Linda Große

Alte Männer - böser Traum


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verzogen sich die beiden Mittäter. Damit hielt Dirk G. seine Aufgabe für erfolgreich beendet. Der alte Mann bedankte sich trotz seiner Aufregung mit Handschlag und verschwand ebenfalls. Nur Plastrothmanns Mandant hatte die Nerven behalten, forderte von dem Jungen Name und Adresse, die der auch dummerweise ganz bereitwillig herausrückte. Und nun war plötzlich er der Angeklagte. Und auch für Plastrothmann war es kein Problem, ihn als den wahren Schuldigen darzustellen, weil er einen der drei Täter brutal in den Schwitzkasten genommen hatte. Das der Junge damit lediglich diesem alten Mann zu Hilfe gekommen war, unterdrückte er völlig in seiner Beweisführung. So wurde das eigentliche, nicht anwesende Opfer der Geschichte indirekt zum Mittäter. Der Richter schloss sich dem an, so war sein Urteil schnell gefällt. Dirk G. habe übermäßig viel Gewalt angewandt, so seine Urteilsbegründung. Er hätte mit weniger Gewaltanwendung einschreiten sollen. Da der Junge bis dahin völlig unbescholten war, beließ er es gnädigerweise bei einer Verwarnung.

      Plastrothmann verspürte keinerlei Mitleid mit den schockierten Eltern. Es waren diese braven Leute, die durch ihre Schafsgeduld diesen Unrechtsstaat manifestierten. Wären sie Angehörige irgendeiner politisch relevanten Minderheit gewesen, hätte ihr Sohn ein stadtbekannter Schläger sein können! Dann wäre sein eigener Mandant von diesem Richter hundertprozentig zur Verantwortung gezogen worden. Dessen war er sich absolut sicher.

      Über den Bildschirm flimmerten jetzt die Tagesthemen. Plastrothmann stellte den Ton an und kehrte gleichzeitig mit seinen Gedanken in die Gegenwart zurück. Weshalb er diesen Bagatellfall überhaupt angenommen hatte, das wollte er herausfinden. Als sie damals aus dem Gericht kamen, lud ihn sein Mandant zum Mittagessen ein. Und er hatte diese Einladung angenommen. Verwandte Seelen haben einen Riecher füreinander. So war schon während des ersten privaten Gesprächs klar, dass Ronalds Gesinnung mit der Plastrothmanns in vielen Teilen konform ging. Zudem passte seine geübte Rhetorik so gar nicht zu diesem Schlägerimage. Das übte einen gewissen intellektuellen Reiz auf ihn aus. Denn selbst Heinrich schien ihm als Gesprächspartner seit geraumer Zeit nicht mehr ebenbürtig.

      Und nun die Vermutung, Ronald arbeite für den BND. War das eine Erklärung für diese Brüche in seiner Persönlichkeit? Wenn ja, wer hatte ihm dieses faule Ei untergeschoben? Oder war er sogar ganz gezielt benutzt worden? Es gab nicht wenige, denen seine Stellung zur Partei ein Dorn im Auge war. Sein permanentes Argument, er wäre als Anwalt nützlicher ohne Mitgliedschaft, stieß bei vielen auf Kritik, das wusste er. Einmal mehr war es wohl Heinrichs Protektorat zu verdanken, das er bisher unangefochten seine Position halten konnte.

      Wie damals während der Ferienlager der Wiking Jugend. Beim Schießen war er gut gewesen, der Beste aufgrund seiner starken Nerven. Aber er hasste die Kampfsportarten. Sein ungelenker Körper wollte sich weder Heinrichs noch seinem eigenen Willen unterwerfen. Deswegen beruhte der Respekt der Gruppe und der Kader ihm gegenüber hauptsächlich auf seiner Beziehung zu Heinrich.

      Der Neid der Kameraden äußerte sich in Hänseleien wie “Muttersöhnchen“, wenn Heinrich ihn sonntags am Vormittag abholte mit seiner blitzblank geputzten, schwarzen Borgward Limousine. Der Chauffeur, den er damals noch beschäftigte, in Livree und Schaftstiefeln, hielt ihm jedes Mal die Tür auf, damit er neben Heinrich auf dem Rücksitz Platz nehmen konnte.

      Jeden Sonntag nahmen sie das Mittagessen bei Plastrothmanns Eltern ein. Danach zogen sich die beiden Männer in das Arbeitszimmer seines Vaters zurück. Seine Mutter nahm ihn mit in den Garten, seine schöne, blonde Mutter. Zusammen lagen sie in der Hängematte, die zwischen Walnuss- und Apfelbaum gespannt war. Dort erzählte sie ihm Geschichten von Elfen und wunderschönen, guten Feen. Ab seinem 12. Geburtstag hatten ihn die Männer mit ins Arbeitszimmer genommen.

      „Jetzt bist du ein Mann“, erklärte sein Vater feierlich. Er wies ihm einen Platz neben dem großen Schreibtisch auf einem der hochlehnigen Eichenstühle zu. Dort saß er bis zum frühen Abend und hörte ergeben den Gesprächen der beiden Männer zu.

      Manchmal träumte er mit offenen Augen von den vergangenen schönen Stunden mit seiner Mutter. Wie er in ihren Armen in der Hängematte gelegen hatte. Ihre klare leise Stimme im Ohr. Ab und an, wenn sie sich bewegte und eine Strähne ihres blonden Haares über seine Wange kitzelte, hatte er jedes Mal gelacht. Und immer strich sie sich darauf zuerst das Haar aus dem Gesicht, küsste ihn dann zärtlich und sagte: „Mein fröhlicher, kleiner Prinz.“

      Die Gespräche zwischen seinem Vater und Heinrich interessierten ihn nicht wirklich. Vieles worüber sie sprachen, war ihm vertraut durch die Schulung im Ferienlager und den privaten Unterricht, den Heinrich ihm als kleinem Jungen schon erteilte, vor Beginn seiner Schulzeit. Sein fotografisches Gedächtnis war auch in dieser Beziehung eine gute Hilfe. Er kannte alle Orden und Ehrenzeichen der Wehrmacht, sowie sämtliche Daten der entscheidenden Schlachten und Ereignisse der Hitlerzeit. Die Faszination der Helden blieb natürlich auch bei ihm nicht ohne Wirkung. Trotzdem liebte er die Geschichten seiner Mutter mehr. Unvermittelt sprang Plastrothmann von seinem Sessel hoch und schaltete die Deckenbeleuchtung ein. Ärgerlich über sich selbst griff er erneut zur Akte von Ronalds Prozess. Das kleine, kaum sichtbare, mit Bleistift an den Rand geschriebene ‘K‘ blieb der einzige Hinweis. Heinz K., nicht einmal in Gedanken sprach er seinen Nachnamen aus, Kriminalkommissar und wichtiger Mann der rechten Szene. Er war sehr brauchbar für die Partei, das hinderte jedoch Plastrothmann nicht daran, ihn zutiefst zu verachten. Der Kommissar hatte die Verbindung zwischen ihm und Ronald hergestellt. Aber K. besaß großen Einfluss in der Partei. Und er war gefährlich. Konnte und wollte er auch ihm gefährlich werden? Unruhig ging er im Zimmer hin und her. Solche Gefühlsbewegungen gingen ihm normalerweise völlig ab. Heinrich, dachte er, Heinrich ist verunsichert. Aber weshalb? Ist seine Stellung gefährdet? Oder nur meine? Was geht da vor sich?

      Er schlug sich fast die ganze Nacht um die Ohren, mit unfruchtbaren Ergebnissen. Lauter lose Enden. Zum Schluss streikte sogar sein sonst so präzise arbeitendes Gehirn. Er hatte das Gefühl, mit jeder Frage an einer Betonmauer zu landen. So gab er schließlich widerwillig auf und ging zu Bett. Doch der Schlaf wollte sich einfach nicht einstellen.

      Kapitel 12

      „Warum schreibst du nicht auch eine Karte an Friedo?“, platzte Lilos Frage unerwartet in die behagliche Stille. Simon saß mit einer deutschen Zeitung am Kamin. Das gemütliche Knistern des Feuers ergab, zusammen mit dem leisen Klopfen des Regens auf den Fensterscheiben des großen Salons, ein harmonisches Duett. Im Haus war es vollkommen ruhig, Monique und Claudine erledigten ihre Einkäufe für die Woche. Clea und Lilo hatten nach dem Frühstück beschlossen, das Wetter für die längst fälligen Urlaubskarten zu nutzen. Trotz des schlechten Wetters fühlte sich Clea entspannt, zufrieden, ja geradezu glücklich. Bis zu Lilos dummer, peinlicher Frage. Es dauerte ein Weilchen, bis sie überhaupt in Cleas so friedlich vor sich hin plätscherndes Bewusstsein drang. Doch dann kam die Reaktion sofort: Von Null auf hundertachtzig! Sie wurde wütend, heftig wütend! Unübersehbar.

      „Was ist denn los?“, fragte Lilo erstaunt. „Er ist doch so ein netter Mann. Warum hast du ihn damals denn nicht geheiratet? Und nun bist du immer noch allein.“

      Nun war Clea sprachlos. Simon kam ihr zu Hilfe.

      „Ich habe dir doch verboten, diesen Namen jemals wieder zu erwähnen in Cleas Gegenwart!“, sagte er leise, ruhig und scharf.

      „Aber...“, nun war Lilo sprachlos.

      Clea sagte immer noch nichts. Die Gemütlichkeit des Vormittags war zum Teufel. Sie konnte es nicht fassen. Nicht nur die Erwähnung Friedemanns, sondern dazu auch noch die Kurzform seines Namens, die Clea damals immer benutzt hatte. Sein Name war wirklich das Einzige, was sie damals gestört hatte an ihm. Er schien so überhaupt nicht zu ihm zu passen. Verdammt, dachte sie, weshalb muss sie jetzt damit ankommen. Die ganze Idee ist typisch Lilo. Was soll ich denn meinem Exliebhaber schreiben nach acht Jahren? Hallo, bin mittlerweile eine alte Jungfer. Hättest du noch Interesse?

      Die Gedanken wirbelten kreuz und quer durch ihren Kopf. Sie fühlte sich wie in einem Tornado. Einem Gefühlstornado! Und so hatte auch dieser ein Zentrum, in dem absolute Ruhe herrschte. Was regst du dich auf? fragte sie sich. Du wolltest ihn