Sabine Reimers

Blinde Passagiere


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angenehm sich das anfühlte.

      Vorsichtig legte er das aufgeschnittene Haargummi in die kleine Pappschachtel, in der schon der Knopf vom Steward lag.

      Er verspürte wieder diese unglaubliche Ruhe und Befriedigung. Wieder hatte er geholfen, ihr, die ihm so nett die Kabine zurechtgemacht hatte. So nett. So nett, dass seine Freunde gesagt hatten, dass ihre Nettigkeit ein Zeichen sein musste.

      Seine Freunde sollten stolz auf ihn sein.

      Wieder schnitt er den benötigten Bindfaden ab, brachte die Kleidung der Cabin Stewardess in Ordnung, nahm Stück für Stück und legte sie ordentlich zusammen. Zwischen der Hose und der Bluse der kleinen Spanierin schob er das Werk „Roter Drache“.

      Wieder ging er in das Badezimmer und genoss die Pflege seines Gefährten. Er reinigte ihn, er lobte ihn. Stolz und dankbar blitzte der Dolch in seiner Hand, glücklich über die guten Taten, die er, von fester Hand geführt, vollbrachte. Wieder ein leichtes Einölen, damit sein Kamerad seine Eleganz und Leichtigkeit nicht verlieren würde. Er berührte ihn vorsichtig mit den Lippen, nur ganz sanft, um die Kühle der Klinge zu spüren, mit dem Zittern seines Atems die Schärfe zu fühlen. Dann schob er ihn in das Lederetui und versteckte ihn in seinem Koffer, in der kleinen Innentasche.

      Danach war es Zeit zu warten, bis es so weit war und die kleine, leichte Frau dem Meer anvertraut werden konnte ...

      Tag drei von zwölf

      Um sechs klingelte der Wecker. Draußen war es noch dämmrig. Silvia beschloss wegen der anstehenden Ätna–Wanderung statt des Lauftrainings heute früh lieber schwimmen zu gehen.

      Auf dem Sonnendeck war niemand. Im Osten schimmerte ein schmales gelbes Band am Himmel.

      Während jeder Bahn, die Silvia zog, wurde das Band breiter. Es änderte seine Farbe in helles Silber, dann in Gold, bis schließlich die Sonne über den Horizont trat. Sie zog sich am Beckenrand hoch und legte sich den Bademantel um.

      Im Frühstückssaal wurde sie freundlich von Sebastian und Manfred im Kreise ihrer Gruppe begrüßt.

      „Wir haben es gestern versäumt, alle vorzustellen, das war ja blöd von uns. Aber das holen wir jetzt nach!“ Er sah aufmunternd in die Runde. Jeden der sechs blinden Männer am Tisch („Die anderen kommen mal wieder nicht aus den Federn“) stellte er kurz vor und Silvia schüttelte alle ausgestreckten Hände. Sie erfuhr, mit einem ganz leisen Kribbeln im Bauch, dass der bärtige Mann Frank hieß. Frank Hildendörfler. Er lächelte, als sie seine Hand fasste.

      Tobias Pflüger kannte sie bereits. Er legte sofort wieder seine linke Hand über ihre rechte und schien sie durch seine dunkle Brille hindurch mit seinem Blick zu durchbohren. Sie zog die Hand schnell zurück, das war ihr unangenehm.

      Die anderen Blinden winkten ihr nur kurz über den Tisch zu, als Sebastian sie als „Lüder, unsere Frohnatur“, „der stille Uwe“ und „Klaus und Alex, die Sportskanonen“, vorstellte.

      Auf den Ätna würden Manfred und Sebastian als Begleiter mitkommen, nicht Christian, der, so Basti: „im Zitronenhain schnuppern geht.“

      Ebenso gehörten Frank, Tobias, Klaus und Alex mit zu der kleinen Expedition. Alex und Klaus fielen Silvia aufgrund ihrer Größe, aber auch durch ihre Muskeln auf: Unter den eng anliegenden T–Shirts waren deutliche Sixpacks zu erkennen.

      Silvia warf der Runde noch ein „Bis nachher dann“ zu, dann ging sie zu ihrem Tisch weiter.

      Sie setzte sich an ihren schon fast angestammten Platz, an dem auch nur einige Minuten später Frau Menken eintraf, die ihr einen Morgengruß zuwarf, um dann gleich zum Thema zu kommen: „Gehen Sie ooch auf den Vulkan rauf?“ Irene Menkens Augen leuchteten.

      „Ja, ich freue mich darauf besonders!“

      „Ick ooch. Det wird ein Abenteuer!“

       Na, prima, mit Frau Menkens Geschnatter durch den Tag. Aber der Vulkan ist hoch, 3.000 Meter, da ist die Luft ja dünner. Vielleicht verstummt dann ihr Redefluss mal.

      „Wir nehmen auch an der Führung teil.“ Frau und Herr von Waldensrieth erschienen mit übervollen Tellern vom Frühstücksbüfett. Offenbar hatten sie die kleine Unterhaltung mitbekommen.

      „Schön“, sagte Silvia freundlich, „nebenan am Tisch, dort sitzt die Gruppe der blinden Männer. Einige von ihnen werden auch teilnehmen. Ich finde das bemerkenswert!“

      Herr von Waldensrieth zog verächtlich seine Augenbrauen in die Höhe. „Ich bin weniger beeindruckt. Weshalb sollte ein Mensch, der nicht sehen kann, das tun? Er hat nichts davon. Nimmt nur die Zeit und Fürsorge von Sehenden in Anspruch, die ihrerseits dann weit weniger davon haben. Also für mich ist das ein äußerst egoistisches, einseitiges und zweifelhaftes Unterfangen.“ Er biss herzhaft in eine Brötchenhälfte, die mit Lachsscheibchen lückenlos bedeckt war.

      „Ich finde es beeindruckend, wenn man sich trotz seiner Behinderung Träume bewahrt und diese dann auch umsetzt und lebt.“ Silvias Stimme klang etwas trotzig.

      „Ja, es stellt sich nur die Frage, welchen Preis man anderen zumuten darf! Ich würde das nicht machen, Blinde den Berg hoch– und runterzuzergeln, nur damit sie sagen können, sie wären auch mal oben gewesen.“

      „Na, da sind wir wohl unterschiedlicher Meinung. Aber von uns muss das ja keiner tun, sie haben ja ihre eigenen Führer dabei.“ Sie konnte nicht ahnen, wie als wie falsch ihre Annahme sich erweisen würde.

      Nach dem Frühstück musste Silvia sich beeilen: Schnell die Wandersachen angezogen, feste, knöchelhohe Schuhe und ab zum Bus, der sie zum Ätna bringen sollte.

      Auf der eineinhalbstündigen Busfahrt wurde Silvia fast erschlagen von den Eindrücken. Sie war bisher nie auf Sizilien gewesen und fragte sich, ob sie einen Fehler gemacht hatte, die Ätna–Wanderung gebucht zu haben.

      Die herrliche Stadt Catania zog am Fenster vorüber, schöne alte verwinkelte Gassen, deren Nischen und dunkle Öffnungen Einladungen zum Erkunden aussprachen. Kleine, typische italienische Lädchen mit verlockenden Schaufenstern ... Leider viel zu schnell war der Bus aus den Siedlungen heraus und sie fuhren durch Plantagen aus Zitronenbäumen. Wie muss das duften! Etwas neidisch dachte sie an den anderen Tross mit den Blinden, die einen Zitronenhain besichtigen würden. Dann veränderte sich die Landschaft schlagartig und Silvia wusste, dass sie keinen Fehler gemacht hatte.

      Gerade noch war alles blühend, grün und wirkte lebendig, plötzlich war sie in einer anderen Welt. Wie eine Mondlandschaft dehnten sich die graue Lava und die Schlackehänge des Ätnas aus, so weit sie aus dem Bus sehen konnte. Auch die Straße veränderte sich, statt auf dem ruhigen und gewohnten Asphalt fuhr der Bus nun auf erstarrtem Lavagestein deutlich unruhiger und holpriger. Bald kam die Talstation einer Seilbahn in Sicht. Der Bus hielt und alle stiegen aus. Obwohl sie nur eine kleine Gruppe von zwölf Leuten waren, warteten bereits zwei Führer auf sie. Einer von ihnen wandte sich sofort Sebastian, Manfred und ihren vier Begleitern zu.

      Der andere „guida del vulcano“ ging auf Silvias Grüppchen, das sich vor dem Bus platziert hatte, zu. Er sprach gut Deutsch, mit der attraktiven italienischen Melodie:

      „Na, alle gut angekommen? Ich bin Gianni, dort ist mein Kollege Massimo und wir führen Sie heute in die aufregende Welt des Ätnas. Wir fahren jetzt mit der Seilbahn, das dauert eine Viertelstunde, dann geht es weiter mit Geländewagen. Von der „Torre del Filosofo“ aus wandern wir dann los. Die Wettervorhersage ist sehr gut, aber das muss nichts heißen, hier oben wechselt das Wetter schneller, als das Internet nachkommt. Sie haben alle feste Schuhe an, keine High Heels?“, er grinste Silvia an. „Sie würden kaum glauben, was man hier so jeden Tag sieht.“ Silvia lächelte zurück.

      Sie betraten eine Gondel der Seilbahn und Frau Menken setzte sich neben Silvia. Der Bergführer Gianni stieg bei ihnen ein. Das Ehepaar von Waldensrieth nahm lieber die nächste Kabine der Bahn.

      „Det is’ wat, oder? Wie aufregend! Ein echter