Sabine Reimers

Blinde Passagiere


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„nicht zu glauben“ in die Konversation ein und stellte Frau Menken damit zufrieden, bis diese sich ihr gezielt zuwandte:

      „Gehen Sie denn auch mit nach Rom?“

      „Ich werde auf eigene Faust dahin fahren“, antwortete Silvia, „ich war schon mal mit meiner Tochter eine Woche lang dort und habe mir genau überlegt, wo ich noch gerne hin möchte.“

      „Na, wir werden die Stadtführung mitnehmen. Sind ja nur ein paar Stunden und det muss man optimal ausnutzen, nich wa?“

      „Sicher! Und das Programm ist hervorragend! Sie werden bestimmt viel erleben und diese atemberaubende Stadt kennen– und lieben lernen!“ Irene Menken nickte glücklich und wünschte auch Silvia einen schönen Tag.

      „Viel Vergnügen dann, wir sehen uns heute Abend!“, Silvia stand auf und verließ den Saal, um sich in ihrer Kabine für den Ausflug fertig zu machen.

      Auf dem Weg dorthin begegnete sie einigen aus der Gruppe der Blinden, die sich gerade, um ihre beiden Reiseleiter gescharrt, die Organisation des Tagesausfluges anhörten.

       Blind in Rom. Spannend. Vielleicht gelingt es mir, mal mehr Kontakt zu denen zu knüpfen und mir erzählen zu lassen, wie sie so eine Reise erleben.

      Zurück in ihrer Kabine packte sie die notwendigen Dinge in ihre große Handtasche aus hellbraunem Leder und ging von Bord.

      Am Bahnhof von Civitavecchia herrschte das erwartete Gedränge. Zwei Kreuzfahrtschiffe hatten hunderte, wenn nicht tausende von Passagieren in die Hafenstadt entlassen. Silvia bestieg den nächsten Zug nach Rom und ergatterte sogar einen Sitzplatz.

      Die Tür der Kabine öffnet sich, eigentlich hatte ich erwartet, dass der Passagier beim Landausflug ist oder den schönen Tag auf Deck genießt.

      Ich sage in gebrochenem Englisch (eine Schande, dass ich es noch nicht besser gelernt habe!): „Room Service now!“, und lächele. Der Mann lächelt zurück. Er deutet an, an ihm vorbei in die Kabine zu gehen. Ich glaube zunächst, dass er sie gerade verlassen will, als er von innen hinter mir die Tür zuschlägt. Ich stehe nahezu im Dunklen. Die Rollos sind geschlossen, nur ein ganz knapper Streifen Licht ringt am Rand mit der überwältigenden Dunkelheit des Raumes.

      „Light, please!“, meine Stimme klingt so verunsichert, wie ich mich fühle. Ich drehe mich zu ihm um, der Mann muss doch genau neben dem Lichtschalter stehen! Seine Silhouette ist von der Wand kaum zu unterscheiden, als er sich auf mich zubewegt.

      „Please, more light!“, flehe ich. Seine Hände greifen nach mir, ein Arm legt sich um meine Schulter und presst meine Arme links und rechts an den Körper. Ich protestiere, jetzt auf Spanisch, wehre mich, zappele, um seinem Griff zu entkommen.

      Ein Tuch legt sich mir auf Mund und Nase, er hält meine Arme weiterhin fest und ich versuche die Luft anzuhalten, solange es geht. Irgendwann muss ich einatmen. Ein stechender Schmerz fährt mir in Nase und Mund, ich muss husten, es brennt so, Tränen schießen mir in die Augen ...

      Silvia folgte nicht dem Strom der Touristen zum Petersplatz, sondern stieg am Hauptbahnhof aus, um zur Domitilla–Katakombe zu gelangen.

      In der unterirdischen Basilika warteten etwa zwanzig Menschen auf den Beginn der nächsten Führung. Nach kurzer Zeit erschien ein kleiner, dunkelhaariger Mann mittleren Alters und stellte sich als ihr Fremdenführer, „La guida della catacomba“, vor. Er sprach Englisch mit solch ausgeprägter italienischer Melodie, dass Silvia schmunzeln musste. Höchst erfreut wies er mit der Hand auf eine Gruppe von Frauen, die in einer Ecke standen: ein kleiner Frauenchor aus Norditalien, der auf einem gemeinsamen Ausflug war. Verschämt und ein wenig schüchtern nahmen sie die Aufforderung des Fremdenführers an, ein Lied zu singen, um die herrliche Akustik der Basilika für alle erlebbar zu machen.

      Es war überwältigend. Der Raum brachte die Töne zum Leuchten, sie umhüllten in ergreifender Klarheit und Schönheit die Zuhörer.

      Silvia schloss die Augen und ließ sich ganz auf den Klangteppich der unbekannten Worte ein. Die Frauen berührten mit dem lateinischen Choral, tief ihr Herz. Als sie endeten, musste sie sich verstohlen ein paar Tränen wegwischen.

      Die Führung war sehr interessant. Sie erfuhr, dass die Katakomben unter Rom ein kilometerlanges Netz zogen. Für jeden Toten wurden Nischen in den Stein gehauen, teilweise wunderschön mit christlichen Symbolen und Szenen aus der Bibel geschmückt. Über Treppen aufwärts und abwärts wurden sie durch das Labyrinth geführt, in dem sie allein schon nach kurzer Zeit verloren gewesen wären – trotz ihres Sehsinnes.

      Wie würde sich ein Blinder hier orientieren? Solange man sehen kann, ist das mit etwas Übung ja ganz einfach: am heiligen Petrus drei Treppen abwärts, dann beim guten Hirten nach links um die Ecke ... Sie schloss die Augen, um zu probieren, was sie von dem Gang ohne zu sehen wahrnehmen könnte. Unwillkürlich tastete sie mit der Hand nach einem Halt und griff in eine Grabnische statt an die Felswand. Sofort stolperte sie, sie öffnete zwar als Reflex die Augen, konnte sich aber nur noch vor dem Sturz bewahren, indem sie sich in die Nische fallen ließ und gerade noch zu sitzen kam. Wie elektrisiert sprang sie hoch, knallrot im Gesicht. Der Fremdenführer sah sie streng an. Grabnischen waren nicht zum Ausruhen für fußlahme Touristen gedacht. Wirklich nicht.

      Nach zwei Stunden gelangten sie wieder in die Basilika und bedankten sich für die gute Führung. Über eine Treppe kam Silvia zurück ans Tageslicht. Mittlerweile war es Mittag, die Sonne strahlte mit herrlicher Wärme vom Himmel und ein feuchter, angenehmer Wind streichelte Silvias Gesicht.

      Sie beschloss, den nächsten Bus in die Stadt zu nehmen und dort einfach ein wenig herumzubummeln.

      Ich habe solche Kopfschmerzen! Schnell wird mir meine neue Lage bewusst, meine Augen gewöhnen sich an das dämmrige Licht: Ich sitze auf dem kleinen Hocker, der sonst unter dem Spiegel steht. Auf meinem Mund klebt ein großer Streifen Klebeband, es tut so weh! Als ich versuche, meine Lippen zu bewegen, spüre ich, wie kleine Hautfetzchen abreißen. Dennoch will ich ihn ansprechen, ihn fragen, was er mit mir macht. Die Verzweiflung wird immer größer, ich beginne zu weinen, schluchzen.

      Ich bin nackt! Oh, Gott, was hat der Typ mit mir gemacht? Was hat er vor? Ich versuche, Beine und Arme zu bewegen, nichts geschieht. Meine Beine sind an den Hocker gebunden, die Arme auf den Rücken geschnürt. An den Handknöcheln sind sie verklebt, auch mit Packband ...

      Ich sehe einen Schatten vor mir knien, er scheint mein Gesicht zu begutachten ... eine Hand legt sich auf meine Wange, sie streicht eine Träne fast zärtlich weg. Und mit einem gewaltigem Ruck, ein Gefühl, als würde ein rot glühender Schürhaken in mein Gesicht gepresst, reißt er das Klebeband ab. Der Schmerz lässt mich aufkeuchen, meine Lippen bluten, die Haut ist abgezogen, alles ist wund und schmerzt. Sofort schnappe ich nach Luft und will schreien, da legt sich auch schon seine Hand wie eine Pranke auf meinen Mund. Er macht „Sch“, wie eine Mutter, die einen Finger auf die Lippen legt, wenn das Kind still sein soll. Ich kann ihn nicht richtig erkennen im Dunklen. Langsam nicke ich. Wenn ich jetzt mitspiele, nicht schreie, brav bin, passiert vielleicht nichts Schlimmeres.

      In einer Sprache, die ich nicht verstehe, redet er auf mich ein. Beruhigend, beschwichtigend ist sein Tonfall. Liebevoll streicht er mir über das Haar. Weder berührt er meine Brust noch meine Haut … nur an meinen Haaren scheint er interessiert zu sein.

      Ich flüstere leise auf Englisch: „Help. Let me go. Please. Now.“

      Er redet auf mich ein, dann legt er seine Stirn an meine. Seine Hand hält meinen Hinterkopf ganz fest. Er sagt:

      „I will help you. Now.“ Dabei drückt er mit einem Finger so fest auf die Stelle im Nacken, wo der Schädelknochen anfängt, dass es schmerzt.

      Er steht auf, kreist um mich herum und gelähmt vor Angst und Spannung halte ich den Kopf auf die Brust gedrückt. Ich kann mich kaum bewegen und habe schreckliche Angst, einen Fehler zu machen, seine Gewalt erneut herauszufordern. Rodrigos Gesicht erscheint vor meinen Augen. Mein geliebter Mann, was wird er nur jetzt tun? Seine Schicht, genauso wie meine, endet erst in acht Stunden. Vorher wird mich niemand vermissen. Erschreckt höre ich, wie der Mann seine