Manuel Biener

Darwins Prophezeiung


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dass er gekündigt hatte.

      Alles kam mir unwirklich vor. Ich fühlte mich wie in einem dieser Horrorträume, die mich in letzter Zeit heimgesucht hatten. Einmal befand ich mich in China auf einer schwankenden Hängebrücke über einer tiefen Schlucht und musste hilflos mit ansehen, wie Irmtraud ein paar Meter vor mir abrutschte und in die Tiefe stürzte. Ein anderes Mal saß ich in einem Gerichtssaal, wo ich wegen einer weggeworfenen Zigarettenkippe angeklagt war, was ich absurd fand und dem Richter Nazi-Methoden vorwarf, worauf dieser mich einen schäbigen Lump nannte und mich zu zwölf Jahren Haft verurteilte. Aber diesmal war es kein Traum, von dem ich schweißgebadet befreit wurde. Diesmal war es die Wirklichkeit.

      Plötzlich erfasste mich ein unkontrolliertes Zittern, das nicht von der Kälte kam. Ungläubige Verzweiflung machte sich breit. Die vielen Jahre, die ich unter Verzicht auf freie Wochenenden, Urlaubstage und Privatleben in meine wissenschaftliche Arbeit investiert hatte – alles vergebens? Mein Dienstzimmer, also mein eigentliches Zuhause, bald von einem Nachfolger besetzt, das Einkommen weg, und meine neue Theorie nie veröffentlicht?

      Ich wog bei diesen Gedanken ständig den Kopf hin und her und bekam das Gefühl, mich übergeben zu müssen. Ich konnte es immer noch nicht fassen. Dann konnte ich mich auch gleich aufhängen. So hatte das Leben doch keinen Sinn mehr.

      Unvermittelt erinnerte ich mich an den bewegenden Moment, als ich einst an Charles Darwins Grab stand, einer schlichten Steinplatte in der Westminster Abbey. Anlässlich einer Konferenz in London hatte ich es mir nicht nehmen lassen, meinem großen wissenschaftlichen Vorbild einen Besuch abzustatten. Ich seufzte. Damals war ich jung und sorgenfrei und steckte voller Tatendrang. Auf der Konferenz hatte ich gerade die Ergebnisse meiner Diplomarbeit präsentiert und dafür viel Anerkennung erhalten. Und ich hatte auch schon ein Forschungsstipendium des DAAD, des Deutschen Akademischen Austauschdienstes, in der Tasche. Für meine Doktorarbeit auf den Philippinen. Ein Traum war in Erfüllung gegangen. Die Welt stand mir offen. Für mich war es kein Zufall, dass ich gerade jetzt an Darwins letzter Ruhestätte verweilen konnte. Sondern ein Wink des Schicksals.

      Charles Darwin, wie Sie wissen, ist der Begründer der Evolutionstheorie, die in der kürzesten Version besagt, dass alle Arten von Lebewesen veränderlich sind und im Verlauf von Generationen einer Entwicklung, also der Evolution, unterliegen. Darwin entdeckte die Prinzipien, die zur Entstehung neuer Arten führen und lieferte die Erklärung dafür, warum überhaupt so viele verschiedene Lebewesen auf der Erde vorkommen. So weit, so gut – aber daraus ergibt sich sogleich eine neue entscheidende Frage: Wie ist es überhaupt möglich, dass so viele Arten gemeinsam existieren können? Obwohl die Arten im „Kampf ums Dasein“, einem scharfen Wettbewerb ausgesetzt sind, wie Darwin erkannte, passiert es in der Regel nicht, dass sich einige wenige Arten erfolgreich durchsetzen und andere dadurch wieder aussterben. Eine Diskrepanz, die auch Darwin beschäftigte. „Kampf um Kampf muss mit wechselndem Erfolg wiederkehren, aber allmählich halten die Kräfte einander so vollkommen im Gleichgewicht, dass die Natur sich während langer Perioden nicht verändert, obschon der kleinste Umstand ausreichen würde, einem organischen Wesen den Sieg über ein anderes zu ermöglichen“, schrieb er in Die Entstehung der Arten. In den Lebensgemeinschaften müssen also Mechanismen existierten, die die Populationsgrößen der einzelnen Arten in irgendeiner Weise begrenzen. Aber, so Darwins Feststellung, „die Ursachen, die das natürliche Streben einer jeden Art nach Vermehrung beschränken, sind vollkommen unaufgeklärt“. Zu suchen seien sie unter anderem in den „verwickelten Beziehungen“ zwischen den Arten. Darwin musste jedoch einsehen, „dass wir von den Wechselbeziehungen der organischen Wesen so gut wie gar nichts wissen.“

      Und genau diese Aussage war es, die mich bei meinen Forschungen nicht mehr losließ.

      Was zum Verständnis des großen Ganzen jetzt noch fehlte, war eine Theorie, die außer der Entstehung der Arten auch das Zusammenleben der Arten erklären konnte. Nämlich meine Theorie. – Sie werden sicher verstehen, dass ich auf Details nicht eingehen kann, möchte Ihnen aber die wesentlichen Grundzüge dennoch nicht vorenthalten.

      Mein Ausgangspunkt war die Frage nach der biologischen Bedeutung der Fülle an organischen Verbindungen, die in der Natur vorkommen und vor allem von Pflanzen und Pilzen gebildet werden. Jede Art produziert ihre eigenen, charakteristischen Inhaltsstoffe, die ihr einen unverkennbaren Geruch und Geschmack verleihen. Manche von ihnen nutzen wir aufgrund dieser Eigenschaften als Gemüse, als Gewürz oder wegen ihrer anregenden Wirkung. Bestimmt haben Sie heute schon Kaffee, Tee oder Kakao getrunken oder vielleicht eine Zigarette geraucht und dabei Koffein, Theobromin oder Nikotin zu sich genommen. Diese sogenannten sekundären Inhaltsstoffe von Pflanzen und Pilzen bereiten uns aber nicht nur Genuss, sondern nehmen auch als Arzneimittel und Drogen Einfluss auf unser Befinden und können sogar das Bewusstsein verändern. Seit Urzeiten von Schamanen, Priestern und Heilern genutzt, prägten psychoaktive Wirkstoffe sogar die Glaubensvorstellungen und Normen ganzer Gesellschaften.

      Aber warum werden diese Substanzen überhaupt gebildet? Eine beabsichtigte Wirkung auf den Menschen kann man den Pflanzen und Pilzen schwerlich unterstellen, da sie daraus ja keinerlei Nutzen ziehen. Auch im Organismus der Produzenten selbst haben sie größtenteils keine physiologische Funktion und bieten auch keinen umfassenden Schutz gegen Fressfeinde. Im Gegenteil. Die meisten pflanzenfressenden Insekten sind auf bestimmte Arten spezialisiert und werden von deren Inhaltsstoffen nicht abgeschreckt, sondern nutzen sie als Erkennungsmerkmal bei der Futtersuche. Die Pflanzen sorgen damit also zu ihrem eigenen Nachteil für den Erhalt solcher Insekten. Sie streben demnach – im Unterschied zum Menschen – nicht die Vernichtung dieser Schädlinge an, sondern sind gleichzeitig für deren Fortbestand verantwortlich. Von ihren Fressfeinden befallene Pflanzen geben aber auch flüchtige Substanzen an die Luft ab, die wiederum verschiedenen räuberischen Insekten, zum Beispiel Ameisen, die Anwesenheit einer Beute signalisieren und leisten damit einen weiteren Beitrag zum Erhalt der Artenvielfalt. Darüber hinaus wurde entdeckt, dass Pflanzen mit bestimmten Inhaltsstoffen auch untereinander kommunizieren können, woraus sich wiederum verschiedene Beziehungen zu anderen Organismen ergeben. – Sie sehen, ich bin in meinem Element, aber ich will jetzt nicht ausschweifend werden.

      Nach und nach begann ich zu verstehen, dass sich hinter solchen Beziehungen ein übergeordnetes, bislang unerkanntes biologisches Prinzip verbarg: die Kommunikation zwischen den Arten durch biochemische Signale. Jedes Lebewesen ist Sender, Empfänger oder Transformator von Signalstoffen, die über die Nahrung, die Luft, das Wasser oder den Boden in die Biosphäre gelangen und andere Arten beeinflussen. Insgesamt, so der Kern meiner Theorie, stehen über dieses biochemische Kommunikationsnetzwerk sämtliche Arten zwischen Tiefsee, Tundra und den Tropen direkt oder indirekt miteinander in Beziehung. Dabei steuern die Signalstoffe das Verhalten der Arten, wodurch insgesamt ein biologisches Gleichgewicht entsteht, das gleichzeitig für den Erhalt der durch Evolution entstandenen Artenvielfalt sorgt. Dies, um bei Darwins Worten zu bleiben, ermöglicht keinem organischen Wesen den Sieg über ein anderes.

      So war das. Man muss die Dinge nur aus einer neuen Perspektive betrachten, um zu neuen Erkenntnissen zu gelangen.

      Meine Theorie war gedanklich ausgereift, und vom Aufbau meines Buches hatte ich auch schon ziemlich konkrete Vorstellungen. In beabsichtigter Anlehnung an den Titel von Darwins Werk Die Entstehung der Arten, wollte ich es Das Zusammenleben der Arten nennen und damit die Anknüpfung an die Evolutionstheorie deutlich machen. Es entstünde dann quasi ein Gesamtwerk in zwei Bänden. Die große Synthese von allem.

      Freilich, bis dahin war es noch ein weiter Weg. Meine bislang gewonnenen Daten reichten noch nicht aus, um diese Theorie hieb- und stichfest zu begründen. Für ihre wissenschaftliche Akzeptanz musste, wie für jede große Theorie, der Nachweis erbracht werden, dass sie universelle Gültigkeit besaß. Das hieß nicht nur, bestehende Forschungslücken zu schließen, sondern auch die gesamte Fachliteratur, die weitere Belege dafür liefern konnte, zu erfassen und zu analysieren. Inzwischen waren es schon weit mehr als 2000 Publikationen, die sich in den Regalen meines Büros stapelten und noch ihrer Auswertung harrten. Aber Darwin hatte schließlich auch mehr als 20 Jahre an seiner Evolutionstheorie gebrütet und Fakten gesammelt, bis sein rund 500 Seiten umfassendes Buch endlich fertig war. Im Unterschied zu mir hatte Darwin allerdings genügend finanzielle Mittel und damit die Muße, sich voll und ganz seiner wissenschaftlichen Arbeit zu widmen.