß es. Die ersten Gräber! Meine Güte, ein Schock! Dann Amiens. Das war die richtige Feuertaufe. An der Somme von der französischen Artillerie eingedeckt. Von da nach Montedier, da