Sabine Reimers

Blinde Passagiere


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Gewünschte. Danach wählte sie einen Sessel, der in Fahrtrichtung stand. Ihr bot sich zwischen den Spiegelungen des Raumes mit seinen vielen kleinen Lichtern und Kerzen eine gute Aussicht über den Bug des Schiffes hinweg auf das Meer, das, so dunkel wie es jetzt dalag, kaum vom Himmel zu unterscheiden war. Nur die Sterne fehlten in der Schwärze des nachtblauen Wassers. Silvia nippte an ihrem Wein und genoss die ruhige Atmosphäre, die hier herrschte.

      Im nächsten Moment wurde sie aus ihren Gedanken gerissen, als sich ein Mann von schräg hinten zu ihr herunterbeugte:

      „Entschuldigung, dürfen wir Ihnen diese zwei Sessel entführen?“ Sie blickte auf und sah in das Gesicht des Reiseführers der Blindengruppe, der auf die Sitzgelegenheiten zeigte, die ihren kleinen Tisch umringten.

      „Ja, gerne, ich bin schon vollzählig hier.“ Sie lächelte und sah über ihre Schulter. „Da brauchen Sie ja noch einige Stühle.“

      Elf Männer mit Sonnenbrillen standen ein wenig verloren um eine Sitzgruppe mit einem Sofa und zwei Sesseln herum. Die beiden Reiseleiter waren bemüht, von den übrigen Tischen freie Stühle herbeizuholen.

      „Das geht schon. Danke für die Spende!“ Er lachte und schob den ersten Sessel der Gruppe zu. Es kam Bewegung in die Männer, einige setzten sich, führten andere zum Platz – und schließlich, nach Geschiebe und Gedränge, saßen alle. Die Barkeeperin hatte erkannt, dass dies besondere Passagiere waren und kam, um die Bestellung aufzunehmen. Schnell waren Bier, Wein, Wasser und Whisky bestellt und mit Bordkarten bezahlt. Eine ausgelassene Stimmung machte sich breit, Anekdoten und Geschichtchen wurden erzählt. Silvia bemerkte, dass der Reiseführer immer wieder zu ihr hinübersah. Endlich stand er auf und sprach sie an: „Sie sitzen hier so alleine. Möchten Sie nicht mit zu uns an den Tisch? Wir können noch ein wenig zusammenrücken, dann passt das schon!“ Silvia lächelte ihn an und wandte sich ihm zu: „Das ist sehr freundlich. Aber ich habe gerade meinen Gute–Nacht–Trunk genommen und bin jetzt reif fürs Bett! Morgen wird’s anstrengend, ich werde an der Ätna–Wanderung teilnehmen.“

      Der junge Mann strahlte: „Toll! Dann wandern wir zusammen! Ich bin mit vier unserer Schützlinge auch dabei! Ich bin übrigens Sebastian Rother, bitte nennen Sie mich ‚Basti’, wie der Rest der Welt.“ Silvia war nun doch aufgestanden und folgte ihrer neuen Bekanntschaft an den Tisch: „Gerne, Basti, ich bin Silvia. Sie gehen mit den ... äh, den ...“

       Oh, Mann, nichts Falsches sagen. Die sind alle ganz leise und hören genau zu. Und du stammelst hier herum, weil es dir peinlich ist, Nicht–Sehende als blind zu bezeichnen?

      „... mit den blinden Passagieren auf den Ätna.“ Brüllendes Gelächter war die Folge, als einer der Männer den Satz beendete. Silvia wurde rot.

       Macht nichts, sieht ja fast keiner. Blinde Passagiere, alles klar. Nette Umschreibung. Volltreffer.

      Sie sah den Mann an, der gesprochen hatte und immer noch breit grinste. Er hatte sie gestern nach dem Stuhl auf dem Sonnendeck gefragt. Wie die anderen Männer trug auch er eine Sonnenbrille. Er war groß, stämmig und hatte einen sehr gepflegten, gestutzten Bart, in dem, wie in seinem kurzgeschnittenen Haar, graue Haare das schwarze melierten. Silvia fand seine Ausstrahlung sehr attraktiv, mit seinem jungenhaften, herzlichen Lachen. Sein kurzärmeliges, gemustertes Hemd passte hervorragend zur dunkelblauen Jeans.

       Wie stellt man seine Kleidung zusammen, wenn man blind ist? Fragt man jeden Tag jemanden um Rat? Legt man sich kleine Zettelchen mit Blindenschrift in die Schubladen: ‚Achtung, Hemd hat pinke Streifen, nicht zur grünen Hose anziehen?‘

      Sie stellte fest, dass diesbezüglich offenbar keiner der Männer Probleme hatte. Sie waren genauso gekleidet wie andere Herren an Bord auch. Nur dass sie trotz der schummrigen Barbeleuchtung dunkle Brillen trugen.

      Die Bedienung kam ein weiteres Mal und fragte nach Getränkewünschen. Silvia bestellte sich noch ein Glas Rotwein. Nachdem Sebastian zwei der Männer gebeten hatte, zu rücken, passte sie noch mit auf das halbrunde Sofa.

      „Also Sie gehen mit auf den Ätna?“ Sie blickte den Mann an, der die Bemerkung mit den blinden Passagieren gemacht hatte. Als er nicht reagierte, schlug sie sich innerlich mit der Hand auf die Stirn.

       Anstarren kannst du den lange! Und angesprochen fühlt der sich so auch nicht!

      Sie wandte sich an Sebastian: „Sie führen Ihre Gruppe auf den Ätna?“

      „Nun fragen Sie schon: ‚Warum? Was haben denn die armen Blinden davon, auf einem Berg herumzukraxeln, wenn sie nicht mal die Aussicht genießen können?‘“

      Tobias Pflüger, den sie heute Nachmittag am Swimmingpool getroffen hatte, hatte ihr sein Gesicht zugewandt. Er klang zwar aufgebracht, lächelte sie aber an, als sei das sarkastisch gewesen. Sebastian griff ein:

      „He, Tobi, mal nicht so aggressiv. Ist doch klar, dass man erst mal Schwierigkeiten hat, das nachzuvollziehen. Für diese Männer ist das im gleichen Sinne ein großartiges Erlebnis wie für Sie. Sie sehen zwar nichts, aber man hört, riecht, nimmt die Höhe und die Welt ganz verändert wahr. Das schafft genauso unvergleichliche Sinneseindrücke wie das Sehen.“

      Silvia nickte. Spannende Parallelwelt.

      „Sie leiten diese Reise?“

      „Wir sind von einem Reiseveranstalter, der Blindenreisen organisiert. Immer vier Blinde und ein sehender Betreuer. Mein Kollege Manfred“, er zeigte auf einen blonden, großen Mann, der ein Guinness vor sich stehen hatte, „und ich machen das seit Jahren im Sommerurlaub. Mein anderer Kollege, Christian, hat sich schon hingelegt.

      Ist eine tolle Sache, immer andere Ecken der Welt entdecken. Gerade diese Gruppe kennen wir schon lange. Sie waren früher am gleichen Blindeninternat, an dem Manfred und ich im normalen Berufsalltag als Sozialarbeiter tätig sind. Wir helfen bei allen Alltagsdingen, die so anfallen. Die Jungs haben sich überlegt, jedes Jahr eine gemeinsame Reise zu machen, um in Kontakt zu bleiben. Dieses Jahr ist es so eine außergewöhnliche Tour, weil einige von ihnen damit das ‚Silberne Abitur‘ feiern und die anderen dabei kräftig helfen!“ Er lachte in die Gruppe, alle nickten zufrieden.

      „Das Schöne an einer Kreuzfahrt ist“, der bärtige Blinde sprach wieder, „dass das Schlafzimmer immer mitfährt. Man erobert einmal seine Kabine und das Schiff und diese vertraute Umgebung bleibt dann bestehen. Bei einer normalen Rundreise müssten wir uns jede Nacht auf neue Quartiere einstellen. Ist machbar, aber ziemlich stressig. So haben wir unser Bett und unsere Bar für die nächsten elf Nächte gefunden. Und fast jeden Morgen wachen wir an einem neuen, spannenden Ort auf.“

      Silvia nickte, besann sich eines Besseren und sagte: „Klar, verstehe ich sehr gut. Und was planen die anderen, die nicht auf den Ätna mitkommen?“

      „Die bummeln erst durch Catania und fahren dann zu einem Zitronenhain. Soll zu dieser Jahreszeit fantastisch sein!“ Manfred nahm einen großen Schluck aus seinem Bierglas.

      „Ich konnte mich zunächst auch nicht recht entscheiden, aber der Ätna hat dann gewonnen“, Silvia lächelte, „danke für die nette Unterhaltung, bis morgen dann!“

      „Bis morgen“, echote die Männergruppe und wandte sich wieder einander zu.

      Als sie wieder in ihrer Kabine angekommen war, spürte sie, wie müde sie war. Mittlerweile zeigte die Uhr bereits nach Mitternacht an.

      Ein schöner Abend, eine interessante Runde.

      Als sie zum Einschlafen das Licht ausschaltete, sah sie ganz kurz das breite Grinsen des bärtigen Blinden vor sich. Trotz der dunklen Brille hatte sie kleine Lachfältchen um die Augenwinkel zum Vorschein kommen sehen. Seine strahlend weißen, gepflegten Zähne hatten ihr entgegengeblitzt, als er sie anlächelte.

       Nett war es gewesen. Sehr nett.

      Klein und zusammengekrümmt saß die Frau auf dem Hocker. Er fuhr ihren Hals entlang und zog mit einem kräftigen Ruck das Messer aus dem Nacken. Dann ließ er seinen Gefährten das Haargummi lösen, das ihre Haare so streng nach hinten gebändigt hatte.