Franz Gnacy

Der Lebensweg - ein Werk von Leo Tolstoi


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Seele lebt in allem

       Alle lebenden Wesen sind durch ihre Körper voneinander getrennt; was ihnen aber Leben gibt, ist in allen ein und dasselbe.

       Das göttliche der Seele vereint die Menschen

      Die Lehre Christi offenbart den Menschen, dass in ihnen allen ein und dasselbe geistige Wesen lebt und dass sie alle Brüder sind, und vereint sie dadurch zu einem frohen Leben.

      Nicht genug, dass in jedem Menschen ebensolche Seele lebt, wie in mir: in jedem Menschen lebt vielmehr genau dasselbe wie in mir. Alle Menschen sind durch ihre Körper voneinander getrennt; durch das eine geistige Wesen aber, das allem Leben gibt, miteinander vereint.

      Mit den Menschen eins sein, ist ein großes Glück. Wie soll man es aber anfangen, mit allen eins zu werden? Ich vereinige mich mit meinen Angehörigen, aber wie mit den Übrigen? Vereinige mich mit meinen Freunden, mit allen Russen, allen Glaubensgenossen. Wie aber mit denen, die ich nicht kenne: mit anderen Völkern, Andersgläubigen? Es gibt so viele Menschen, und alle sind so verschieden. Was soll man da tun?

      Es gibt nur ein Mittel: die Menschen vergessen; nicht daran denken, wie man sich mit ihnen vereint, sondern nur darauf sein, mit dem einen geistigen Wesen eins zu werden, das in mir und allen Menschen lebt.

      Wenn man an die Millionen und Abermillionen Menschen denkt, die irgendwo, zehntausend Kilometer weit, ebensolches Leben führen wie ich, und von denen ich nichts weiß, und die von mir nichts wissen – so fragt man sich unwillkürlich: besteht wirklich ein Zusammenhang zwischen uns? Werden wir sterben, ohne etwas voneinander zu wissen? Das kann nicht sein!

      Tatsächlich: es kann nicht sein. Wie sonderbar es auch klingt – ich fühle und weiß, dass zwischen mir und allen Menschen in der Welt, Lebenden wie toten, ein Zusammenhang existiert.

      Worin dieser Zusammenhang besteht, kann ich nicht fassen und nicht sagen; ich weiß aber, dass er besteht.

      Ich erinnere mich, dass mir jemand sagte, in jedem Menschen existierten viele sehr gute, sehr menschenfreundliche Eigenschaften, aber auch sehr viel schlechte, viel Missgunst; und je nachdem, wie der Betreffende veranlagt sei, kämen bald die einen, bald die anderen Eigenschaften zum Vorschein. Das ist vollkommen richtig.

      Der Anblick fremder Leiden erweckt nicht nur in verschiedenen Menschen, sondern in ein und demselben Menschen oft ganz entgegen gesetzte Gefühle: bisweilen Mitleid, bisweilen aber auch etwas wie Vergnügen, das sich zeitweilig bis grausamer Schadenfreude steigert.

      Ich habe an mir bemerkt, dass ich auf alle Wesen bisweilen mit herzlichem Mitleid, bisweilen sehr gleichgültig, manchmal auch voll Hass und sogar Schadenfreude blicke.

      Das zeigt deutlich, dass wir zwei verschiedene Arten der Erkenntnis besitzen: die eine, wenn wir uns als Einzelwesen erkennen, wenn alle Wesen uns völlig fremd erscheinen, wenn sie alle „Nicht-Ich“ sind. Dann können wir gegen sie nichts anderes als Gleichgültigkeit, Neid, Hass, Schadensfreude empfinden. Die andere Erkenntnisart ist die mittels des Bewusstseins unserer Einheit mit allen. Bei dieser Erkenntnisart erscheinen uns alle Wesen ebenso, wie unser Ich; deswegen erweckt ihr Anblick in uns Liebe.

      Die eine Erkenntnisart trennt uns durch eine undurchdringliche Wand, die andere beseitigt die Wand und wir fließen in eins zusammen. Die eine Art lehrt uns erkennen, dass alle übrigen Wesen „Nicht-Ich“ sind; die andere lehrt, dass alle anderen Wesen ebensolche Ich sind, als welche ich mich erkenne.

      Je mehr jemand für seine Seele lebt, umso mehr fühlt er seine Einheit mit allen Lebewesen. Leb für deinen Körper, so bist du allein zwischen lauter Fremden; leb für deine Seele, so sind alle dir verwandt.

      Der Fluss gleich nicht dem Teich, der Teich nicht dem Fass, das Fass nicht der Kelle mit Wasser. Im Teich und Fluss, im Fass und in der Kelle ist aber ein und dasselbe Wasser. So sind auch alle Menschen verschieden; der Geist aber, der in ihnen lebt, ist in allen ein und derselbe.

      Nur dann versteht man sein Leben, wenn man in jedem Menschen sich selbst erblickt.

      Sprichst du mit jemandem und blickst ihm gerade in die Augen, so fühlst du dich mit ihm verwandt, fühlst gleichsam, dass du ihn schon längst gekannt hast. Woher rührt das? Daher, dass dasjenige, wodurch du lebst, in dir und ihm ein und dasselbe ist.

      In jedem Menschen lebt der Geist, der das höchste ist in der Welt; deswegen: was jemand im Leben auch sein mag: Würdenträger oder Sträfling, Bischof oder Bettler – alle sind gleich, weil in jedem lebt, was das Höchste in der Welt. Einen Würdenträger höher als einen Bettler schätzen und verehren ist gerade so, wie eine Goldmünze mehr als eine andere schätzen, weil die eine in weißes, die andere in schwarzes Papier eingewickelt ist. Wir müssen uns stets vergegenwärtigen, dass in jedem Menschen dieselbe Seele lebt, wie in uns, und dass wir deswegen mit allen Menschen gleichmäßig behutsam und respektvoll verkehren müssen.

      Das Wichtigste an der Lehre Christi ist, dass Er alle Menschen für Brüder erklärt. Er sah im Menschen den Bruder und liebte deswegen jeden, wie und wer er auch war. Christus sah nicht auf das Äußere, sondern auf das Innere. Er sah nicht auf den Körper, sondern Er erblickte durch den Putz des Reichen und die Lumpen des Bettlers die unsterbliche Seele. Im allerverkommensten Menschen erblickte Er etwas, das dieses gesunkene Wesen in den größten und heiligsten Menschen verwandeln konnte, einen ebenso großen und heiligen wie Er selbst war.

      Kinder sind klüger als Erwachsene. Ein Kind unterscheidet die Menschen nicht nach ihrem Beruf, fühlt aber mit ganzer Seele, dass in jedem Menschen lebt, was in ihm und allen Menschen ein und dasselbe ist.

      Wer nicht in jedem Nächsten denselben Geist spürt, der ihn selbst mit der ganzen Welt vereint, lebt wie im Traum. Nur der erwacht und lebt wirklich, der in jedem Nächsten sich und Gott sieht.

       Nicht nur in allen Menschen, sondern in allem Lebenden existiert ein und dasselbe göttliche Wesen

      Wir fühlen mit dem Herzen, dass das, wodurch wir leben, das, was wir unser Ich nennen, nicht nur in allen Menschen, sondern auch im Hunde, Pferde, in Mäusen, im Huhn, Sperling und in der Biene, sogar in Pflanzen ein und dasselbe ist.

      Wenn Vögel, Pferde, Hunde, Affen uns ganz fremd sind, warum sind es dann nicht auch Wilde, schwarze und gelbe Rassen? Wenn wir aber diese Leute für Fremde erklären, können sie mit demselben Recht die weißen Rassen als Fremde bezeichnen. Wer ist dann der Nächste? Hierauf gibt es nur eine Antwort: „Frag nicht, wer dein Nächster ist, sondern behandle alle Lebewesen so, wie du selbst behandelt werden möchtest.“

      Alles Lebende fürchtet Qualen, alles Lebende scheut den Tod; erkenne dich nicht nur im Menschen, sondern in jedem Lebewesen; töte nicht und verursache keine Leiden und Tod.

      Alles Lebendige will dasselbe wie du; erkenne dich in jedem Lebewesen.

      Der Mensch steht nicht deswegen über den Tieren, weil er sie quälen kann, sondern weil er imstande ist, Mitleid mit ihnen zu empfinden. Mitleid hat der Mensch mit Tieren, weil er fühlt, dass in ihnen ein und dasselbe Wesen lebt, wie in ihm selbst.

      Mitleid mit allem Lebenden ist die erste Voraussetzung der Tugend. Wer mitleidig ist, beleidigt und kränkt nicht, sondern verzeiht. Ein guter Mensch kann nicht unbarmherzig sein. Wer ungerecht und böse, ist sicher unbarmherzig. Ohne Mitleid mit allem Lebenden gibt es keine Tugend.

      Man kann sich das Mitleid abgewöhnen, das allen Menschen, Tieren gegenüber eigen ist. Das merkt man besonders auf der Jagd. Gute Menschen töten und quälen auf der Jagd Tiere, ohne eigene Grausamkeit zu bemerken.

      „Du sollst nicht töten“ bezieht sich nicht nur auf Menschen, sondern auf alle Lebewesen. Dieses Gebot ward dem Menschen früher ins Herz geschrieben, als auf die Gesetzestafeln.

      Die Menschen halten es nicht für schlecht, Tiere zu verzehren, weil sie überzeugt sind, Gott hätte es erlaubt. Das ist nicht wahr. In welchen Büchern auch immer steht, es sei keine Sünde, Tiere zu töten und zu