Sabine Reimers

Blinde Passagiere


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meinen Schädel noch kräftiger auf die Brust. Er beginnt heftig zu atmen und befriedigt sich deutlich hörbar. Was wird er tun, wenn er fertig ist? Lässt er mich dann laufen? Ich beginne zu hoffen und zu beten. Kurz bevor seine Erregung ihren Höhepunkt findet, lässt er meinen Kopf los, ich bin erleichtert. Es ist überstanden. Ich bin erlöst! Dann … sehe ich von oben auf mich selbst herab. Er ejakuliert auf den Fußboden und stöhnt ein letztes Mal laut auf. Aus meinem Nacken ragt genau aus der Stelle, die er so fest gedrückt hatte, ein Messergriff aus geschnitztem Holz. Es tut nicht weh. Nichts tut mehr weh. Ich spüre keine Schmerzen mehr und die Angst ist auch weg. Ruhe und Frieden stellen sich ein. Endlose Liebe zu meinem Mann, meinem Schatz. Dann verlasse ich diesen Ort.

      Es war heiß in Rom und wie immer voller Touristen. Silvia gönnte sich ein großes „Gelato“ aus einer der zahlreichen Eisdielen mit ihrer sensationellen Auswahl. Dann setzte sie sich auf die Spanische Treppe, um dem Treiben in der Stadt aus sicherer Distanz zuzusehen. Eine Filmszene aus einem alten Hollywoodstreifen kam ihr in den Sinn: Audrey Hepburn auf eben diesen Stufen als geflohene Prinzessin und Gregory Peck setzt sich zu ihr ... Nun, für sie war kein Traummann mit starken Muskeln in Sicht ... Bin mir auch nicht sicher, ob ich das möchte. Als ich das letzte Mal dachte, meinen Prinzen getroffen zu haben, hat das ganz böse geendet. So etwas brauche ich eigentlich nicht wieder. Auf diese Weise jedenfalls nie mehr.

      „Sie sollten nicht so kompromisslos in die Zukunft sehen. Es kann gut sein, dass, wenn alles passt, auch wieder eine neue Beziehung im Raum steht“, Silvia glaubte die Stimme ihrer Therapeutin zu hören, „da werden dann Ihre Zweifel und Ihre alten Verletzungen nicht mehr im Wege stehen. Öffnen Sie sich Ihrem Glück!“

      Silvia atmete tief durch und beschloss in Gedanken das Thema zu wechseln. Olle Kamellen! Wenn der Traumprinz auf einem Traumschimmel angeritten käme, würde sie schon auf ihn zugehen – um ihm zu sagen, dass sie Angst vor Pferden habe.

      Sie bummelte noch durch die Stadt und sah sich in Boutiquen ein wenig um. Wenn sie jetzt ein Souvenir für ihre Tochter Anja fände, könnte sie dieses wichtige Thema gleich abhaken.

      In einem kleinen Geschäft an einer Straßenecke fand sie einen Kleiderständer mit Seidenschals in allen Farben. Die würden ihrer Tochter gefallen! Sie wählte einen Schal aus, auf dem viele kräftige Farbtöne in einem Wirbel zusammenliefen. Eigentlich war er wirklich sehr, sehr schön ... und zu den bevorzugt grauen und schwarzen Oberteilen, die sie selber gerne trug, würde er ausgezeichnet aussehen.

       Mal ein bisschen mehr Farbe, wäre nicht schlecht. Mal ein bisschen gewagter.

      Sie lächelte und suchte einen weiteren Schal für Anja aus, mit ähnlichem Farbenspiel, aber ein ruhigeres Muster. Den „Wirbelschal“ legte sie sich gleich um die Schultern, um ihr graues Top aufzupeppen. Im Spiegel sah das richtig gut aus.

      Beschwingt von ihrem Shoppingerfolg fuhr sie zum Bahnhof zurück, um den nächsten Zug nach Civitavecchia zu nehmen. Noch war der Zug fast leer, die meisten kosteten die Zeit in der „Ewigen Stadt“ bis zum Ende aus.

      Sie ging zurück auf die „Amerigo“ und suchte ihre Kabine auf. Das riesige Schiff wirkte wie ausgestorben.

      Es war so herrlich warm an diesem Nachmittag, sodass sie sich ihren Badeanzug anzog, ihren Schmöker mitnahm und zum Swimmingpool auf das Oberdeck ging.

      Das Deck war recht gut besucht, aber nicht überfüllt.

      Erstaunt sah sie den weißen Taststock eines Blinden am Rand liegen. Sein Besitzer, den sie an der schwarzen Sonnenbrille erkannte, zog gleichmäßig seine Bahnen.

      Sie ließ sich ins Wasser gleiten und begann zu schwimmen. Sie genoss es, herrlich, das warme Wasser, die angenehme Luft. Schließlich legte sie sich dann auf einen der Liegestühle und holte ihr Buch hervor.

      Nach einiger Zeit blickte Silvia hoch und sah, wie sich der Blinde aus dem Wasser zog und nach seinem Stock zu tasten begann – aber in die falsche Richtung unterwegs war. Sie sprang auf, ergriff den langen Stab und reichte ihn dem Mann. „Bitte sehr!“ Er lächelte ihr zu.

      „Danke! Da muss ich jetzt eine andere Treppe genommen haben als zuerst beim Einstieg. Dann wird’s schon schwierig. Tobias Pflüger ist mein Name. Ich danke Ihnen!“ Er hielt ihr seine Hand hin.

      „Silvia Landwehr. Hab’ ich gerne gemacht!“ Sie ergriff seine Hand und er legte seine andere auf ihre und strich darüber, tastend und fühlend. Irgendwie war ihr die Berührung unangenehm und sie zog die Hand zurück. „Dann bis später!“

      „Ja, bis später!“ Er ging mit seinem Stock bis zu einem Liegestuhl, nahm den Bademantel, der darauf lag und ging von Deck.

       Schon beeindruckend, wie schnell und selbstsicher er geht, nachdem er seinen Taststock zurückhat.

      Als es Zeit für das Abendessen wurde, fanden sich alle wieder im Speisesaal ein. Viel wurde geredet, Erlebnisse und Eindrücke wurden ausgetauscht und Tipps für den nächsten Rombesuch, wann auch immer er stattfände, großzügig vergeben.

      Silvia hörte zu und fühlte sich nach dem guten Essen plötzlich sehr müde und träge. Ein wenig Ruhe in der Kabine würde ihr guttun.

      Als sie auf dem Weg zu ihrem Deck war, bekam sie mit, wie ein Steward zu einem anderen sagte: „Ich weiß es auch nicht. Vielleicht ist sie in Rom ausgestiegen?“

      „Was sollte sie da? Sie konnte weder Englisch noch Italienisch. Rodrigo ist verzweifelt, er glaubt nicht, dass seine Frau getürmt ist und ihn verlassen hat. Heute Morgen haben sie noch gemeinsam gefrühstückt. Sie hatte Zimmerdienst, aber du weißt ja wie das ist, man geht von Zimmer zu Zimmer, je nachdem wie die Leute ihre Kabinen verlassen. Daher wissen wir nicht, wo sie war oder ob sie überhaupt angefangen hatte. Jetzt ist sie einfach weg, wie vom Erdboden verschluckt! Ich habe ihm geholfen, alles abzusuchen, auch ihre Freundin Natalia hat überall geguckt!“ „Vielleicht klärt sich das noch, vielleicht sind sie auch schon längst wieder zusammen. Beide haben ja ein ordentlich heißblütiges spanisches Temperament, kann ja sein, dass da auch mal ein heftiger Streit stattfindet. Wahrscheinlich wollte sie ihn nur schocken, indem sie sich versteckt, damit er sich Sorgen macht!“

      Seltsam, dachte Silvia, das habe ich doch so ähnlich schon mal gehört. Die haben wohl Schwierigkeiten, ihr Personal zusammenzuhalten. Vielleicht ist das auch nicht einfach, so viele Menschen aus vielen verschiedenen Nationen.

      Sie erreichte ihre Kabine und setzte sich auf den kleinen Balkon. Von hier aus konnte sie gut sehen, wie sich die Küste der Region Lazio immer weiter entfernte. Der Himmel war aus einem tiefen Blau gespannt. Erste Sterne glitzerten auf und flackerten. Das Meer zeigte leichte, weiße Schaumkrönchen und das Land war als dunkler Strich zu erkennen. In der Ferne leuchteten die Lichter kleiner Siedlungen und Städte.

       Bevor ich jetzt schon um neun einschlafe, gehe ich noch auf einen Abendschluck in die Bar.

      Sie raffte sich auf und legte sich das neu erworbene, bunte Tuch um die Schultern.

      Für das Abendentertainment gab es etliche Gelegenheiten, Silvia hatte Lust, heute Abend den irischen Pub kennenzulernen, das verhieß Gemütlichkeit und gute Musik.

      Als sie den Raum betrat, sah sie ihre Erwartungen noch übertroffen: Der Saal lag Richtung Bug des Schiffes und drei Viertel der Wände waren verglast, man sah auf das Meer, jetzt natürlich in die Dunkelheit, hinaus. Die Fensterfront war mit der Form des Bugs leicht oval geschwungen. In der Mitte des großen Raumes war eine ebenfalls ovale Theke, die von allen Seiten Zugang bot, und an der zwanzig Menschen an jeder Seite gut Platz finden konnten. In ihrer Mitte stand ein großes Regal mit Getränken aller Art. Um die Theke verstreut standen kleine Sofas, die bis zu vier Personen Platz boten, dazu gemütliche Sessel und Stühle, die allesamt mit braunem Leder bezogen waren. Dazwischen gab es Tischchen aus dunklem Holz, mit leuchtenden Windlichtern im Tiffany–Stil. Am der Wand entlang, die nicht zur Fensterfront gehörte, boten kleine Nischen, durch holzgetäfelte Wände abgeteilt, bis zu vier Personen auch die Möglichkeit eines Rückzugs. Alles strahlte wirklich die urige Gemütlichkeit eines irischen Pubs aus.

      Ein