Sabine Reimers

Blinde Passagiere


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von meiner Behinderung nicht kleinkriegen, das ist unvergleichlich. Seit ich ein kleiner Junge war, als ich noch sehen konnte und ein Bilderbuch über Vulkane verschlungen hatte, ist es mein großer Traum, einmal einen zu besteigen. Und dieses Ziel habe ich mir heute, dank Sebastian, Manfred und“, er nickte Irene und Silvia zu, „euch beiden erfüllen dürfen.“ Er lachte kurz: „Ich lade euch alle wieder herzlich ein, wenn es um die Verwirklichung meines zweiten großen Traumes geht!“

      „Was ist das, du Verrückter?“, fragte Tobias, „Etwa ...?“

      Alex fiel ihm ins Wort: „Wasserski? Mit Delfinen schwimmen? Auf die Akropolis?“

      „Nee, Alex, du denkst zu sportlich! Ich möchte – und ich werde es auf der letzten Station der Reise auch tun –“, er machte eine dramatische Pause, um die Spannung zu steigern, „auf einem Kamel reiten und mindestens zwei Minuten oben bleiben!“ Alle lachten herzlich.

      „Aber wenn wir schon dabei sind, von unseren Lebensträumen zu sprechen, was macht ihr beide so beruflich?“ Klaus blickte erwartungsvoll in die Richtung der beiden Frauen. Silvia fühlte sich unwohl. Immerhin übte sie eine Tätigkeit aus, die viele für viel spannender hielten als sie war.

      Aber Irene Menken plapperte gleich begeistert los: „Ick bin in der Küche von der Charité, ist ein riesijet Krankenhaus in Berlin, kennt ihr wahrscheinlich. Und mein Lebenstraum ist diese Reise hier. Fünf Jahre hab’ ich jespart, is’ ja ooch janz nett teuer. Aber hat sich jelohnt, wa’?“ Alle nickten.

      Silvia räusperte sich kurz. „Ich bin Kommissarin bei der Berliner Mordkommission. Ich hatte allerdings ein blödes Erlebnis vor zwei Jahren und kann seitdem nicht mehr arbeiten. Diese Reise habe ich mir geschenkt, weil ich es durch eine Therapie geschafft habe, es zu verarbeiten und im nächsten Monat werde ich wieder zurück in den Job gehen.“ Alle schwiegen taktvoll, sie war froh, dass keiner nachfragte. Sie blickte nach unten und hoffte auf einen Themawechsel.

      Die Barkeeperin war plötzlich hinter Silvia aufgetaucht und hatte höflich gewartet, bis sie zu Ende gesprochen hatte. Jetzt fragte sie mit ihrem russischen Akzent, ob sie noch etwas bringen dürfte. Alex bestellte eine weitere Flasche Rotwein und Silvia Mineralwasser.

      „So, so, eine Kommissarin. Da sollten wir uns besonders gut benehmen, was?“ Klaus grinste sie an.

      „Ach, Mordkommission, hast du nicht zugehört?“, Frank wies ihn im Spaß zurecht, „wenn du dich mal beherrschen kannst und zwei Wochen lang niemanden umbringst, interessiert sie sich gar nicht für dich, du kleiner Gauner!“

      „Danke, das wäre nett, wenn wir hier ohne Morde auskämen, ich bin schließlich im Urlaub!“

      Irene sah sie mit einem Blick zwischen Bewunderung und Verehrung an, der ihr gar nicht recht war.

      Silvia sah die Runde an, sie war ein wenig unsicher.

      Kann ich die fragen, was sie für Berufe haben? Nachher ist das eine Fettnäpfchenfrage. Was tun Blinde? Arbeiten die überhaupt? Aber Irene war schon dabei: „Und? Wat macht ihr so? Kenn’ mich ja nich aus, so mit Blindenarbeit? Jibt’s da wat extra für euch?“

      Freundliches Lachen war die Antwort. Frank ergriff als Erster das Wort: „Ach, Irene, nee, in Wirklichkeit sitzen wir alle in einer dunklen Werkstätte und sortieren Briefmarken nach Größe und Geschmack der Gummierung.“

      Irene machte große Augen und wurde rot, während Silvia schon ahnte, dass Frank sie wieder mal auf die Schippe nahm. Er fuhr fort: „Blinde findest du in fast allen Bereichen. Das ist dem Fortschritt der Computer zu verdanken. Es gibt mittlerweile hervorragende PCs mit Tastaturen, die eine Braillezeile haben, wo in Blindenschrift der Text steht, der auf der Seite zu sehen ist. Oder die Programme haben eine Sprachausgabe, die einem vorliest, was angezeigt wird. Wir haben dadurch das uneingeschränkte Vergnügen, uns genauso über Computerprogramme zu ärgern und zu fluchen wie Sehende. Und damit das nicht zu oft passiert, bin ich da. Ich arbeite bei einer Softwarefirma als Fachinformatiker und bearbeite Programme, um sie blindentauglich zu machen.“ Er lehnte sich zurück und nahm einen Schluck Rotwein.

      „Genau, Frankie schreibt die Programme, die ich ihm als Anwender dann am liebsten um die Ohren hauen möchte!“ Alex grinste ihn an, „ich bin bei der Bank, Fachmann für Bürokommunikation und muss die Dinger zum Laufen bringen, sodass sogar Sehende damit klarkommen!“

      „Ick gloob et nicht, det hätte ick mir nie jedacht“, Irene konnte es nicht fassen, „so was Schwierijes macht ihr?“

      „Ja“, antwortete Frank, etwas genervt, „weil wir nur nicht sehen können. Wir haben genauso viel Spaß und Frust am PC wie alle anderen Jungs der Welt auch!“

      „Faszinierend“, sie wandte sich Tobias zu, „und, biste auch so’n PC–Spezi?“ Er lächelte etwas verkniffen.

      „Nein, ich bin Physiotherapeut mit der Zusatzausbildung zum Masseur. Das ist sehr hilfreich, wenn man es gewohnt ist, mit den Händen zu sehen.“

      „Det glaub ick sofort!“, Irene war ganz begeistert: „Das ist ja ganz toll!“ Tobias schien sichtlich zufrieden, dass sein Beruf auch als „ganz toll“ empfunden wurde und lehnte sich zurück.

      „Und du, Klaus?“, Silvia sprach den Letzten an, der sich noch nicht geäußert hatte: „Was machst du so?“

      „Tja“, er zögerte es etwas genussvoll hinaus, „ich habe als Einziger, möchte ich mal behaupten, einen klassischen Blindenberuf. Ich bin Klavierstimmer. Habe als Spezialität ein absolutes Gehör mit auf den Weg bekommen, da hat der Designer wohl gedacht, aufs Gucken kommt es dann nicht mehr so an. Habe immer schon Klavier und Orgel gespielt und dann war der Weg nicht weit, in einen Zweig zu gehen, der chronisch unterbesetzt ist. Nebenbei spiele ich aber noch in einigen Bands und arbeite in einem Tonstudio. Das gibt Extra–Taschengeld, damit kann man so eine Reise gut finanzieren.“

      „Spannend. Det is’ ja wat.“ Irene hob ihr Glas und alle schwiegen einen Moment.

       U nd ich hatte denen das wirklich alles nicht zugetraut. Hab’ mich nicht mal getraut zu fragen, zu blöd.

      Silvia wechselte das Thema: „Und, was habt ihr noch für Ausflüge mitgebucht? Wo geht’s noch so hin?“

      Sie verbrachten einen netten Abend, noch eine Flasche Wein wurde geleert und es wurde viel gelacht. Immer wieder ertappte Silvia sich, wie sie zu Frank hinüberschaute.

       Sein Bart ist so gepflegt, seine Haare sitzen perfekt, wie bekommt das ein Blinder hin? Er hat so ein nettes Gesicht und die Lachfältchen um seine Augenwinkel zeigen seinen Humor und den Spaß, den er hat. Ich mag ihn wirklich sehr gerne.

      Natürlich konnte er das nicht sehen, aber manchmal schien es ihr, als spüre er ihre Blicke und wandte den Kopf in ihre Richtung.

      Erst als es zwei Uhr morgens war, löste sich die Runde auf. Man schüttelte sich einander die Hände und wünschte sich eine gute Nacht. Als Silvia die Hand von Tobias Pflüger ergriff, legte er seine linke wieder auf die ihre. Das kannte sie ja schon von ihm, aber jedes Mal kam es ihr so vor, als berühre sie eine kalte Fischflosse.

      Frank reichte ihr die Hand und gab ihr einen altmodischen, perfekten Handkuss. Sie lachte auf und verabschiedete sich. Sie alle würden ja einander zum Frühstück wiedersehen. Doch da fiel Frank noch etwas ein: „Übrigens“, wandte er sich an Irene und Silvia, „ich habe ja nicht gelauscht, aber einige Menschen sind mit einer durchdringenden Stimme gesegnet... Wenn euch also die menschenverachtenden Kommentare auf die Nerven gehen, die ihr so allmahlzeitlich aushalten müsst, an unserem Tisch sind noch zwei Plätze frei!“ Frank grinste Silvia an: „Starker Abgang heute. Sogar ich konnte die rote Wutwolke sehen, die du hinter dir hergezogen hast!“

      „Das ist ein sehr nettes Angebot, ich setze mich gerne um. Irene?“

      „Ja, der von Waldensrieth is’n Dummschwätzer, aber seine Frau is’ eijentlich ganz nett. Kann ick sie wohl mit ihm alleene lassen?“

      Klaus lachte: „Na, wenn sie ihn geheiratet hat, wird sie damit das Risiko eingegangen