Manuel Biener

Darwins Prophezeiung


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dieser Idee.

      Himmel, fiel mir plötzlich ein. Ich riss den Arm hoch und schaute auf die Uhr. Höchste Zeit umzukehren. In zwanzig Minuten begann das Seminar „Spezielle Aspekte der Agrarökologie“, das ich moderieren musste.

      Im Büro schnappte ich mir noch schnell Stift und Notizblock, bevor ich zum Hörsaal eilte. Von dem runden Dutzend Masterstudenten, die das Modul „Agrarökologie der Tropen und Subtropen“ belegt hatten, waren die meisten schon da, und der Blick auf die Projektionsfläche des bereits eingeschalteten Beamers verriet mir zum Glück auch das heutige Thema. Es lautete „Die Anfänge der Landwirtschaft“. Vortragende war Inga-Lill, eine kleine, quirlige Schwarzhaarige mit pummeliger Figur. Mir war es ein Rätsel, wie sie zu ihrem Namen gekommen war. Wahrscheinlich war ihre Mutter noch bis zum Ende der Schwangerschaft irrtümlich der Überzeugung, dass es sich beim Vater des Kindes um ihren blonden Ehemann mit schwedischem Migrationshintergrund handelte und nicht um den jungen Tretbootverleiher, mit dem sie sich im letzten Italienurlaub kurz vergnügte, während sich ihr Gatte auf dem dreitägigen Segeltörn befand, von dem er schon vor der Reise ständig geschwärmt hatte.

      Nach einer kurzen, improvisierten Einführung erteilte ich Inga-Lill das Wort und setzte mich auf einen Platz in der ersten Bankreihe, die von Studenten grundsätzlich gemieden wurde.

      „In meinem Referat möchte ich vor allem auf zwei Punkte eingehen“, begann Inga-Lill ihre Powerpoint-Präsentation, „und zwar auf die Ursachen der Entstehung von Landwirtschaft sowie auf die Prozesse, die von den Wildpflanzen zu den Kulturpflanzen führten.“ Das nächste Bild zeigte einen afrikanischen Bauern, der mit einer primitiven Hacke ein Feld bearbeitete. „Zunächst stellt sich sie Frage, wann die Menschen damit begonnen haben, Pflanzen anzubauen, die der Nahrungsversorgung dienten. Nach allem, was wir heute wissen, geschah dies vor rund 10.000 Jahren. Aber warum hat der Mensch überhaupt angefangen, Landwirtschaft zu betreiben, und gerade zu dieser Zeit? Vor dem Beginn der Landwirtschaft, also während der weitaus längsten Zeit seiner bisherigen Existenz, lebte er ausschließlich als Jäger und Sammler.“

      Ich hielt mir den Zeigefinger an die Backe, um bei Inga-Lill den Anschein aufmerksamen Interesses zu erwecken, während ich versuchte, einen Gedanken zu greifen, der mir vorhin kurz durch den Kopf gegangen war: Auf den Philippinen wird der Besitz selbst kleinster Mengen an Drogen hart bestraft, was auch schon so manchen Ausländer für Jahre hinter Gitter gebracht hatte. Darunter waren nicht wenige, die behaupteten unschuldig zu sein und es oft auch waren. Man hatte ihnen den Stoff untergeschoben und sie anschließend zu denunziert. Geschäftliche Konkurrenz, persönliche Animositäten oder Eifersucht mochten Motive dafür gewesen sein. Ich hatte von solchen Fällen gehört. Auch für Butzmann wäre es in so einem Fall unmöglich, seine Unschuld zu beweisen.

      Diese Vorstellung entlockte mir ein Lächeln. Inga-Lill lächelte zurück. Ihr Vortrag lenke mich einen Moment lang von meinen Gedanken ab.

      „ ... wird die Entstehung der Landwirtschaft oft so dargestellt, als handelte es sich um eine geniale Erfindung, die ein bequemeres und sorgloseres Leben ermöglichte, als dies zuvor der Fall war. Vieles deutet jedoch darauf hin, dass hauptsächlich Umweltfaktoren dazu geführt haben.“

      Ich tippte mir mit dem Kugelschreiber an die Lippen. Eine solche Aktion wäre allerdings mit einigen Risiken behaftet. Erstens müsste ich eine möglichst große Menge Marihuana oder sowas beschaffen, zweitens bei Butzmann verstecken und drittens einen entsprechenden anonymen Hinweis geben. Für einen Ausländer kaum machbar. Und einen Einheimischen mit dieser Aufgabe zu betrauen, wäre auch keine gute Idee. Ich schüttelte den Kopf, worauf Inga-Lill kurz den Faden verlor.

      Das war alles zu riskant. Von Drogen sollte man auf den Philippinen besser die Finger lassen. Und überhaupt, fiel mir dann noch ein: War eine Haftstrafe auf den Philippinen überhaupt von Relevanz für den Beamtenstatus in Deutschland? Und würde man dafür auch das Urteil eines philippinischen Gerichts zu Grunde legen? Ich kannte leider keinen Juristen, der mir zu diesem Thema Auskunft geben konnte. Wahrscheinlich würde ein gewiefter Anwalt versuchen, die Sache für Butzmann zu regeln. Und so lange würde man ihm seinen Bürosessel an der Uni auf jeden Fall warm halten müssen. Ich hatte wohl tatsächlich nur eine Chance, wenn, wie der Präsident in weiser Voraussicht erkannt hatte, Butzmann sterben würde.

      „ ... und so kam es“, drang Inga-Lills Stimme wieder zu mir vor, „dass die Ernährung der Menschheit heute vollständig von der Landwirtschaft abhängt. Umgekehrt sind aber auch die Kulturpflanzen auf den Mensch angewiesen, da sie ohne ihn in der freien Natur nicht existieren könnten. – Damit möchte ich meine Präsentation beenden und bedanke mich für eure Aufmerksamkeit.“ Die Zuhörer klopften auf die Tische, und ich erhob mich. „Ja, dann vielen Dank erst mal“, gab ich von mir, ließ einige Fragen zu und würgte die Diskussion nach zehn Minuten ab.

      Zurück im Büro, ließ ich mich kraftlos auf meinen Stuhl sinken. Ich hatte Kopfschmerzen. Meine Energie war aufgezehrt. Die ganzen Gedankenspielereien zu Butzmann waren doch völlig sinnlos. Es gab einfach nichts, was mir noch irgendwie Mut oder Hoffnung machen konnte. Irgendwann würde ich einen Idiotenjob annehmen müssen, um meinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Dann würde ich abends müde nach Hause kommen und nicht mehr fähig sein, mich noch auf die Arbeit an meiner neuen Theorie zu konzentrieren. So konnte das nichts mehr werden. – Sollte das mein Schicksal sein? Unvorstellbar.

      Ich blickte aus dem Fenster. Wenn Butzmann sterben würde. Das wäre wirklich gut.

      Meine Gedanken schweiften zurück in meine Zeit auf den Philippinen. Ich erinnerte mich an das merkwürdige Ableben der beiden jungen Männer in dem Dorf auf der Insel Leyte, wo ich seinerzeit als Doktorand gelebt hatte. Beide waren, im Abstand von wenigen Wochen, über Nacht plötzlich verstorben. Sie waren weder krank noch hatte es sonst irgendwelche Vorkommnisse gegeben, die als Erklärung dafür herhalten konnten. „Sie sind an schlechten Träumen gestorben“, wurde mir erklärt, als ich mich diskret nach der Ursache erkundigt hatte. Nun ja. Vielleicht leuchtete dies wirklich allen ein und musste nicht weiter hinterfragt werden, aber womöglich wusste man es auch besser, was ich natürlich niemals erfahren würde. Solches zählte zu den Geheimnissen einer philippinischen Dorfgemeinschaft mit ihren komplexen Verwandtschafts-, Macht- und Abhängigkeitsverhältnissen, in die ein Fremder keinen Einblick bekam.

      Mit seltenen Ausnahmen. Zu diesen gehörte Father Joost, ein belgischer Priester, der eine kleine katholische Gemeinde auf der Insel Cebu betreute. Er war eine eindrucksvolle Persönlichkeit und ein hervorragender Kenner der philippinischen Pflanzenwelt, weshalb ich ihn des Öfteren besucht und so manchen anregenden Abend bei ihm verbracht hatte. Leider war er inzwischen von seinem obersten Herrn abberufen worden. Father Joost kannte nicht nur Pflanzen, sondern von der Beichte her auch mehrere Ehefrauen, die ihre Männer mittels Gift ins Jenseits befördert hatten. Dass keine dieser Taten je entdeckt wurde, war unter anderem auf die bestehende Rechtslage zurückzuführen. Auf den Philippinen kann eine Obduktion nur vorgenommen werden, wenn die Familie des Verstorbenen dies verlange oder dem zustimme. Dies gelte selbst dann, wenn die Umstände des Todes unklar seien, hatte Father Joost mir erklärt. Davon abgesehen war eine rechtsmedizinische Untersuchung, die zum Beispiel einen sauber ausgeführten Giftmord aufdecken konnte, mangels Experten und technischer Ausstattung auf den Philippinen kaum möglich. Insgesamt also sehr gute Voraussetzungen, jemanden ohne großes Risiko aus der Welt zu schaffen. – Wäre das eigentlich bei einem Ausländer auch so einfach, oder würde dessen Tod weitere Untersuchungen nach sich ziehen?

      Mit einem Mal wurde ich wieder munter. Nur mal angenommen, Butzmann würde ohne äußere Verletzungen tot aufgefunden. Dann würde die örtliche Polizei oder sonstige Offizielle auftauchen und die ganze Sache zu Protokoll nehmen, aber ansonsten wahrscheinlich erst mal nicht viel unternehmen. Ein Arzt, sofern verfügbar, könnte wohl den Tod Butzmanns, aber kaum die Ursache dafür bescheinigen. Anschließend müsste seine Frau oder sonst jemand wohl die Deutsche Botschaft in Manila informieren.

      Und dann? Was würde man mit seiner Leiche machen? Wahrscheinlich nach Deutschland überführen und eventuell obduzieren. Oder konnte man ihn auch einfach auf den Philippinen begraben? Keine Ahnung.

      Aber das könnte ich ja mal im Internet recherchieren. Ich rief die Startseite von Google auf und kratzte mich am Kopf. Und nach was sucht man jetzt am besten?