Franz Gnacy

Der Lebensweg - ein Werk von Leo Tolstoi


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Körper wünscht nur sich Gutes, selbst wenn es der Seele zum Schaden gereicht; und die Seele wünscht sich Gutes, selbst wenn es dem Körper Schaden bringt. Dieser Kampf endet erst dann, wenn man begreift, dass das Leben nicht im Körper, sondern in der Seele liegt und dass der Körper nur das Material ist, mit dem die Seele arbeitet.

      Wenn zwei Menschen von Moskau nach Kiew gehen, können sie noch so weit voneinander entfern sein – der eine kann dicht bei Kiew sein und der andere Moskau soeben verlassen haben – so gehen sie doch immer auf einen Punkt zu und treffen früher oder später zusammen. Wie nahe sich aber zwei Menschen auch sind – wenn einer nach Kiew, und der andere na Moskau geht, treffen sie sich niemals.

      So ist es mit allen Menschen. Der Heilige, der für sein Seelenheil lebt, und der aller schwächste und sündhafteste Mensch führen, wenn letzterer auch an seine Seele denkt, ein und dasselbe Leben, und treffen früher oder später zusammen. Wenn dagegen zwei Menschen zusammen leben, von denen einer seinen Körper pflegt, der andere an seine Seele denkt, so geraten sie immer weiter auseinander.

      Das Leben ist schwer, wenn man nicht weiß, wofür man lebt. Dabei gibt es Leute, die fest überzeugt sind, man könne das nicht wissen, ja die sogar mit diesem Nichtwissenkönnen prahlen.

      Dabei ist es leicht und unbedingt nötig zu wissen: der Sinn des Lebens liegt nur in einem: in stets zunehmender Befreiung der Seele vom Körper und ihrer Vereinigung mit anderen Wesen und mit dem Ursprung des All – mit Gott.

      Die Menschen glauben und sagen nur deswegen, sie wüssten das nicht, weil sie nicht so leben, wie nicht nur alle Weltweisen sie lehrten, sondern auch ihre eigene Vernunft und ihr Gewissen.

       Die Liebe ist den Menschen eigen

      Für Menschen ist es ebenso natürlich zu lieben, wie für das Wasser, von oben nach unten zu fließen.

      Um ihr Lebensgebot zu befolgen, muss die Biene fliegen, die Schlange kriechen, der Fisch schwimmen und der Mensch lieben. Wenn jemand, statt andere zu lieben, ihnen Böses tut, handelt er ebenso sonderbar, wie ein Vogel, der zu schwimmen, ein Fisch, der zu fliegen beginnt.

      Das Pferd rettet sich vor dem Feinde durch schnellen Lauf; es ist nicht dann unglücklich, wenn es nicht wie ein Hahn krähen kann, sondern wenn es einbüßt, was ihm verliehen ist: seine Schnelligkeit.

      Dem Hunde ist das Wertvollste die Witterung; er ist unglücklich, wenn er sie verliert, nicht, wenn er nicht fliegen kann.

      Genau so ist der Mensch nicht dann unglücklich, wenn er Bären oder Löwen, oder böse Menschen nicht bezwingen kann, sondern wenn er das Teuerste verliert, was ihm verliehen ist: seine geistige Natur, seine Fähigkeit zu lieben.

      Traurig ist nicht, wenn jemand stirbt, sein Geld verliert, sein Haus, seinen Besitz – alles das gehört dem Menschen nicht. Traurig ist dagegen, wenn jemand sein wahres Eigentum, sein höchstes Gut verliert: seine Fähigkeit, zu lieben.

      Als einem blinden, taubstummen Mädchen, das durch Tasten Lesen und Schreiben gelernt hatte, die Lehrerin erklärte, was die Liebe sei, sagte das Mädchen: Ich verstehe, es ist das, was die Menschen füreinander empfinden.

      Ein Weiser in China wurde gefragt: Was Wissenschaft sei? Er sagte: Menschen kennen.

      Er wurde gefragt: Was Tugend wäre? Er erwiderte: Menschen lieben.

      Alle Wesen haben nur einen richtigen Führer, das ist der Weltgeist, der jedes Wesen zu dem zwingt, was es muss. Dieser Geist befiehl dem Baum, der Sonne entgegen zu wachsen; der Blume, Samen zu tragen; dem Samen: auf die Erde zu fallen und zu keimen. Dem Menschen befiehlt dieser Geist, sich in Liebe mit andern Wesen zu vereinen.

      Ein indischer Weiser sagte: Wie eine Mutter ihr einziges Kind behütet, pflegt, es erzieht und bewahrt, so musst auch du und jeder Mensch das Teuerste, was es in der Welt gibt, pflegen, aufziehen und bewahren: das ist die Liebe zu andern Menschen und allem Lebenden. Das lehren alle Religionen: die brahmanische, buddhistische, jüdische, chinesische, christliche, mohammedanische. Deswegen ist das Notwendigste in der Welt: lieben lernen.

      Die Chinesen hatten die Weisen: Konfuzius, Lao-Tse und noch einen wenig bekannten Weisen: Mi-Ti. Mi-Ti lehrte, man müsse den Menschen Verehrung nicht der Kraft, nicht des Reichtums, nicht der Tapferkeit, sondern nur der Liebe einflößen. Er sagte: Man erzieht die Menschen derart, dass sie am allerhöchsten Reichtum und Ruhm schätzen, und sie bemühen sich, möglich viel Reichtum und Ruhm zu erlangen; man muss sie aber so erziehen, dass sie am höchsten die Liebe schätzen und am meisten danach trachten, sich an die Liebe zu anderen Menschen zu gewöhnen und alle Kraft darauf verwenden, Liebe zu lernen.

      Man hörte nicht auf Mi-Ti. Ein Schüler des Konfuzius, Mendse, disputierte mit Mit-Ti und sagte: man könne nicht durch Liebe allein leben. Die Chinesen hörten auf Mendse. Fünfhundert Jahre vergingen. Dann lehrte Christus die Menschen dasselbe wie Mi-Ti, aber noch besser, eindringlicher und klarer. Obgleich jetzt niemand mehr das Evangelium der Liebe bekämpf, erfüllen die Christen noch lange nicht Christi Gebot. Doch wird die Zeit kommen – sie ist schon nahe – wo die Menschen nicht anders können, als diese Lehre zu befolgen, weil sie allen ins Herz geschrieben ist und weil ihr Nichtbefolgen den Menschen immer größere Leiden verursacht.

      Die Menschen werden aufhören, sich zu streiten, Kriege zu führen, andere hinzurichten; sie werden sich gegenseitig lieben. Diese Zeit muss einmal kommen, weil jedem einzelnen nicht Hass, sondern Liebe zum Nächsten eingepflanzt ist.

      Lasst uns alles tun, was wir können, damit diese Zeit bald kommt.

       Nur die Liebe gibt wahres Glück

      Du wünscht Gutes? Du erhältst, was du wünscht, wenn du nach dem trachtest, was für alle gut ist. Das aber gibt nur die Liebe.

      „Wer sein Leben bewahren will, der verliert es; wer aber sein Leben um des Guten willen hingibt, der bewahrt es. Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewänne, und nähme doch Schaden an seiner Seele.“ So sprach Christus. Ebenso sprach ein Heide, der römische Kaiser Marc Aurel: „Warum wirst Du – sprach er mit sich – meine Seele, über den Körper herrschen? Wann befreist Du Dich von allen weltlichen Wünschen und Kummer und trachtest nicht mehr danach, dass die Menschen Dir auf Leben oder Tod dienen? Wann begreifst Du, dass das wahre Glück stets in Deiner Macht liegt, dass es nur in einem besteht: in der Liebe zu allen Menschen?“

      „Wer sagt, dass er im Licht ist, dabei aber seinen Bruder hasst, der ist noch in der Finsternis. Wer seinen Bruder liebt, der ist im Licht und kein Ärgernis ist in ihm. Wer aber seinen Bruder hasst, der ist in Finsternis und weiß nicht, wohin er geht, weil Finsternis ihm die Augen blendet … Lasst uns nicht mit Worten, oder mit der Zunge lieben, sondern in der Tat und in der Wahrheit. Daran erkennen wir, dass wir von der Wahrheit sind und besänftigen unsere Herzen.

      Ob die einen oder anderen Religionslehrer recht haben, weiß ich nicht und kann ich nicht wissen; das Beste, was ich tun kann, besteht darin, die Liebe in mir zu vermehren – das weiß ich sicher, daran kann ich nicht zweifeln. Ich kann deswegen nicht daran zweifeln, weil die Vermehrung der Liebe sofort mein Glück vergrößert.

      Wenn alle Menschen sich vereinigten, würde nicht mehr existieren, was wir für unser besonderes Leben halten, weil dieses nur stets zunehmende Vereinigung dessen ist, was sich entzweit hat. In diesem einen, in immer engerer Vereinigung dessen, was sich entzweit hat, besteht das wahre Leben und das wahre Lebensglück.

      Wir finden alles, nur uns selbst können wir nicht finden. Wunderbar! Die Menschen leben viele Jahre in der Welt und können nicht dahinter kommen, wann sie sich am wohlsten fühlen. Wer nur das weiß, dem wird schon klar, worin allein das wahre Glück besteht; ihm wird klar, dass es ihm nur dann gut geht, wenn in seiner Seele Liebe zu anderen Menschen wohnt.

      Wir denken offenbar wenig nach, dass wir das bis jetzt nicht wissen.

      Wir haben unseren Geist verdorben und bemühen uns deswegen nicht, zu erfahren, was wir allein nötig haben.

      Wenn