Sabine Reimers

Blinde Passagiere


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Anleger des Kreuzfahrtschiffes „Amerigo“ in Genua hatte ausgezeichnet geklappt, der Flug von Berlin aus, dann weiter mit dem Transferbus der Kreuzfahrtgesellschaft. Nun würde der Traum Wirklichkeit werden. Alleine. Unter fast dreitausend Reisenden ganz alleine. Nur dem guten Zureden ihrer Tochter Anja verdankte sie den Mut dafür – und es tat ihr auch schon ein wenig leid, dass sie diesen Entschluss gefasst hatte.

      Aber nun war es soweit – es ging los. Zur Begrüßung servierte ein weiß gekleideter Kellner Champagner auf dem Aussichtsdeck. Die Nachmittagssonne schien vom strahlend blauen Himmel, Gäste saßen auf Deck, lehnten sich über die Reling oder spazierten von einer Seite zur anderen. Pärchen, Familien mit Kindern, wohin man sah. Wieder ein Schluck aus dem Champagnerglas.

      „Sicher lernst du jemanden kennen“, hatte Anja gesagt, „mal sehen, vielleicht eine neue Freundin, vielleicht einen Freund?“ Silvia hatte oberflächlich gelacht: „Mal sehen“. So weit weg von ihrer Tochter, so weit weg von Berlin, kam sie sich nicht gerade mutig vor, auch wenn sie sich sehr auf die Reise gefreut hatte. Zwölf Tage unter fremden Menschen – wie hatte sie das als Belohnung für die vergangenen Jahre und das Durchlebte sehen können? Ohne soziale Kontakte auf einem Luxusschiff voller glücklicher Paare und solcher, die es um jeden Preis werden wollten.

      Du wirst Spaß haben, ermahnte sie sich, die ersten Stunden sind immer die schlimmsten.

      Sie hatte auch schon das erste Ereignis hinter sich: Kaum, dass sie in ihrer Kabine angekommen war, ertönte eine Durchsage, dass jetzt gleich eine Rettungsübung erfolge und man die Unannehmlichkeiten entschuldigen möge. Silvia nahm anweisungsgemäß die Rettungsweste aus dem Schrank und legte sie an. Als sie den Raum verlassen hatte, durchdrangen schrille Signaltöne bereits jeden Winkel des Schiffes. Sie richtete sich nach den Hinweisschildern und fand sich mit den anderen Gästen an der Sammelstation, einem Platz auf dem hinteren Deckgang, ein. Ein Steward ging herum und hakte die Namen der Anwesenden von einer Liste ab. Es herrschte eine gelöste Stimmung, Familien machten Fotos voneinander, einige filmten das Ganze mit Kameras. Schnell gab es „Entwarnung“, und alle konnten zurückgehen. Als Silvia in ihre Kabine zurückkam, stopfte sie die Weste in den Schrank, bürstete sich das Haar und zwinkerte sich selbst im Spiegel zu. Kurz das Kleid zurechtzupfen und doch lieber die schwarze Strickjacke darüber ziehen – es war erst Anfang April und jetzt am Abend war es deutlich kühler als noch am sonnigen Nachmittag. Dann legte sie ihre Handtasche um und ging auf das Sonnendeck – zum Champagnerempfang.

      Sie sah von dort aus nach unten zum Bug: Eine Gruppe Männer mit schwarzen Sonnenbrillen lief entlang der Reling. Genau an der Reling entlang, jeder fasste mit der rechten Hand an das Gestänge. Sie gingen langsam zur Spitze des Bugs, so weit, wie man als Passagier gehen durfte. Eine eigenartige Truppe war das. Nun standen sie alle am Bug des Schiffes und einer von ihnen, der keine Sonnenbrille trug, hielt einen kleinen Vortrag mit weit ausladenden Gesten – denen die Blicke der anderen aber nicht folgten.

       Na, die machen wenigstens einen noch seltsameren Eindruck als ich .

      „Hallöchen, ick habe Sie schon im Flieger jesehen, och aus Berlin, wa’?“ Mein Albtraum wird wahr, dachte sie, da ist doch tatsächlich eine Berliner Schnauze dabei! Sie drehte sich um, lächelte: „Ja, ich bin auch von dort geflogen. Silvia Landwehr“, sie reichte der Unbekannten die Hand. Diese ergriff sie begeistert mit beiden Händen: „Irene Menken, man, det ist ja wat, det wir uns so schnelle kennenlernen. Ick hab‘ Sie von da drüben jesehen und dachte, man, die ist och alleene unterwegs, die sprichst du jetzt mal an!“

      Danke, dachte Silvia, kann die Frau nicht kurzsichtig sein? Ich hätte gerne noch ein wenig meine Melancholie und mein Selbstmitleid genossen.

      „Um sieben gibt’s Abendessen, na, da machen wir uns noch fein, wa’? Ist ja schon in eener Stunde! Ick seh’ Sie dann!“ Frau Menken drehte sich beschwingt weg und versetzte ihr einen jovialen Schulterklaps. Na, das befürchte ich, dachte Silvia und trank ihr Glas aus. Vorsichtig mit dem, was du dir wünschst – es könnte in Erfüllung gehen – der alte Konfuzius hatte wieder Recht behalten. Sie lächelte hinter Frau Irene Menken her. Wenn schon keine Tochter oder Freundin, dann wenigstens jemand, der sie nerven würde. Aber – vielleicht war das nur ein Vorurteil. Sie gab einem Steward das Glas zurück und stützte die Arme auf der Reling ab.

      Richtung Heck war der Hafen von Genua zu erkennen, dahinter die Hügel der Apenninen. Silvia stand zum Mittelmeer hin, zur offenen See, zum Abenteuer, das sie erwartete. Langsam fühlte sie sich wohler und freundete sich mit der Umgebung besser an. Sie schloss die Augen und sog die Meeresluft tief ein. Hafenmöven krächzten um das Schiff, stets auf der Suche nach dusseligen Touristen, die sie erst begeistert füttern und sich dann über die Kotkleckse beschweren würden. Die Stimmen der Menschen auf dem Deck verblassten, als sie sich auf das Meer konzentrierte. Leise hörte sie das Geräusch der Wellen, die erwartungsvoll gegen den Rumpf des Schiffes schwappten, als könnten sie es gar nicht erwarten, diesen endlich zu schultern und den fernen Zielen entgegenzutragen.

      Als das gewaltige Horn des Kreuzers mit drei lauten Tönen die gespannte Atmosphäre auf dem Deck zerriss, spürte sie, wie ein Ruck durch das Schiff ging. Die Motoren brummten nun deutlich hörbar, der Boden vibrierte und der Anleger schien sich zentimeterweise zu entfernen. Es ging los. Nun wurde der Entschluss Wirklichkeit, diese Reise alleine anzutreten, auch in letzter Sekunde nicht zu kneifen, nicht unter einem Vorwand doch noch von Bord zu gehen. Sie war unterwegs, es war ihre Traumreise. Zumindest hatte sie das ihren Kollegen erzählt. In Gesprächen mit Freunden waren dann eher die Herausforderung und das „Sich–beweisen–wollen“ Thema gewesen. Aber Anerkennung und vielleicht sogar Bewunderung hatte sie in jedem Fall erhalten.

       Nun bist du unterwegs, mach das Beste draus!

      Silvia nahm die Arme von der Reling und ging in die prachtvoll gestaltete Empfangshalle. Sie durchquerte die Lounge und fuhr mit dem Fahrstuhl auf ihr Kabinendeck.

      „Da machen wir uns noch fein, wa‘?“, wiederholte sie leise und lächelte. Frau Menken kannte sie schon beim Abendessen, so übel war das vielleicht doch nicht!

      Das Restaurant war so lichtdurchflutet, dass sich Silvia sofort wohlfühlte. Runde Tische mit jeweils acht Sitzplätzen standen in einer langen Reihe an der durchgehenden Fensterfront, rund um das Heck des Schiffes. Vier weitere Säle hätten zur Wahl gestanden, aber aus dem Bauch heraus hatte sie sich für das „Mari del Mondo“ entschieden, das ein Büfett bot. Es war gewaltig! An der Wandseite gab es eine riesige Theke mit lauter Köstlichkeiten. Es begann ganz links mit kleinen Appetithäppchen als Vorspeise, Kanapees, Gemüsespießchen, Fischstückchen, alles sehr liebevoll dekoriert. Dann setzte sich die Reihe mit drei verschiedenen Suppen und einer Auswahl an Brot– und Brötchensorten fort. Als Hauptgang gab es etliche Fleisch–, Fisch– und Gemüsegerichte, dazu alle erdenklichen Beilagen. Lächelnde Servicekräfte halfen den hungrigen Gästen, die Teller zu füllen und wünschten einen guten Appetit.

      Silvia fand einen freien Tisch, und setzte sich den Fenstern gegenüber, sodass sie den Blick auf das offene Meer hatte. Nur ganz am Rand der Fensterfront war noch ein schmaler Streifen der italienischen Küste zu erkennen. Diese Weite war so wohltuend. Das hatte sie sich erhofft, jeden Tag auf das endlos scheinende Meer zu blicken und die Ängste um Enge und Finsternis hinter sich lassen zu können.

      „Na, da haben wir uns ja wieder jefunden!“, Frau Menken konnte ihr Glück kaum fassen. Silvia nickte belustigt und bot ihr den Platz neben sich an.

      Ein älteres Ehepaar setzte sich nach höflicher Anfrage auch noch an den Tisch, ebenso eine Familie mit einem kleinen Sohn.

      „Nee, wa’, gucken Sie mal, die Sonnenbrillenträger wieder … hab’ ick vorhin schon jesehen … wat für Bekloppte, ‘ne?“

      Die Gruppe von vierzehn Männern, davon elf mit Sonnenbrillen, betrat das Restaurant. Sie nahmen gleich an den ersten beiden Tischen Platz. An der Art ihrer tastenden Bewegungen und dem vorsichtigen Setzen erkannte Silvia den Grund für die Brillen: „Das sind Blinde! Ein Gruppe Blinder auf einer Mittelmeerkreuzfahrt – erstaunlich, oder?“ Frau Menken schien es die Sprache verschlagen zu haben. Sie starrte so intensiv zu den Männern hin,