Linda Große

Alte Männer - böser Traum


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dahinfließende Veules. Clea lehnte sich an den gelb gestrichenen Gartenzaun und genoss den Blick auf die üppig blühenden Blumen und Sträucher. Vom Wasser der Veules stieg eine eisige Kälte auf, erzeugte eine Gänsehaut auf ihren nackten Armen.

      Die Straße teilte sich und führte im Halbbogen beidseitig um das Mietshaus herum. Dahinter lag der leere, großflächige, asphaltierte Parkplatz. Rechts und links davon begrenzten steil aufragende Kreidefelsen das Sichtfeld. Auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes versperrte die Promenade den lang ersehnten Blick auf das Meer. Clea ging quer über den Asphalt, die aufgespeicherte Sonnenhitze des Tages umwaberte sie mit dem aufdringlichen Geruch nach Teer.

      Als sie die flachen Stufen zur Promenade hinaufstieg, fegte eine kalte Brise über den Platz. Eine aufgescheuchte Schar Möwen kreischte über dem Strand. Es war Ebbe und das Meer weit weg, hing als schmale, blaue Borte am türkisfarbenen Abendhimmel. Clea balancierte vorsichtig über die aufgetürmten Steine hinweg, bis sie den Sand erreichte. Sofort zog sie ihre Sandalen aus und bohrte die Zehen genüsslich in den warmen Sand. Eine Weile blieb sie so stehen, öffnete sich völlig den Geräuschen und Gerüchen ihrer Umgebung. Dann marschierte sie entschlossen über den immer fester werdenden Sand, schnurgerade auf den Wassersaum zu.

      „Schöne Ferien, Clea, schöne Ferien“, sagte sie laut zu sich selbst.

      Kapitel 6

      Plastrothmann, die Ellbogen auf den Schreibtisch gestützt, strich mit beiden Händen prüfend über den kurzen Haarflaum seines Schädels. Trotz der hellblonden Stoppel waren seine ergrauenden Schläfen unverkennbar. Zuhause würde er seinen Kopf wie jeden Freitagabend kahlrasieren. Das war eines der feststehenden Rituale, aus denen für den oberflächlichen Beobachter Plastrothmanns ganzes Leben wie ein Puzzle zusammengesetzt schien. Auch der Umstand, dass er jetzt in der bereits seit dem frühen Nachmittag völlig verlassenen Kanzlei saß, gehörte zu diesen unveränderlichen Gewohnheiten. Er genoss diese Stunden und es lag auch nicht in seiner Natur, sich selbst darüber Rechenschaft abzulegen, weshalb er jedes Wochenende auf diese Weise anging. Freitag für Freitag, Monat für Monat, Sommer wie Winter.

      Es war erstickend heiß im Raum. Die Bürotür stand weit offen, doch sogar im Treppenhaus schien jedes Quäntchen Kühle aus dem Mauerwerk herausgequetscht. Die Fenster zu öffnen, machte erst in den frühen Morgenstunden Sinn. Die Stadt war richtig aufgekocht. Nach Meinung der Meteorologen war es der heißeste Frühsommer seit Jahrzehnten.

      Plastrothmann ließ das kalt. Er saß seit dem Weggang seines letzten Klienten in dieser Arbeitswoche immer noch vollkommen korrekt gekleidet an seinem aufgeräumten Schreibtisch. Obwohl sein durchgeschwitztes Jackett an ihm klebte, dachte er nicht daran, es auszuziehen. Nicht einmal den Knoten der Krawatte hatte er gelockert. Erneut überprüfte er die Haarstoppel auf seinem Kopf. Diesmal behutsam mit der flachen Handfläche, um jedes leise Pieken zu registrieren.

      Die absolute Stille in der Anwaltskanzlei wurde durch nichts gestört. Die Putzfrauen kamen erst am Montagmorgen. Das waren die Stunden, wo ihm alles ganz allein gehörte. Dieses Gefühl konnte er stundenlang genießen. Es entspannte ihn vollkommen. Seine Gedanken machten sich selbstständig, befreit vom Druck der Arbeit und vor allem befreit von der Gegenwart seiner Mitarbeiter. Er war ein typischer Einzelgänger, Nähe konnte er nicht ausstehen. Jedenfalls nicht von Menschen, die meinten, ihn fordern zu müssen. So ignorierte er in seinem augenblicklichen Behagen vollständig die vor ihm liegenden Stunden mit Heinrich. Er übersprang sie einfach und verband das Gefühl der erfolgreich verlaufenen Arbeitswoche mit den erwarteten Freuden im ‘Chez Barbra‘. Meistens verließ er Heinrich gegen dreiundzwanzig Uhr. Dann ließ er sich mit dem Taxi in sein Lieblingslokal bringen. Dort, wo ihn jeder kannte und respektierte.

      Sein Gehirn registrierte die Körper, Geist und Seele durchdringende Vorfreude, alles verschmolz zu einer wohligen Einheit, die ihren Höhepunkt in einer sexuellen Erregung fand. Die Entspannung löste Barrieren, Gedankensplitter stiegen an die Oberfläche des Bewusstseins. Unerwünscht rissen sie Teile seines anerzogenen Pflichtbewusstseins mit. Automatisch schaute er auf die Uhr, die vor ihm an der Wand hing. Es wurde Zeit aufzubrechen. Nicht nur, weil Heinrich auf Pünktlichkeit so sehr wert legte. Auch Henriette, Heinrichs Haushälterin, erwartete sein Erscheinen. Schließlich kochte sie jeden Freitagabend extra seinetwegen ein exquisites Menü.

      Samstags dagegen pflegte er bei seiner Mutter zu essen. Pünktlich um 12 Uhr. Darauf legte sie genauso viel Wert wie auf das Spargelgrün im Blumenstrauß, den er ihr selbstverständlich auch jeden Samstag mitbrachte. Er fragte sich, wo er das Morgen herbekommen sollte. Die Blumenhändlerin, bei der er immer einkaufte, war in Urlaub. So lange seine Mutter in dieser Gegend wohnte, war das noch nie vorgekommen. Dabei führte sie das Zeug nur seinetwegen. Asparagus sei völlig out, hatte sie ihm erklärt. Zum Glück konnte sie es sich in diesem öden Wohnbezirk nicht leisten, die Extrawünsche ihrer Kunden zu ignorieren. Wo sollte er denn morgen Blumen kaufen, um dem Gezeter seiner Mutter zu entgehen? Musste diese kuhäugige, kleine Schwarzhaarige denn unbedingt verreisen?

      Der aufwallende Ärger verkrampfte seine Nackenmuskulatur. Unbewusst fing er an sie durchzukneten. Dabei dehnte und drehte er den Hals, bis es im Genick krachte. Das indiskrete Klingeln des Telefons machte den Erfolg seiner Entspannungsübungen zunichte. Erst wollte er gar nicht abheben. Bestimmt falsch verbunden. Und wenn nicht war das auch egal. Um diese Zeit war die Kanzlei nicht besetzt. Er konnte sich auch nicht erinnern, jemals um diese Zeit einen Anruf erhalten zu haben. Schließlich, nach dem zwölften, immer aufdringlicher werdenden Klingelton, griff er zum Hörer.

      „Heinrich?“, fragte er erstaunt. Beim Zuhören straffte sich sein ganzer Körper und ein konzentrierter Ausdruck veränderte sein Gesicht.

      „Ja, bin schon unterwegs“, beendete er das Gespräch, legte den Hörer auf und ließ seinen Stuhl ein Stück vom Schreibtisch wegrollen. Der Unmut über Heinrichs Anruf erzeugte ein körperliches Unbehagen. Mit zwei Fingern fuhr er zwischen Hemdkragen und Hals entlang, dann lockerte er den Knoten seiner Krawatte. Der Alte hatte geradezu hysterisch geklungen. Verlangte sein sofortiges Erscheinen, weil er vor dem Essen noch etwas Wichtiges mit ihm besprechen wollte. Er schälte sich mühsam aus seinem verschwitzten Jackett. Jetzt blieb ihm keine Zeit mehr, nach Hause zu fahren, zu duschen und sich umzuziehen. Seine Hände umklammerten die Kante des Schreibtischs, langsam zog er den Stuhl wieder näher heran, löste die Finger und fing an, auf der Holzplatte herum zu trommeln. Heinrich hatte mit seinem Anruf die Aktivitäten von Plastrothmanns genormtem Wochenende durcheinander gewirbelt. Es fiel ihm schwer, seine aufkeimende Aggressivität zu unterdrücken. Erneut begann er, seine Halsmuskulatur zu kneten, drehte den Kopf hin und her bis es in den Wirbeln krachte. Danach stemmte er sich aus dem Sitz hoch und verließ unverzüglich sein Büro.

      Kapitel 7

      „Wieso sind die Getränke nicht da?“, fuhr Nehberg Marlies ungehalten an. „Es ist schon halb sieben!“

      „Sie kommen in einer Viertelstunde. Bei der Hitze schwimmen uns doch die Eiswürfel weg!“

      „Na, dann ist gut, dann ist gut.“

      Nervös drehte sich der Galerist von Marlies weg und fing an, die Bilder zu inspizieren. Er überhörte das Klopfen an der noch abgeschlossenen Eingangstür.

      Vor jeder Vernissage die gleiche Anspannung, dachte Marlies, kein bisschen cool, der Mann!

      Sie ließ die junge Malerin, die sich in Begleitung ihres Galeristen und Entdeckers befand, ein. Die beiden waren gut gelaunt und wirkten auf Marlies Wittke wie ein frisch verliebtes Pärchen. Der ist doch bestimmt an die dreißig Jahre älter, dachte sie amüsiert. Kein Wunder, dass Nehberg sie ausstellte. Bei der Protektion. Sie fand die Arbeiten jedenfalls nicht besonders aufregend. Und dann gleich eine Einzelausstellung. Nette Bildchen, keines größer als 6ox90 cm. Mittelmäßiges Talent, ohne eigene Handschrift und Marlies bezweifelte, dass die sich noch entwickeln würde.

      Nach sechzehn Jahren