Hans W. Schumacher

Der Diplomatenkoffer


Скачать книгу

Sag’ nichts.“ Sie richteten sich auf, horchten auf die zischelnden Laute:

      „Geben Sie uns unser Geld zurück! Sie brauchen keine Angst zu haben. Es wird Ihnen nichts passieren.“

      Julio sah Danielle ernst in die Augen, schüttelte den Kopf, nahm vom Schreibtisch einen Notizblock und einen Stift und schrieb:

      „Er lügt. Die Mafia lässt niemals Zeugen am Leben, wir müssen verschwinden.“

      Sie ging auf Zehenspitzen zum Fenster, sah auf die Straße hinunter, kam zurück, und flüsterte ihm ins Ohr: „Wie denn? Draußen stehen drei Männer und schauen zu uns herauf.“

      Julio lief auf Zehenspitzen zum Fenster und sagte leise: „Ich sehe niemand.“

      „Aber eben waren sie noch da“, beteuerte sie.

      „Hilf mir!“ flüsterte er, packte den neben der Tür stehenden Kleiderschrank und schob ihn mit ihr vor den Einlass, während der Verfolger draußen ständig leise anpochte und heiser flüsterte. Julio griff in den Schrank, nahm seine persönlichen Papiere heraus, stopfte sie in eine Aktentasche, nahm sie zusammen mit der prall gefüllten Plastiktüte in die Linke, packte mit der anderen ihre Hand, zog sie in das winzige Badezimmer, sperrte die Tür hinter sich ab und fragte sie: „Bist du schwindelfrei?“

      Sie nickte, er wies auf ein Doppelfenster über der Toilettenspülung, stieg aufs Klo, dann auf ein Wasserrohr, langte nach oben, öffnete das Fenster, das in den Angeln knirschte, zog sich auf den Fensterrand, schwang beide Beine hinaus, fühlte rechts die eiserne Leiter unter den Füßen, stellte sich auf die Sprosse, reichte mit den Armen hinunter zu dem Mädchen, zog sie zu sich aufs Fensterbrett und zeigte ihr den Fluchtweg in dem dämmrigen Licht- und Entlüftungsschacht.

      „Wir können nach unten in die Küche oder nach oben aufs Dach steigen.“

      „Und wie kommen wir von der Küche auf die Straße?“

      „Das ist ja das Problem. Wir kämen vielleicht auf den Hof, aber ich weiß nicht, ob sie dort nicht schon lauern. Ich hoffe, sie ahnen nichts von dem Lichtschacht. Vom Dach aus könnten wir auf die Nachbarhäuser klettern und sehen, wo ein Fenster offen steht, oder eins einschlagen und öffnen.“

      „Also, gut, klettern wir rauf!“

      „Aber schau’ nicht unter dich!“

      Als Antwort lachte sie ihn herausfordernd an.

      Es war halsbrecherisch, aber nicht weit zum Oberlicht im vierten Stock. Julio öffnete es mit Hilfe des langen Hebels, der neben den obersten Stufen der Leiter angebracht war. Es kreischte leicht, ließ sich aber vollständig zurückklappen. Julio stieg aufs Dach, legte Aktentasche und Tüte neben sich, langte mit einem Arm in die Tiefe und half Danielle hinaus. Geduckt liefen sie über den flacheren Teil des Dachs an zahlreichen Schornsteinen vorbei und kletterten über ein Mäuerchen auf das danebenliegende Dach. Julio versuchte immer wieder vergeblich, Luken zu öffnen, so gelangten sie immer weiter, bis sie an der Ecke der Rue St. Jacques/Rue Soufflot ein offenes Mansardenfenster fanden, durch das sie in ein menschenleeres Treppenhaus hinunterklettern konnten. Engumschlungen huschten sie an der Kabine des Concierge vorbei und traten auf die Straße hinaus.

      Vor der Tür hielt gerade ein Taxi, ein Pärchen stieg aus, der Mann bezahlte den Fahrer. Julio bückte sich, schaute ins Innere und fragte, ob das Taxi frei sei. Er schob sich gerade hinter Danielle auf den Rücksitz, als ein junger Mann mit dunkler Lederjacke und Jeans um die Ecke bog, Julio bemerkte, einen schrillen Pfiff ausstieß und mit den Armen gestikulierend vor das anfahrende Taxi lief.

      Der Fahrer bremste, Julio schrie: „Fahren Sie! Los, fahren Sie!“ zog ein Päckchen Banknoten aus seiner Plastiktüte und warf es es ihm auf den Schoß. „Das gehört Ihnen, wenn Sie nicht anhalten!“

      „Also dann, auf ihn mit Gebrüll!“ erwiderte der Taxifahrer, nahm das Päckchen in die Linke, küsste es, gab Gas und fuhr hupend auf den Lederjackenmann zu, der versuchte, ihn mit ausgebreiteten Armen zum Stillstand zu bewegen, dann aber, die entschlossene Miene des alten Mannes am Steuer richtig deutend, im letzten Moment zur Seite sprang, sich umwandte und in die Rue St. Jacques zurücklief, wie Julio feststellte.

      „Ich muss Ihnen etwas erklären...“, sprach er den Taxifahrer an, ergriff Danielles schweißnasse Hand auf dem Polster neben sich und drückte sie beruhigend.

      „Lassen Sie das!“ sagte der alte Mann, „ich will nichts wissen, ich brauche auch nichts zu wissen. Sagen Sie nur, wohin ich fahren soll.“

      Sie passierten gerade das Pantheon, dessen von Scheinwerfern beleuchtete Kuppel gespenstisch weiß in den schwarzen Nachthimmel ragte.

      „Biegen Sie in die Rue d’Ulm ein“, befahl Julio, „und nehmen sie die erste Straße rechts, das ist, denk’ ich, die Rue Curie! Dann die erste links und die folgende wieder rechts, immer im Zickzack.“

      „Verstehe“, antwortete der Fahrer, bog mit kreischenden Reifen in die Rue d’Ulm ein, wischte um die nächste Ecke, indem er Julios Anweisungen folgte, bis dieser glaubte, mögliche Verfolger abgeschüttelt zu haben. Er ließ sich zum nächsten Taxistand auf der Place Denfert-Rochereau fahren, schaute sich lange um, ehe er Danielle das Zeichen gab, auszusteigen und verschwand sogleich mit ihr im nächsten Taxi, das ihn zum Montmartre brachte.

      Der alte Mann, der den spendablen Fahrgästen mit einem tiefen Diener die Tür geöffnet hatte, setzte sich an den Volant und blätterte glücklich zählend das Päckchen Banknoten durch. Er beschloss, seine Arbeit zu beenden, sich ein fürstliches Nachtmahl servieren zu lassen, dabei einer Flasche Champagner den Hals zu brechen und am nächsten Morgen bei seinem Taxiunternehmen zu kündigen.

      Julio kannte ein kleines Hotel gegenüber der Ambassade de Savoie in der Nähe der pittoresken Place du Tertre. Er hatte dort vor etlichen Jahren zusammen mit seinen Eltern einmal die Ferien verbracht und sich mit der Familie des Besitzers Dimitri Maiskys, eines russischen Immigranten, angefreundet. Seit er Lektor war, hatte er sich zwei Mal bei ihm sehen lassen und die alte Freundschaft mit seinem Sohn Eric erneuert.

      Der Besitzer, der zugleich Empfangschef, Koch und Hotelboy war, begrüßte ihn mit einer Umarmung, klopfte Julio väterlich auf den Rücken und lud ihn und seine Begleiterin zu einem Gläschen Rotwein ein.

      Es war aber schon ein Uhr nachts. Julio war von den Ereignissen des Tages so erschöpft, dass er ebenso wie Danielle nur noch schlafen wollte. Er wehrte deswegen die Fragen des Wirts nach der Ursache für die Bandagierung seines Kopfes ab und vertröstete ihn auf den nächsten Morgen. Sie ließen sich ihr Zimmer zeigen, fielen angezogen aufs Bett und schliefen auf der Stelle ein.

      Kapitel 5

      Umgeben von einer Gruppe Ermittlungsbeamter kämpfte sich Kommissar Renard mit seinem Assistenten Paul Lafitte die Müllhalde hinauf. Vor ihm stieg ein abgerissenes Individuum mit Rauschebart, langen grauen Haaren, schmutzigem Dufflecoat und schlammverkrusteten Stiefeln über leere Kartons, zerrissene Plastiktüten, verfaulendes Gemüse und Kartons voller Lumpen und zeigte ihnen zielsicher den Weg. In seinen Kreisen hieß er Dédé-sans-dents, das charakterisierte ihn hinreichend unter seinen Kollegen, die in der Nähe der stinkenden Abfallberge ihre provisorischen Wellblech- und Brettergehäuse errichtet hatten. Renard hatte noch nie erlebt, dass einer ihresgleichen der Polizei freiwillig einen Tipp gegeben hätte. Für den Fall, dass Dédé im Dienst des Gemeinwohls uneigennützig gehandelt haben sollte, hielt der Kommissar schon einen Zehn-Euro-Schein parat, den hätte der Mümmelmann verdient.

      Hoch über ihnen am Gipfel des Dreckgebirges zeichneten sich zwischen Schwärmen aufgescheuchter Möven die Silhouetten von Müllwagen und Raupenschleppern ab, die den Abfall planierten.

      Dédé blieb plötzlich stehen, schaute um sich, als habe er die Orientierung verloren, doch das war nicht der Fall, er wies nach links, wo ein halb im Müll versunkener Kleiderschrank lag; aus der zerbrochenen Tür ragte ein zusammengerollter Teppich und aus der Mitte der Rolle ragten zwei nackte Füße.

      „Danke“, sagte Renard, steckte Dédé den zusammengerollten Geldschein