Hans W. Schumacher

Der Diplomatenkoffer


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Ausgabe. „Politik und Moral“, tippte er als Überschrift.

      „Moral“, schrieb er weiter, „gleicht der Immunabwehr im Körper. Aber was dort unwillkürlich vor sich geht, wirkt im Geist allein durch bewusste Entscheidungen. Nur die Folgen der Immunschwäche sind wieder vergleichbar: Bei Aids wird der menschliche Körper zerstört, bei einem Moraldefizit der Staatskörper. Anfälligkeit für Korruption, das ist heute das HIV-Syndrom unserer politischen und administrativen Klasse.“

      Barre nickte befriedigt und sah an seinem Computer vorbei auf das Redaktionsbüro vor sich, das durch eine Glaswand von seinem Raum geschieden war. Ein Mittelgang, der von der Eingangstür direkt auf diesen zuführte, trennte den langen Saal in zwei Hälften, in denen die Arbeitstische durch Regale getrennt hintereinander rangierten. Gut drei Dutzend Redakteure, Reporter, Volontäre und Hilfskräfte arbeiteten an ihren Schreibgeräten oder standen, über einen Tisch gebeugt, diskutierend beisammen.

      Seit den ungeheuerlichen Ereignissen des 11. September 2001 und dem Krieg in Afghanistan hatte sich die Weltpolitik wieder etwas beruhigt, und Barre konnte sich in seinen Kommentaren wieder der Innenpolitik zuwenden, die sein Lieblingsressort war, denn da blühten die Skandale: Doping im Sport, illegale Parteispenden, gekaufte öffentliche Bauaufträge, verschwiegene BSE-Fälle, vergiftete Lebensmittel, was Barre, der gern und gut aß, besonders naheging.

      Er löschte den ersten Absatz seines Leitartikels und begann gegen seine Gewohnheit von vorn:

      „Machiavelli beurteilte die Menschen und ihre Handlungen nicht danach, wie sie sein sollten, sondern wie sie wirklich sind. Die Fürsten, sagte er, streben in allem, was sie tun, nach Machtgewinn und -erhalt und wenn sie sich moralisch verhalten, d.h. uneigennützig handeln, verlieren sie diese Macht. Da nun ein Fürst den Staat repräsentiert, steht und fällt mit ihm auch das Wohl des Staates. Um es zu fördern, muss also der Fürst verräterisch, wortbrüchig, lügnerisch und heuchlerisch sein, d.h. er muss der Staatsräson folgen, die höher steht als die individuelle Moral. Ja, es kann paradoxerweise sogar unmoralisch sein, sich moralisch zu verhalten, wenn das Wohl einer größeren Zahl von Menschen gegen das eines einzelnen gehalten wird. Muss man einem Geiselnehmer, der vielleicht schon jemand erschossen hat, um seinen Forderungen Nachdruck zu verleihen, das gegebene Wort halten, ihn mit seinen Opfern entkommen zu lassen? Ist es nicht unchristlicher, ihn nicht zu töten, als es ihm zu erlauben, noch weitere Unschuldige zu ermorden? Würde das Gebot ‚Du sollst nicht töten‘ unbedingt gelten, dann wäre jeder, der sich gegen einen Mörder wehrte, ein Sünder und bald wären die Unmenschen unter sich.

      Bedeutet das nun, dass Moral unwirksam ist? Keineswegs. Sie mag aktuell nicht helfen, aber sie besitzt für uns den zwingenden Wert einer Utopie. Es gibt sie nicht, sie muss erst noch werden. Wer uns diese Hoffnung nimmt, muss es büßen.“

      Barre lächelte etwas verwirrt über seine Schlussfolgerungen. Manchmal trieben ihn seine Gedanken als praeceptor populi in die seiner Absicht entgegengesetzte Richtung.

      „...muss es büßen wie Helmut Kohl, der einst gefeierte Kanzler unseres Nachbarlandes, als bekannt wurde, wie die ominösen Geldköfferchen mit gebündeltem Barem aus den Händen der Großindustriellen in die seiner Schatzmeister wechselten. War die öffentliche Empörung, die die Spendenskandale begleitete und die Christlich-demokratische Partei in das tiefste Loch ihrer Geschichte fallen ließ, nicht pure Heuchelei? Aber wie bei allen wirklichen Dingen muss die Antwort entschieden ‚Jein‘ lauten.“

      Barre löschte den letzten grotesken Satz und entwickelte den Gedanken klarer:

      „Geht man den Dingen auf den Grund, erscheinen sie immer paradox.

      Mochte die Empörung auch heuchlerisch sein - und sie war es bewiesenermaßen, weil die Richter selbst keine reine Weste hatten, wie sich später herausstellte - sie bewirkte immerhin, dass die illegalen Praktiken angeprangert und gesetzlich indiziert wurden. Ob sie dadurch verschwinden werden, ist jedoch die Frage. Wahrscheinlich wird man sie nur besser tarnen.

      Natürlich ist nicht alle Moral Heuchelei, denn es gibt gewiss eine Menge guter Menschen unter uns, die die zehn Gebote uneigennützig befolgen, auch wenn es ihnen zum eigenen Schaden gereicht. Ihr Schaden ist der Nutzen, den die anderen, die weniger skrupulös sind, daraus ziehen. Der Moralische, heißt es im Volksmund, ist immer der Dumme. Und nur im Märchen wird der anständige Dummling am Ende belohnt.

      Trotzdem kann sich kein Politiker erlauben, die Moral anzutasten. Wer sich früher zu Machiavelli bekannte, war geächtet. Aber vielen ist es gelungen, ihn öffentlich zu verleugnen, seine Maximen aber im Geheimen zu befolgen, allerdings nur so lange ihnen die Öffentlichkeit nicht auf die Schliche kam. Man kann zwar mit dem Predigen von Moral Wahlkämpfe gewinnen, aber mit ihr keine erfolgreiche Politik machen. Deswegen muss der Politiker vor allem ein Heuchler sein. Das elfte Gebot ,Sich nicht erwischen lassen’ ist seine Kardinaltugend. Anmerkung: Mitterands Rat an seine Untergebenen im Falle berechtigter Anschuldigungen lautete: Leugnen, leugnen, leugnen!“

      Barre schrieb und löschte, löschte und schrieb – zwischendurch beantwortete er Telefonanrufe oder ging mal dahin, wohin auch der Kaiser zu Fuß geht. Als er so in sich gekehrt dem stillen Örtchen zustrebte, folgten ihm die teils mitleidigen, teils belustigten Blicke seiner Redaktionsgenossen. Vor fünfundzwanzig Minuten würden sie ihn nicht wieder sehen. Barres Dauersitzungen waren bekannt. Tatsächlich aber erschien er wieder nach einer Viertelstunde mit zugleich gequälter wie befreiter Miene, setzte sich in sein gläsernes Séparé und bearbeitete weiter seinen PC.

      Aber er schien mit seinem Artikel nicht fertig zu werden. Das war für seine Mitarbeiter recht ungewohnt und verwirrend. Als die Zeit zum Mittagessen heranrückte, schrieb er den Schlusssatz, ohne sich um dessen gedanklichen Zusammenhang mit dem Vorhergehenden zu kümmern - denn er sah schon Jason Thíerry, den Herausgeber der Zeitung, nahen, mit dem er gewöhnlich zu speisen pflegte:

      „Nicht nur der Politiker ist ein Heuchler, sondern selbstverständlich auch sein Wähler: Er verlangt gerade das von ihm, was guter Politik im Wege steht, nämlich Glaubwürdigkeit. Das heißt Übermenschliches von ihm fordern: Der Politiker muss auch noch Glaubwürdigkeit heucheln können.“

      Thierry, der neben ihn gelangt war und über seine Schulter spähte, rief: „Bravo, mein Bester, ich sehe, Sie haben die Katze wieder einmal aus dem Sack gelassen. Darf ich noch den Anfang sehen?“ Barre ließ den Text gehorsam vor den Augen Thierrys über den Bildschirm laufen und weidete sich am amüsierten Mienenspiel seines Lesers.

      „Und was lernen wir daraus?“ fragte dieser im Stil eines Oberlehrers.

      „Nichts“, bekannte Barre zerknirscht.

      „Und das soll auf der ersten Seite stehen? Dann können wir sie ebenso gut leer lassen und sparen die Druckerschwärze.“

      „Es gibt einen Unterschied zwischen Nichts und absolut Nichts, ist Ihnen das schon einmal aufgefallen?“ erwiderte Barre, packte Thierry bei der Schulter und schob ihn grinsend zum Ausgang.

      Unterwegs zum Restaurant „Mille Ecus“, das in der Ecke der Place Giraud schräg gegenüber dem Verlagshaus lag, schlossen sich ihnen noch Hubert Brice, der Wirtschaftsredakteur und der Finanzmarktredakteur Jean-Pierre Sagan, der Schwiegersohn des Zeitungsbesitzers, an. Sie nahmen an dem für sie reservierten Tisch unter dem Vorbau Platz. Barre nickte Makoulian zu, der am Nebentisch mit seiner Frau Lisette und ihrem Mitarbeiter Strelitzer speiste. Die beiden letzteren waren für das Archiv verantwortlich.

      Im hellen Licht der Aprilsonne lag der Zeitungspalast vor Barres Augen. Das Gebäude war vor zehn Jahren renoviert und aufgestockt worden, um dem wachsenden Platzbedarf Genüge zu tun, der mit der zunehmenden Bedeutung des Blattes einherging. Diese war hauptsächlich Barres Verdienst. Er hatte in den fünfundzwanzig Jahren, in denen er an der Zeitung arbeitete, dafür gesorgt, dass aus einem Provinzblatt ein Organ wurde, das in einem Atemzug mit Le Monde und Figaro genannt wurde. Dementsprechend wurde er auch von den Mächtigen hofiert oder angefeindet. Sein Wahlspruch war: Victrix causa diis placuit sed victa Catoni. (Die siegreiche Sache gefällt den Göttern, aber die besiegte dem Cato.)

      Seine Sympathie galt den Unterlegenen und den Opfern der Zeitgeschichte, aber er wusste auch, dass die Niederlage häufig