Franz Gnacy

Der Lebensweg - ein Werk von Leo Tolstoi


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Wir alle wissen das, wenn wir die Stimme des Gewissens in uns nicht ersticken.

      Wenn alle Die, die Tiere essen, diese Tiere selbst töten würden, würde die größere Hälfte der Menschen dem Fleischgenusse entsagen.

      Wir wundern uns darüber, dass es Leute gab und gibt, die Menschen töten, um ihr Fleisch zu essen. Die Zeit wird aber kommen, und unsere Nachkommen werden sich wundern, dass ihre Vorfahren jeden Tag Millionen Tiere töten, um sie zu essen, obgleich man sich gesund und schmackhaft, ohne Mord, vor Früchten der Erde ernähren kann.

      Man kann sich des Mitleids sogar gegen Menschen entwöhnen und sich andererseits an Mitleid mit Insekten gewöhnen.

      Je mitleidiger jemand ist, umso besser für seine Seele.

      Dasjenige, was in uns allen, in allen Menschen ein und dasselbe ist, fühlen wir sehr deutlich, dass dieses auch in Tieren vorhanden, fühlen wir schon nicht so deutlich. Noch weniger fühlen wir es in Insekten. Man braucht aber nur über das Leben dieser kleinsten Geschöpfe nachzudenken, so fühlt man, dass es auch in ihnen vorhanden ist.

      „Soll man aber wirklich keine Fliege, keinen Floh töten? Wir vernichten ja durch jede Bewegung unwillkürlich viele Wesen, die wir gar nicht wahrnehmen“ – sagt man gewöhnlich und glaubt dadurch die Grausamkeit gegen Tiere zu rechtfertigen. Wer so spricht, vergisst, dass dem Menschen in nichts Vollkommenheit gegeben ist. Man kann sich der Vollkommenheit nur nähren. Das ist auch beim Mitleid mit Tieren der Fall. Wir können nicht leben, ohne andere Wesen den Tod zu bringen; wir können aber mehr oder weniger mitleidig sein. Je mitleidiger wir mit allen Tieren sind, umso besser fährt unsere Seele dabei.

       Je besser das Leben der Menschen ist, umso klarer erkennen sie die Einheit des göttlichen Wesens, das in ihnen lebt

      Es scheint den Menschen, dass sie alle voneinander getrennt sind. Dabei könnte, wenn wirklich jeder Mensch nur sein Sonderleben führte, das Leben der Menschheit nicht länger dauern. Das Leben der Menschheit ist nur dadurch möglich, dass in allen Menschen ein und der Geist Gottes lebt, und dass sie das wissen.

      Einige Menschen glauben, dass nur die wirklich leben, dass sie – alles sind, alle übrigen aber – nichts. Solcher Leute gibt es viele. Es gibt aber auch Vernünftige und Gute, die einsehen, dass das Leben anderer Menschen, sogar das der Tiere an und für sich ebenso wichtig ist, wie das Ihrige. Solche Menschen leben nicht nur in ihrem Ich, sondern auch in anderen Menschen, sogar in Tieren. Solchen Menschen wird das Leben leicht und auch der Tod. Wenn sie sterben, stirbt in ihnen nur das, wodurch sie in sich lebten; das aber, wodurch sie in anderen lebten, bleibt. Denen, die nur in sich leben, wird das Leben zur Last und der Tod zur Qual, weil solche Leute beim Tode glauben, dass in ihnen alles stirb, wodurch sie lebten.

      Bedenkt, dass in jedem Menschen derselbe Geist lebt wie in dir, und verehre deshalb wie ein Heiligtum deine eigene Seele wie die jedes Menschen.

      Warum ist uns nach jedem Werk der Liebe so wohl ums Herz? Weil jedes derartige Werk uns darin bestärkt, dass unser wahres Ich nicht nur in unserer Persönlichkeit, sondern in allem Lebenden enthalten ist.

      Wenn du nur für dich lebst, lebst du nur mit einem winzigen Teil deines wahren Ich. Wenn du aber für andere lebst, fühlst du, wie dein Ich sich erweitert.

      Lebst du nur für dich, so wirst du dich wie unter Feinden fühlen, wirst bemerken, dass das Glück jedes anderen dein eigenes beeinträchtigt. Lebst du aber für andere, so fühlst du dich wie unter Freunden, und das Glück jedes anderen wird dein eigenes.

      Sein Glück findet der Mensch nur im Dienste des Nächsten. Er findet es deswegen nur im Nächstendienst, weil er sich selbst hierbei mit dem Geiste Gottes vereint, der im Nächsten lebt.

      Ganz verständlich wird uns der Geist Gottes, durch den wir leben, nur dann, wenn wir unsere Nächsten lieben.

      Jedes wahrhaft gute Werk, bei dem der Mensch sich selbst vergisst und nur an fremde Not denkt, ist etwas Wunderbares und Unerklärliches – wenn es uns nicht so natürlich und vertraut wäre. Tatsächlich, warum nimmt der Mensch Entbehrungen, Unruhe und Sorgen auf sich, nicht seinetwegen, sondern für jemanden, den er nicht kennt und deren es so viele in der Welt gibt? Man kann es sich nur so erklären, dass der, der nicht sich sondern anderen Gutes tut, weiß, dass derjenige, dem er Gutes tut, kein von ihm getrenntes, sondern dasselbe Wesen ist wie er, nur in anderer Gestalt.

      Alles, was wir erkennen, erkennen wir entweder durch unsere fünf Sinne, indem wir es sehen, hören, fühlen, schmecken, riechen, oder dadurch, dass wir uns in andere Wesen hineinversetzen, ihr Leben miterleben. Würden wir die Dinge nur durch unsere fünf Sinne erkennen, so wäre die Welt uns ganz unverständlich. Was wir von der Welt wissen, wissen wir nur daher, dass wir uns mittels der Liebe in andere Wesen hineinversetzen und ihr Leben miterleben. Durch den Körper sind die Menschen voneinander getrennt und können sich nicht verstehen. Die Liebe aber vereint alle. Und das ist ein großes Glück.

      Wer ein geistiges Leben führt, empfindet bei jeder Uneinigkeit mit anderen geistige Leiden. Wozu dienen diese Leiden? Wie körperlicher Schmerz dem Körper drohende Gefahren anzeigt, deute dieses seelische Leiden auf gefahren, die dem Seelenleben bedrohen.

      Ein indischer Weiser sagte: In dir, in mir, in allen Wesen lebt ein und derselbe Geist; du aber zürnst mir und liebst mich nicht. Wisse, dass wir eins sind. Wer du auch bist, du und ich sind – eins.

      Wie böse, ungerecht, dumm, unfreundlich jemand auch ist – denkt daran, dass sobald du aufhörst, ihn zu achten, du dadurch das Band nicht nur mit ihm, sondern mit der ganzen geistigen Welt zerreißt.

      Um mit anderen angenehm zu verkehren, denkt an das, was euch vereint, und nicht an das, was euch trennt.

      Es gilt als großer unverzeihlicher Fehler, Gegenstände der äußeren Verehrung anderer Menschen zu beschimpfen, gilt aber nicht als Fehler, einen Menschen selbst zu beschimpfen. Dabei lebt im Menschen, mag er noch so verdorben sein, etwas, was über allem äußeren Menschentum steht; alle Gegenstände äußerer Verehrung aber sind nur Produkte von Menschenhand.

      Leicht ist Kummer zu ertragen, wenn er nicht von Menschen, sondern von Krankheit, Feuer, Wassernot, Erdbeben herrührt. Besonderen Schmerz empfindet aber, wer durch Menschen, seine Brüder, leidet. Er weiß, dass die Menschen ihn lieben müssten; stattdessen quälen sie ihn. „Alle Menschen sind doch dasselbe, wie ich!“, denkt der Betreffende, „weshalb quälen sie mich also?“ Deswegen ist es leichter, Krankheit, Feuer, Dürre zu ertragen, als das Misswollen der Menschen.

       Folgen des Bewusstsein der seelischen Einheit in allen Menschen

      Verstehen wir unsere geistige Brüderschaft? Begreifen wir, dass ein und dasselbe göttliche Prinzip in der Seele aller Menschen, wie auch in der unsrigen ruht? Nein, wir verstehen das noch nicht. Dabei kann nur dieses eine uns wahre Freiheit und wahres Glück geben. Es kann und wird keine Freiheit und kein Glück geben, bis die Menschen nicht ihre Einheit begreifen. Dabei brauchten sie nur diese Grundwahrheit des Christentums, die Einheit des geistiges Wesen in allen, zu begreifen, so würde sich sofort das ganze Leben ändern und es würden Zustände eintreten, wie wir sie uns jetzt nicht vorstellen können. Dann würden die Kränkungen, Beleidigungen, Bedrückungen, die wir jetzt, ohne es zu bemerken, unseren Mitmenschen zufügen, uns mehr empören als gegenwärtig die größten Verbrechen. Ja, wir brauchen eine neue Offenbarung, nicht über das Paradies und die Hölle, sondern über den Geist, der in uns lebt.

      Wenn jemand sich durch Reichtum, Ehre, Rang vor anderen hervortun will, wird der Betreffende, mag er noch so hoch steigen, niemals zufrieden, nie ruhig und froh sein. Wenn er aber begreift, dass in ihm dasselbe göttliche Wesen lebt, wie in allen Menschen, wird er sofort ruhig und froh, weil er merkt, dass ihm etwas innewohnt, das alles andere in der Welt übertrifft.

      Je länger die Menschen leben, um so mehr begreifen sie, dass ihr Leben nur dann wahr und glücklich ist, wenn sie ihre Einheit in ein und demselben allen innewohnenden Geist anerkennen.

      Liebe