Manuel Biener

Darwins Prophezeiung


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berüht stieg ich in den Bus und traute mich nicht, sie noch einmal anzusehen.

      Es war später Nachmittag, als hinter einer letzten Bergkuppe das Tal mit den Reisterrassen erschien. In langsamer Fahrt steuerte der Bus den Hang hinunter seinem Ziel entgegen, dem Ort Banaue. Sein Anblick irritierte mich. Ich hatte ein idyllisches, kleines Dörfchen erwartet, das sich harmonisch in das Bild der grandiosen Landschaft einfügte. Was ich jetzt sah, erinnerte mich jedoch spontan an die Favelas von Rio. Lückenlos aneinander gebaute, schmutziggraue Betongebäude, teils mehrere Stockwerke hoch, bildeten die Silhouette des Ortskerns, der auf einen schmalen, steil abfallenden Hangrücken gequetscht war. Entlang der Straße und sonstwo in der Landschaft standen, anscheinend planlos errichtet, verschieden große Hütten und Häuser. Die meisten waren mit rostigen Blechdächern bedeckt, was den Eindruck, sich in einem Slum am Rande einer Großstadt zu befinden, noch verstärkte. Von den traditionellen kleinen Siedlungen der Ifugao, wie sie die Bilder im Reiseführer zeigten, war nichts zu sehen.

      Der Bus schwenkte auf den Marktplatz ein. Ich war ein wenig nervös und hoffte inständig, dass sich Butzmann nicht unter den Leuten befand, die dort wartend herumstanden. Ihm jetzt gleich zu begegnen, wäre denkbar ungünstig. Ich drückte mich in meinen Sitz und spähte vorsichtig hinaus. Kein Butzmann. Aber die herbe Schönheit hatte wirklich einen süßen Hintern. Ich stieg als letzter aus und nahm meine Reisetasche in Empfang, die inzwischen aus dem Gepäckfach ausgeladen worden war. Zügig strebte ich zurück zur Straße, an der sich irgendwo die Lodge befinden musste, die ich anhand meines Reiseführers als Bleibe ausgewählt hatte.

      Das Bett war ein Kasten aus Spanplatten mit einer dünnen Schaumstoffmatraze darauf. Ich legte mich hin und streckte die Beine aus, die sich nach der langen, unbequemen Fahrt schon fast taub anfühlten. Ich sollte jetzt anfangen, mir etwas konkretere Gedanken zu meinem weiteren Vorgehen zu machen. Die Vorstellung, dass ich Butzmann wahrscheinlich schon bald treffen würde, machte mich allmählich unruhig. Ihm sofort einen Besuch abzustatten nach dem Motto „ich schau` mir gerade die Reisterrassen an und hab gehört, dass Sie auch hier sind, da wollte ich doch wenigstens mal kurz hallo sagen“ wäre wohl keine so gute Idee. Ich sollte mich besser nicht gleich zu erkennen geben, sondern versuchen, etwas mehr über ihn und seine Lebensverhältnisse in Erfahrung zu bringen. Worum ging es in seinem Projekt, und was dachten die Bauern darüber? War er auch ab und zu mal unterwegs, und wenn ja, wo? Solche Dinge.

      Um mir davon ein Bild machen zu können, müsste ich ein wenig den Kontakt zu den Einheimischen suchen. Darin hatte ich ja Erfahrung. Ich wusste, wie man am besten mit ihnen ins Gespräch kommt und welche Scherze man machen muss, damit sie ihre Distanziertheit mir, dem Americano gegenüber, überwinden. Ein paar gelernte Worte auf Tagalog beziehungsweise Filipino, der Nationalsprache, kamen dabei immer gut an, obwohl man normalerweise auch problemlos auf Englisch, der zweiten Amtssprache, kommunizieren konnte. Ich müsste allerdings aufpassen, dass ich nicht zu direkt vorging. Es durfte keinesfalls der Eindruck entstehen, als wolle ich über Butzmann Erkundigungen einziehen. Ich sollte mich wie ein harmloser Tourist verhalten, der sich für die Kultur und den Reisanbau interessiert, und dabei die Unterhaltung in die gewünschte Richtung lenken. Damit sie von ganz alleine darauf kamen, mir von Butzmanns Projekt zu erzählen. Also nicht gezielt nach ihm fragen und bloß nicht seinen Namen erwähnen. Niemand sollte sich später daran erinnern können.

      Natürlich musste ich auch darauf gefasst sein, Butzmann zufällig irgendwo zu begegnen, was in so einem kleinen Ort nicht unwahrscheinlich war. Dann würde ich eben den Überraschten spielen. Aber es wäre natürlich besser, es selbst in der Hand zu haben. Zu gegebener Zeit. Wenn ich mich ein wenig umgehört hatte. – Okay. Mehr lässt sich im Moment nicht planen.

      Nach einer kalten, belebenden Dusche regte sich bei mir der Hunger und ich beschloss, diesen an einem der Garküchenstände, die ich am Marktplatz gesehen hatte, zu stillen. Außerdem wollte noch etwas Alkoholisches auftreiben, um mir dann mit dem Buch über Rilkes Leben und Werk den Abend in der kleinen Kammer so erträglich wie möglich zu gestalten.

      Als ich ins Freie tat, war es bereits dunkel. Die Luft war, im Vergleich zu der drückenden Schwüle in Manila, angenehm frisch und mit gefühlten 25 Grad vergleichsweise kühl. Ich überquerte den leeren Marktplatz und steuerte auf eine Reihe von spärlich beleuchteten Läden und Ständen zu, an denen sich Leben abspielte.

      Abrupt blieb ich stehen. Kein Zweifel, sie war es. Mir den Rücken zugekehrt, stand die herbe Schönheit an einer Esstheke und inspizierte den Inhalt der Töpfe und Schüsseln, aus denen man sich sein Menü zusammenstellen konnte. Ich schlug einen Bogen, um sie aus einem sicheren Winkel zu beobachten. War sie wirklich allein? Dann sollte ich mir diese Gelegenheit nicht entgehen lassen. Ich war allerdings noch ziemlich verunsichert wegen ihrer Reaktion am Mittag und wusste nicht so richtig, wie ich mich deshalb verhalten sollte. Soeben hatte sie sich mit einem Teller an einen der schmalen Holztische im Freien gesetzt. Ohne Begleitung.

      Einfach fragen, was sie mir zum Essen empfehlen könnte, beschloss ich und schlenderte los, da ich mich nun in ihrem Sichtfeld befand. Als mein Schatten auf sie fiel, blickte sie auf und lächelte mich an. Ein wenig spöttisch, wie mir schien.

      „Möchtest Du mir nicht Gesellschaft leisten? Ich esse ungern alleine.“ Sie machte eine einladende Geste.

      „Ja, klar, gerne!“ erwiderte ich eilig. „Ich, äh, hole mir auch noch schnell was.“ Mann, diese unglaublichen Augen, dachte ich nur, als ich mich blindlings zur Theke wandte. Abrupt wurde mein Hungergefühl von einem anderen biologischen Trieb unterdrückt und ich überlegte kurz, ob ich nur ein Bier trinken sollte, um bei der erwarteten Unterhaltung lockerer zu werden. Aber das würde vielleicht keinen guten Eindruck machen und wäre unhöflich. Ich hob den Deckel des ersten Topfes. Dessen Inhalt sah ich als so etwas wie eine geronnene Blutsuppe an. Im nächsten schwammen verkrampfte Hühnerfüße in der Brühe und aus dem Dritten drang ein penetranter Fischgeruch. Ich wählte schließlich eine vegetarische Komposition aus grünen Bohnen und Wasserspinat, zusammen mit der obligatorischen Portion Reis, und nahm mir noch eine kleine Flasche Wasser.

      Ich setzte mich ihr gegenüber. Jetzt sollte mir etwas Geistreiches einfallen. Tat es aber nicht.

      „Und was machst Du hier in Banaue?“ Ich bemühte mich um ein offenes Lächeln, damit meine Interessensbekundung nicht allein von diesem Satz geprägt wurde.

      „Was vermutest Du denn?“ fragte sie schnippisch zurück zwang mich damit zu einer weiteren Äußerung.

      Während ich mir etwas ausdachte, fiel mein Blick auf das kleine goldene Kreuz, das sie an einer dünnen Kette am Hals trug und durch ihre Bewegungen im Licht der nahen Gebäude immer wieder aufblitzte.

      „Zum Vergnügen wahrscheinlich nicht. Ich könnte mir vorstellen, dass du Ärztin bist. Oder Journalistin vielleicht?“

      „Sozialanthropologin“, verkündete sie ohne weitere Erklärung und schmunzelte. Sie spielte mit mir. Zu Recht ging sie davon aus, dass ich von diesem Berufsbild keine Ahnung hatte, aber diese Blöße durfte ich mir nicht geben. Ich nickte vermeintlich wissend. „Und jetzt machst du hier deine Arbeit“, sagte ich.

      Sie hielt den Kopf schief und lachte, weil sie mich durchschaut hatte. „Genau. Ich bin von der Diliman-Universität in Manila und mache eine Studie über die Reisbauern. Ich führe Interviews mit ihnen.“

      „Aha? Und was willst Du da wissen?“

      „Im Prinzip geht dabei um die Zukunft der Reisterrassen. Ich weiß nicht, inwieweit du darüber informiert bist, aber diese Region hier befindet sich in einem tiefgreifenden Umbruch. Ursprünglich lebten die Ifugao allein vom Reisanbau, der auch eng mit ihrer Kultur und allem was damit zusammenhängt, verbunden war. Dementsprechend wichtig waren natürlich die Reisterrassen, die mit hohem Aufwand bewirtschaftet und instand gehalten werden müssen. Die Wasserversorgung muss funktionieren, die Deiche ständig ausgebessert werden und so weiter.“

      „Ich war ziemlich überrascht, wie der Ort hier aussieht“, unterbrach ich sie. Das Thema interessierte mich. „Hier leben doch keine Reisbauern, oder?“ Ich wies auf die umliegenden Gebäude.

      „Stimmt. Das hat sich erst in den letzten Jahren bis Jahrzehnten so entwickelt. Ein Faktor dafür war der zunehmende