Sabine Reimers

Blinde Passagiere


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Jetzt geht es auf diesem festgetretenen Pfad weiter, da kommen wir besser voran. Wir brauchen nur noch eine halbe Stunde bis zu den Geländewagen, das schaffen wir doch!“ Er sah aufmunternd in die Runde.

      „Klar, und das bei bester Unterhaltung!“ Frank grinste.

      Von fern hörten sie das Knattern eines Hubschraubers. Massimo atmete hörbar aus: „Gott sei Dank, der Helikopter kommt. Sah ja furchtbar aus! So was habe ich noch nie erlebt. Schon mal den einen oder anderen Bänderriss, verstauchte Knöchel, aber so einen Bruch, meine Güte.“

      Er drängte zum Aufbruch. Die Gruppe setzte sich in Bewegung. Jetzt auf dem befestigten Weg waren sie deutlich schneller.

      Als sie die Bergstation nach der Fahrt in den Unimogs erreichten, war der Hubschrauber wieder abgeflogen. Sebastian sprach mit dem Bergführer und wartete auf sie.

      Worte der gegenseitigen Anerkennung und Dankesbezeugungen wurden gewechselt, dann stiegen sie in die Gondeln der Seilbahn ein.

      An der Talstation stand ihr Bus, der sie zum Schiff zurückbrachte. Kurz vor dem Einsteigen nahm Tobias Pflüger wieder Silvias Hand und strich über sie: „Ich danke für die Hilfe und hoffe, dass ich mich irgendwann revanchieren kann.“

      „Kein Problem, das habe ich doch gerne gemacht.“ Silvia war verwirrt. Seltsamer Mann.

      „Ich danke auch“, Frank war an sie herangetreten, „aber statt darauf zu warten, dass ich Sie auch mal einen Berg hinunterführen darf, lade ich Sie und Frau Menken heute Abend herzlich zu einem Glas Rotwein in die irische Bar ein!“

      „Det is mal‘n Wort, da sagen wa glatt zu, wat, Frau Landwehr?“ Irene war begeistert und Silvia freute sich über die Einladung. Sie sah Frank lächeln und dabei fühlte sie ein angenehmes Kribbeln in ihrer Bauchgegend.

      Sie betraten den Bus und genossen, erschöpft und von den Ereignissen mitgenommen, die Fahrt über Sizilien bis zum Hafen von Catania.

      Als Silvia duschte, stellte sie fest, dass die grauschwarze Asche des Ätnas ihren Weg durch ihre Kleidung gefunden hatte: Das Wasser versickerte morastig und dunkelgrau im Abfluss. Sie entspannte sich ausgiebig unter der heißen Dusche und fühlte sich hinterher wie ein neuer Mensch.

      Als sie zum Abendessen kam, tratschte Frau Menken schon alle Details des Ausfluges an Familie Müller, die Eltern des kleinen Claudius’ weiter: „Und dann, man gloobt es nich, sind wir so gut runtergestiegen, hat man nich gemerkt, dass zweee blind sind. Und nett waren sie. Nicht wahr, Frau Landwehr, einjeladen haben sie uns für heute Abend!“ Sie strahlte Silvia an.

      Herr von Waldensrieth schaltete sich ein: „Ich wusste es, habe ich es Ihnen nicht gleich gesagt? Denken Sie nicht auch, dass der Ätna-Ausflug mehr Freude gemacht hätte, wenn Sie nicht zwischenzeitlich Babysitter hätten spielen müssen?“ Herr von Waldensrieth zerteilte seinen Seehecht in Kräuterkruste und sah Silvia mit hochgezogenen Augenbrauen an.

      „Nein, und da bin ich mir auch ganz sicher. Ich habe den Ätna intensiver wahrgenommen, als ich es sonst getan hätte. Und zwei sehr nette Menschen kennengelernt. Da ist es mir egal, ob sie sehen können oder nicht!“ Sie spürte, wie Wut in ihr aufstieg – dieser blasierte Kerl, der sich gar nicht davon beeindrucken ließ: „Na, ich denke jedenfalls, dass wir ohne die Gesellschaft dieser Herren entspannter und besser reisen würden. Schon ständig von Personal umgeben zu sein, das kaum ein vernünftiges Englisch oder gar Deutsch spricht, ist meines Erachtens eine Zumutung – und dann noch die da!“

      Er machte eine abfällige Kopfbewegung in Richtung der Blinden.

      „Herr von Waldensrieth, ich möchte diese Unterhaltung jetzt beenden! Mir ist das zu unangenehm, in dieser Weise über Menschen zu reden, oder das auch nur mit anhören zu müssen!“ Silvia stand auf und ließ ihren halb vollen Teller stehen. Im Weggehen nahm sie seine Stimme überdeutlich laut wahr: „Typisch, gleich so empfindlich. Man wird doch seine Meinung noch äußern dürfen, oder ist das jetzt auch schon verboten?“ Als Silvia kurz zurückblickte, bemerkte sie, wie er seine Frau ansah, die aber den Kopf beschämt senkte.

      Was zieht man an, wenn man von blinden Männern zu einem Drink eingeladen wird? Silvia schüttelte den Kopf. Macht ja eh nichts. Sie entschied sich für eine graue Bluse zu schwarzen Shorts. Dazu drapierte sie den farbenfrohen Schal aus Rom um die Schultern. Sie sah sich prüfend im Spiegel an. Mitte vierzig, da waren schon Fältchen an den Augen und den Mundwinkeln zu sehen ... ein bisschen Lippenstift, ein wenig Mascara, dann fühlte sie sich besser. Wie sah sie für einen blinden Mann aus? Silvia ertappte sich bei dem Gedanken, dass sie Frank gefallen wollte. Ein paar Tröpfchen Parfum, dann lächelte sie ihrem Spiegelbild zu.

      Als sie in die Bar trat, saßen Tobias, Frank, Klaus und Alex schon um einen Sechsertisch herum. Frau Menken stolzierte auf Schuhen herein, deren Absätze so hoch waren, dass Silvia nie gedacht hätte, dass die Menken darauf laufen konnte – dem Gestakse nach glaubte sie das selber auch nicht so recht.

      „N‘Abend allerseits!“ Froh, die zwanzig Meter vom Eingang aus unfallfrei geschafft zu haben, ließ sie Irene Menken in das Lederpolster fallen.

      „Guten Abend!“, sagte Silvia und nahm Platz. Neben ihr saß Tobias und ihr gegenüber Frank. In die Lücke der Rundcouch trat die kleine Barkeeperin.

      „Darf ich Sie ein bisschen verwöhnen und Ihnen Ihre Getränke bringen?“

      Wie höflich, dachte Silvia, wie sensibel. Kein Wort davon, dass man sich die eigentlich an der Theke holt. Gefällt mir.

      Sie bestellten eine Flasche Rotwein, ihnen wurde der Montepulciano empfohlen, dazu sechs Gläser.

      Silvia wandte sich an die Runde: „Gibt es etwas Neues, wie es Manfred geht?“

      Betroffen antwortete ihr Klaus: „Sebastian hat mir erzählt, das sieht ganz schlimm aus. Sie haben ihn nach Palermo in die Klinik geflogen. Dort wurde er sofort operiert, ein böser Waden– und Schienbeinbruch. Er muss sechs Wochen in Gips liegen, dann kann man erst über einen Transport nach Deutschland nachdenken.“

      „Oh, das tut mir sehr leid! Er war so guter Dinge und schien immer bestens gelaunt!“

      Die Barkeeperin erschien und öffnete ihnen die Weinflasche. Sie verteilte die Gläser, schenkte ein und wünschte ihnen einen guten Genuss.

      Frau Menken ergriff das Wort: „Ick bin der Meinung, dass wir sechse jetzt genug durchjemacht haben, sodass wir mal auf det steife ‚Sie‘ verzichten können.“ Alle nickten.

      „Ick bin die Irene und freue mir, wenn ihr mich auch so nennt!“ Sie hob ihr Glas hoch. Silvia beeilte sich, „Einverstanden! Ich bin Silvia.“ zu sagen und anzustoßen. Schon reagierten die Männer, sagten ihre Vornamen und stießen ebenfalls an. Dann tranken alle einen großen Schluck.

      Silvia zögerte einen Augenblick: „Darf ich etwas fragen? Ihr müsst auch nicht antworten, wenn es euch zu unangenehm ist...“

      „Nur mal raus mit der Sprache!“, forderte sie Klaus auf.

      „Wieso auf den Ätna? Das war ja von der Wanderung her recht anstrengend, und wenn man dann nicht mal die Aussicht genießen kann oder die Gipfel sehen kann, weil man, äh ...“ Sie stockte. Klingt wie ein Vorwurf. Na toll.

      „Erstmal wollen wir uns mal abgewöhnen, Scheu zu empfinden, einen blinden Mann einen blinden Mann zu nennen“, Frank fiel ihr ins Wort. „Und dann gibt es für uns genauso viele Gründe wie für euch! War denn für euch die Aussicht der einzige Beweggrund?“

      „Nee“, plapperte Irene Menken los, „det allet mal sehen! Die Krater! Die Kegel! Die Löcher im Boden, aus denen Rauch kommt!“

      „Stimmt schon, wenn ich drüber nachdenke“, fügte Silvia hinzu, „auch diese besondere Luft mit dem leichten Schwefelgeruch zu riechen, die Asche unter den Füßen zu spüren ...“

      „Und zu Hause sagen können: Ich bin da oben gewesen!“ Klaus vervollständigte ihren Satz.

      „Natürlich ist das immer für uns und auch unsere