Linda Große

Alte Männer - böser Traum


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Nach einigen Minuten gab es so was wie Kuschelrock und das Durcheinander auf dem Parkett ordnete sich erstaunlich schnell zu eng umschlungen tanzenden Pärchen.

      Jean-Paul legte ebenfalls seine Arme um Clea, ziemlich fest wie sie fand. Die ersten beiden Musikstücke tanzte er jedoch ganz brav mit ihr. Als er seine Wange an Cleas legte, wurde sie unruhig. Jahrelang war sie keinem Mann mehr so nahe gekommen. Zu allem Überfluss schob er auch noch seine Hand unter ihr T-Shirt, schob sie hinauf bis zum BH und fuhr dann mit der Fingerspitze langsam um ihren Rücken herum nach vorne. Clea reagierte mit Schrecksekunde, packte entschlossen seine Hand und legte sie zurück auf ihre Hüfte. Daraufhin drückte er seine Wange noch fester an ihre und sagte kichernd: „Be a rolling stone, Clea, be a rolling stone!“

      Ja, gern, dachte Clea, aber nicht mit dir Milchbubi.

      „Bist du bekifft?“, fragte sie ihn.

      „Stört dich das?“, fragte er zurück und versuchte ungeschickt sie zu küssen.

      Einige der Paare waren mittlerweile durch die angelehnte Tür verschwunden. Clea suchte nach einer Möglichkeit, ebenfalls unauffällig zu verschwinden, aber allein.

      Also, so läuft das, dachte sie, aber nicht mit mir!

      „Einen Moment, ich muss Betty was fragen“, sagte sie zu Jean-Paul und löste sich aus seiner Umklammerung, „bin gleich wieder da.“

      „Wo gibt’s hier ein Klo?“ fragte sie Betty, laut genug, dass er es hören konnte.

      Wie sie gehofft hatte, war es gleich in der Diele, neben der Eingangstür. Sie durchquerte den großen Salon, tastete sich durch den düsteren Flur und verließ schnellen Schrittes das Haus.

      Nur Betty erschien zum Frühstück. Ihr kleiner Bruder war nirgendwo zu sehen.

      „Ging wohl ziemlich lange, eure Fete?“, fragte Clea.

      Das Mädchen verhielt sich ihr gegenüber überraschend anders als bisher, richtig freundlich und aufgeschlossen.

      „Ich weiß nicht“, beantwortete sie Cleas Frage, „bin bald nach dir gegangen.“

      Dann ist mit Antoine wohl auch nichts gelaufen! bedauerte Clea sie in Gedanken.

      Doch Betty schien ganz zufrieden zu sein.

      „War ein schöner Abend, nicht?“

      „Erzähl doch mal!“, forderte nun Lilo Clea auf.

      Die berichtete ausführlich über Bettys Rosenbowle, das Haus mit seinen antiken Möbeln und von Antoine, der sie in Berlin besuchen wollte.

      „Warum kommst du nicht mit ihm?“, fragte sie Betty. Die errötete heftig und murmelte etwas von: „Kein Urlaub.“

      Für einen Moment schien es so, als wolle Bettys Oma etwas dazu sagen, unterließ es dann doch und Clea erschien es angesagt, das Thema völlig zu wechseln. Sie überlegte angestrengt und fragte Betty unvermittelt: „Magst du Andrea Bocelli?“

      „Oh, ja“, ging sie sichtbar erleichtert auf die Frage ein. Besonders das Lied, das gestern Abend ein paar Mal gespielt wurde, das mit Sarah Brightman.“

      „Das Abschiedslied für Henry Maske.“

      „Henry Maske, der Boxer?“, fragte Lilo.

      „Ja, kennen Sie ihn?“, fragte Betty.

      „Einen Boxer? Nein, ich mag Boxkämpfe nicht.“

      „Ich kannte Maxe Schmeling“, erklärte Simon.

      „Wer ist das?“, wollte Betty wissen.

      „Ein berühmter deutscher Boxer!“, erklärte Lilo.

      „Kenne ich nicht“, sagte Betty achselzuckend.

      „Kein Wunder“, tröstete Clea sie. “Als der berühmt war, gab’s dich noch gar nicht, mich übrigens auch nicht. Aber sag mal, Paps. Woher kennst du ihn denn? Ich wusste davon gar nichts.“

      „Wir haben zusammen in Athen im Lazarett gelegen. Mich hatte auf Kreta die Sandfliege erwischt. Malaria! Und Maxe hatte Durchfall. Wir lagen nebeneinander. Er hat mir erzählt, dass die Nazis ihn gezwungen hatten, sich freiwillig zu melden. War sozusagen ihr Aushängeschild. So als Vorbild für die Jugend. Hätte er es nicht gemacht, wär’s mit seiner Boxkarriere nicht mehr weit her gewesen. Jedenfalls haben sie ihn ausgebildet bei den Fallschirmjägern. Ist nur einmal abgesprungen, über Kreta. Danach kam er ins Lazarett und anschließend wurde er nach Hause zurückgeflogen. Damit war seine Zeit als Soldat zu Ende.“

      „Was sie alles erzählen können“, meinte Betty.

      „Aber für heute langt‘s“, verkündete Lilo ausgesprochen energisch. „Du machst hier ständig den Alleinunterhalter!“

      Clea, die bereits mit dem Frühstück fertig war, hielt es für das Beste, sich aus dem Staub zu machen. Das Wetter war umgeschlagen, wie Jean-Paul es bereits am Freitagabend prophezeit hatte. Es war kalt und windig draußen und total bewölkt. Lilo war vom Morgenspaziergang mit Kaspar völlig zerzaust und durchfroren zurückgekommen. Jedenfalls schien der Tag wie dafür geschaffen, in den mitgebrachten Krimis zu schmökern. So verzog sich Clea in ihr Zimmer und machte es sich auf dem Bett gemütlich.

      Ein energisches Klopfen an ihrer Zimmertür ließ sie von ihrer spannenden Lektüre hochschrecken. Automatisch sagte sie „herein“ und war wenig erfreut, Jean-Paul zu sehen. Er grinste übers ganze Gesicht und lehnte sich mit verschränkten Armen lässig in den Türrahmen. Die Abfuhr des vergangenen Abends schien ihn und seinen Charme vollkommen unbeeindruckt gelassen zu haben.

      „Hast du Lust auf einen Ausflug?“, fragte er Clea.

      „Bei dem Wetter?“

      „Gerade bei dem Wetter! Mit dem Auto durch die Gegend fahren und in irgendeiner Fischerkneipe ein Bier trinken.“

      Hört sich gar nicht so übel an, dachte Clea. „Und mit wem?“, wollte sie wissen und zog dabei die Augenbrauen hoch.

      „Och, nur Antoine, Betty und ich. Und du, wenn du mitkommst.“

      „Okay, muss mir nur was Wärmeres anziehen.“

      Da er keine Anstalten machte, zu verschwinden, zischte Clea ihn an: „Hau ab und mach die Tür hinter dir zu. Bin in fünf Minuten unten.“

      Die drei saßen schon im Auto, als sie herunter kam. Es irritierte sie ziemlich, dass sie neben Antoine auf dem Beifahrersitz platziert wurde. Aber Betty wirkte ganz zufrieden, obwohl sie neben ihrem Bruder auf der Rückbank saß.

      „Sightseeingtour for a german tourist!“ begrüßte Antoine sie mit breitem Grinsen, genauso gutgelaunt wie Jean-Paul. Während der Fahrt war Clea dann ausgesprochen dankbar, dass man ihr diesen Platz eingeräumt hatte. Antoine fuhr zum Teil winzige Sträßchen. Jede Menge Kurven, kleine Dörfer, hohe Mauern, Schafweiden, vereinzelte, ausladende alte Zedern. Dann wieder frisch gestutzte Platanen, die auf Clea unsäglich verstümmelt wirkten, aufgereiht an leeren Boulebahnen auf verlassenen Dorfplätzen. Um alles waberten niedrig hängende Wolken, von plötzlichen, kurzen Windböen wie ein Theatervorhang gelüftet.

      Veulette sur mer mit seinem langen, sichelförmig geschwungenen Strand und der hohen weißen Klippe am Ende der Bucht lag völlig überraschend unter ihnen, nachdem sie aus einer Kurve heraus über eine flache Hügelkuppe fuhren. Die krönte den steil abfallenden Kreidefelsen, an dessen Flanke die schmale Straße in Kehren ins Tal hinunter führte. Die Bucht wurde von einer schnurgeraden Straße begrenzt. Zum Strand hin eine flache, breite Betonmauer, an deren Innenseite die Fußgängerpromenade entlang lief. Dort begann, nach der üblichen Steinanhäufung, der tief abfallende Strand. Er verschwand in den nebligen, tanzenden Wolkenfetzen, die das Meer vollständig zudeckten.

      Um die Klippe vor ihnen hingen graue Schwaden und entzogen den Felsen immer wieder ihrem Blick. Links von der Straße das vollkommen flache Tal. Vereinzelte alte, zweistöckige Fachwerkhäuser ragten heraus, hoch und schmal, vereinsamte Zähne auf einem fast zahnlosen Unterkiefer.

      „Das