Linda Große

Alte Männer - böser Traum


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die gemeinsamen Kriegserlebnisse! Für ihren Abendspaziergang war es viel zu spät, draußen wurde es schon dunkel. Doch eine kleine Stippvisite zum Meer konnte nach der üppigen Abendmahlzeit keinesfalls schaden. Also verschwand Clea so unauffällig wie möglich aus dem großen Salon, holte sich eine leichte Jacke aus ihrem Zimmer, beruhigte Kaspar, der hinter der verschlossenen Tür leise anfing zu winseln als er sie hörte und schlich sich aus dem Haus.

      Es war sehr still, auffällig still, fand Clea. Als Großstädterin benötigte ihr Gehör immer eine ganze Weile, bis es die Geräusche der Natur wahrnahm. Doch die Düfte erreichten sie sofort. Obwohl sie leichter waren als in ihrem Laden. Nicht so schwül, ohne diesen Unterton von Verwesung. Den Geruch sterbender Pflanzen gab es um diese Jahreszeit nicht in Veules les Roses. Noch gab es keine verwelkten Rosenblüten, nur prall gefüllte Knospen, die farbige Signale durch die aufbrechenden, grünen Hüllen schickten. Und frisch erblühte Rosen in ihrer vollkommenen Eleganz und Grazie. Die schweren, aufgeblühten Exemplare, die ihr ganzes Innenleben ausschütten würden, mit den ersten bräunlichen Verfärbungen an den äußeren Blütenblättern, die brauchten noch einige warme Tage.

      Ich bin genau zur richtigen Zeit hier, dachte Clea glücklich. Sie lief die schmale Straße entlang, die am Kirchplatz auf die Hauptstraße mündete. In den schwarzen Schatten der Häuser glühten die Rosen- und Malvenblüten, gaben nur zögernd das eingefangene Licht des Tages her. Sie hörte Stimmen. Leises Lachen sprühte durch die Abendluft, schien in feine Tröpfchen zu zerstieben. In der Creperie brannte noch ein warmes, gelbes Licht. Draußen die vier kleinen Tische waren alle besetzt. Nur junge Leute, deren Ausgelassenheit von der Schönheit des Abends gezügelt wurde.

      Clea war dankbar dafür. Lärm passte wirklich nicht in ihre Stimmung. Aber das Meer machte Krach. Unüberhörbar stürzten sich die Wellen in die Steinwälle an der Promenade. Scheppernd, splitternd, kreischend, dumpf donnernd. Das Spektakel rollte ohrenbetäubend über den Platz und die Schallwellen brachen sich erst an dieser trostlosen Mietskaserne, deren Wohnungen größtenteils leer standen.

      Es war hohe Flut. Zum ersten Mal sah und hörte Clea, wie das Meer die ganze Breite des Sandstrandes eingenommen hatte und bis hinauf in die Steine brandete. Sie lehnte sich an die Balustrade und staunte über die Kälte des Metalls, geradezu eisig. Da erst fiel ihr auf, dass mit dem Wasser ein kalter Wind über das Meer kam, kalt und feucht. Der Blick in den Himmel zerstreute ihre Befürchtungen, Mond und Sterne blinkten, nirgendwo schwarze Wolkenfetzen am indigoblauen Abendhimmel.

      Sie entspannte sich wieder und konzentrierte sich auf die ungewohnt gewaltige Klangkulisse. Schließlich schloss sie die Augen, und da erst fiel ihr der Unterschied auf. Die heran rollenden Wellen lösten Chaos aus in den Steinen, daher diese überwältigende Kakophonie. Doch anschließend, nach einer fast unmerklichen und doch deutlichen Pause, wenn das Meer die Steine aus seiner Gewalt entließ, sich zurückzog, dann rollten die Steine. Alle zusammen und doch jeder seinen Weg, rollten sie zurück und betteten sich dann mit einem leisen Knirschgeräusch in den Sand ein. Clea war fasziniert, sie konnte gar nicht genug davon bekommen.

      Als Jean-Paul sie ansprach, erschrak sie richtig. Natürlich konnte sie ihn bei solch einem Geräuschpegel nicht kommen hören, trotzdem ärgerte es sie, so überrascht worden zu sein. Er schien das nicht zu bemerken, sein jungenhafter Charme machte ihn wohl wirklich immun gegen Verstimmungen und Ressentiments. Offensichtlich erwartete er von Clea nichts als Freude über sein unerwartetes Auftauchen. Sie ergab sich in ihr Schicksal und machte ihn auf ihre Entdeckung aufmerksam. Er stellte sich neben sie und schloss brav die Augen. Lange Zeit sagte er gar nichts und Clea begriff irgendwann, dass er wirklich zuhörte und wohl genauso fasziniert war wie sie selbst. Das stimmte sie versöhnlich und plötzlich fand sie ihn einfach nur sympathisch.

      „Weißt du, es ist doch wirklich toll wie die Steine damit umgehen, findest du nicht? Sie rollen einfach wieder in eine angenehme Lage zurück!“

      „Like a rolling stone!“

      „Oh, das ist gut. Lauter rolling stones. Rollende Steine sind laut! Laut rollende Steine. Das werde ich mir merken.“

      „Ich bin ein rolling stone“, sagte Jean-Paul. „Bist du auch ein rolling stone, Clea?“

      Sie schwieg eine ganze Weile auf seine Frage. Sicher wollte sie ein rolling stone sein, aber was ging ihn das an? Nach acht Jahren wurde es wirklich Zeit, dass sie wieder zu sich selber fand. Aber jetzt wollte sie daran wirklich nicht erinnert werden. Zumal die unvermittelt aufkeimende Angst ihrer Aufbruchsstimmung wirklich nicht gut tat. Und wieder war sie ärgerlich über Jean-Paul. Zum Glück beharrte er nicht auf eine Antwort.

      „Es wird kalt, das Wetter wird umschlagen. Kommst du mit zurück?“

      Clea nickte nur und so liefen sie wortlos nebeneinander her bis sie das Haus der Davids erreichten.

      Die alte Garde hatte es sich in den Sofas am Kamin bequem gemacht, in dem zu Cleas Erstaunen ein Feuer brannte. Jetzt erst bemerkte sie, wie ausgekühlt sie vom Wind war.

      Betty war nirgendwo zu sehen und auch Jean-Paul verabschiedete sich mit der Bemerkung, er müsse noch für zwei Klausuren in der nächsten Woche lernen.

      „Wann fahrt ihr zurück?“, fragte seine Großmutter.

      „Erst am Montag, nach dem Frühstück“, antwortete Henry David für seinen Sohn. „Ich habe erst am Nachmittag wieder Termine.“

      Claudine Schneider nickte zufrieden und sagte dann auf deutsch zu Lilo:

      “Im Sommer sehe ich die Kinder kaum. Und Jean-Paul will in den Semesterferien mit Freunden nach Griechenland. Betty bleibt immer bei ihrem Vater in Paris, jedenfalls bisher. Sie hat immer noch keinen Verehrer. Diese jungen Leute! Wollen nicht heiraten und wollen keine Kinder. Nur Karriere im Kopf.“

      Lilo sagte nichts dazu, schließlich hatte sie auch nie Kinder gewollt. Um von dem Thema abzulenken stellte sie Monique David die Frage, die sie nun schon den ganzen Abend beschäftigte, seit Henri mit Sohn und Tochter aus Paris angekommen war: „Betty ist doch kein französischer Name, nicht wahr?“

      „Nein, wirklich nicht“, antwortete Monique lächelnd. Das liegt an meiner Schulzeit in Deutschland. Unser Englischbuch, Peter Pim and Billy Ball. Billy hatte eine Schwester namens Betty. Ich fand den Namen so schön. Von da an sollte meine Tochter, wenn ich denn eine bekommen würde, Betty heißen. Nun ja, mein Mann hatte nichts dagegen, als unser erstes Kind dann wirklich eine Tochter wurde. Oder vielleicht ist ihm auch kein besserer Name für ein Mädchen eingefallen?!“

      „Nein, es ist wirklich ein hübscher Name“, befand Lilo. „Wo sind Sie denn in Deutschland zur Schule gegangen?“

      „Das war in Karlsruhe. Ich bin erst bei meiner Heirat mit Henri nach Frankreich zurück gekommen.“

      „Deswegen das perfekte Deutsch. Und ihre Kinder?“

      „Sie sind zweisprachig aufgewachsen. Und in den Ferien waren sie immer bei ihrer Großmutter in Karlsruhe. Maman ist erst nach dem plötzlichen Tod meines Vaters vor zehn Jahren zu uns nach Paris gezogen.“

      „Aha“, machte Lilo zufrieden. Ihre Neugier war fürs erste befriedigt.

      „Hatten sie denn nie Heimweh nach Frankreich?“, fragte nun Clea Moniques Mutter.

      „Oh, das ist schwer zu beantworten. Dazu müsste ich eine lange Geschichte erzählen. Und ich glaube, ihr Vater und ich haben in den letzten Tagen schon zu viele alte Geschichten erzählt.“

      „Nein, nein“, protestierte Clea mit wachsendem Interesse. „Ich finde diese alten Geschichten hochinteressant.“

      Sie schaute in die Runde. Doch nicht mal Lilo schien heute Einwände zu haben. So wandte sich Clea mit einer auffordernden Handbewegung an Mme Schneider.

      Die zierte sich nicht länger und fing unvermittelt an:

      „Ich war noch nicht mal 17, als ich mich in Konrad verliebte. Uniformen wirken auf junge Mädchen wohl sehr anziehend. Und er sah so gut aus. Dazu blond, mit blauen Augen. Nun ja, so nahm die Liebe eben ihren Lauf. In so einer kleinen Stadt wie der unseren blieb das natürlich nicht verborgen. Aber da unser