Paul Sandmann

Tristan


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Beinen saß und ihren Orangensaft trank. Das Sushi im Kühlschrank hatte sie unberührt gelassen, sie mochte dieses exotische Zeug nicht. Ihr Blick fiel auf die Wand voller CDs und Schallplatten. Für die Wohnung eines Mannes kam ihr alles ungewöhnlich aufgeräumt und sauber vor. Keines seiner dunklen Haare, das auf dem weißen Boden aufgefallen wäre – und selbst die Klobrille war heruntergeklappt gewesen! Sie konnte das Gefühl, das sie damit verknüpfte, nicht gleich mit Worten beschreiben, also schob sie den Gedanken vorerst beiseite.

      Marie stellte das Glas ab. Sie ging zurück ins Schlafzimmer, um sich anzuziehen. Als sie am Fußende des Bettes stand, wurde ihr plötzlich klar, welchen Begriff sie eben gesucht hatte: steril, das war das Wort, das die Atmosphäre in Tristans Wohnzimmer eben so treffend beschrieben hätte. Die Wohnung war nicht gemütlich, sondern eher zu sauber und ordentlich - zumindest für ihre Begriffe. Sie mochte sich kaum vorstellen, wie ein Mensch hier leben konnte. Obwohl alles auf den ersten Blick modern und stilvoll aussah, erschrak sie über die Kälte, die sie spürte. Wer putzte hier eigentlich? – Ach, nein, beruhigte sie sich: Er ist ein Mann. Männer sind nur auf das Notwendigste und Praktische bedacht und legen keinen Wert auf Accessoires wie Kerzen, Pflanzen oder so was. Wahrscheinlich hat er eine hyperaktive mexikanische Putzfrau. Ihre Freunde hatten ein solches Glück – Miranda, eine kleine, kompakte Mittvierzigerin aus Puerto Ángel faltete selbst die Bettdecke über den Kindern neu, wenn die eingeschlafen waren.

      Dann kamen ihre Gedanken zu diesem Mann zurück, den sie noch kaum kannte und mit dem alles so schnell gegangen war. Tristan wirkte einfühlsam und charmant, sie hätte nicht gedacht, dass sie noch einmal einem solchen Mann begegnen würde. Die Nacht war umwerfend gewesen, nie zuvor hatte sie solche Wellen der Ekstase erlebt – bis gestern. Er schien immer zu wissen, was sie gerade dachte und wollte. Ohne es auszusprechen, ging er direkt auf sie ein. Als bestehe eine durchsichtige Verbindung zwischen ihnen, dieses Gefühl war ihr vollkommen neu. Aber eigentlich war sie auch noch gar nicht so oft mit einem Fremden nach Haus gegangen, zu ihm. Nachdem sie sich fertig angezogen hatte, nahm sie ihre Handtasche vom Sofa und ging in Richtung Wohnungstür. Sie öffnete und warf noch einen letzten Blick zurück in das Wohnzimmer. Mit einem zufriedenen Lächeln schloss sie die Tür hinter sich.

      Das warme Gefühl, das sich in ihr ausgebreitet hatte, verschwand sofort, als sie auf die Straße trat. Ein Blick auf die Uhr genügte, um ihre innere Ruhe in Nervosität umschlagen zu lassen. Es war Viertel vor neun. Sie hielt nach einem Taxi Ausschau, aber natürlich war keins in Sicht. Als hätten sich auf einmal alle gegen sie verschworen. Sie musste um neun Uhr bei der Arbeit sein, darum hastete sie jetzt die Straße hinunter und bog in eine weniger befahrene Seitengasse ein. Nach 8-minütigem Fußweg fand sie schließlich ein freies Taxi und lies sich zur Brompton Road fahren. Als sie völlig abgehetzt im Kaufhaus ankam und in die Parfüm-Abteilung trat, wurde sie mit einem Zwinkern von ihrer Kollegin Angelina begrüßt.

      „Ich hab schon gesagt, du hättest einen Arzttermin und würdest später kommen. Bist also bei Mr. Howard entschuldigt und kannst dir ein nerviges Gespräch sparen.“

      „Du bist einfach ein Schatz, Angie. Du hast was gut bei mir. – Gehn wir heut Mittag essen?“

      „Aber sicher – wenn du zahlst.“

      Sie lachten.

      „Dann um eins. Bis später.“

      Marie ging weiter. Gleich darauf machte sie sich daran, neue Waren in die Regale einzuräumen und die übrigen aufzufüllen. Die Zeit bis zum Mittagessen verging wie im Flug, weil sie immer wieder an den Abend mit Tristan dachte, und an all die Zärtlichkeiten, die er ihr ins Ohr geflüstert hatte. Die unangenehmen Gedanken zu seiner Wohnung hatte sie bereits vergessen und genoss jetzt einfach nur die schönen Erinnerungen an die letzte Nacht. Natürlich war sie sich darüber im Klaren, dass es lediglich eine einzige Nacht gewesen war und er vielleicht gerade in diesem Augenblick mit einer anderen Frau flirtete. Allerdings - schon so früh aufzugeben, dafür war sie nicht der Typ.

      Sie hatte ihm eine kurze und provokative Nachricht auf dem Küchentresen hinterlassen und hoffte, dass er sich früher oder später wieder bei ihr melden werde. In dieser Hinsicht war Marie noch ziemlich altmodisch, sie tat nie den ersten Schritt, sondern wartete immer auf die Initiative des Mannes. Wie oft waren ihr deshalb schon Männer entwischt, einfach weil sie zu passiv war. Doch alte Gewohnheiten änderte man nicht so einfach über Nacht, und sie versuchte sich davon zu überzeugen, dass Tristan sie auf jeden Fall anrufen werde, weil auch er die Nacht sehr genossen hatte. Sie musste einfach daran glauben.

      Plötzlich riss eine Kundin sie mit ein paar Worten aus den Gedanken: „Wo finde ich das Duschgel, das zu diesem Duft passt?“

      Tristan warf den Hörer auf die Gabel und tippte etwas in seinen Computer. Er kniff die Augen zusammen, während er den Kurs eines Versicherungsunternehmens betrachtete, der gerade in den Boden schoss.

      „Was ist denn da passiert?“, flüsterte er bei sich und wechselte auf ein anderes Fenster, um die Ursache für den Absturz zu verstehen. Aber keine der Daten boten ihm eine Erklärung.

      „Was ist hier los?“, rief er seinem Kollegen Marcus zu, der keine anderthalb Meter von ihm entfernt saß. Der tippte noch schnell ein paar Zeichen, drückte die Enter-Taste und stieß seinen rollenden Stuhl zu Tristan hinüber. Dabei warf er den über und über mit Kartons von chinesischem Fast Food gefüllten Mülleimer fast um, der zwischen ihnen stand.

      „Ach, Fensec. Ja, Tom hat eben seine positive Analyse für die kommenden Monate durch die Kameras nach New York und Tokyo geschickt. Dabei ist ihm aber die Nasenscheidewand aufgeplatzt und das Blut hat ihm die Show gestohlen. Da haben die Händler schnell geschaltet und das hier”, Marcus wies auf die schräg nach unten weisende, flackernde Linie, „das hier ist dabei herausgekommen.“

      „Glückwunsch!“, stieß Tristan mit einem sardonischen Lächeln aus und schüttelte den Kopf. Doch Marcus hatte sich schon wieder abgestoßen und war lachend an seinen Platz zurückgerollt.

      Beim Mittagstisch in einem dieser kleinen französischen Straßencafes in der Nähe der City unterhielt sich Tristan mit zwei Kollegen über Toms Missgeschick.

      „Du bist ein Idiot, Tom”, sagte Steve gerade, ein hagerer Mann mit kurz geschorenem, blondem Haar.

      Tom blickte sichtlich irritiert, kratzte sich an der Nase und bedachte Steve mit einem wütenden Blick. Noch während die anderen lachten warf er mit fester Stimme in die Runde: „Das hätte jedem von euch passieren können. Also warum haust du nicht ab und fickst dich selbst?“

      Doch seine Worte ließen die anderen nur in noch größeres Lachen ausbrechen. George nahm sich die Ketchup-Flasche, wandte sich ab und hatte, als er sich wieder zu Tom hindrehte, einen blutroten, dicken Schnauzer über der Oberlippe.

      „Siehst du, so hast du in Tokyo ausgesehen, Tom!“

      Er wandte sich kurz ab und dann wieder den anderen zu. Nichts hatte sich verändert. Noch immer troff ihm das Tomatenmark aus der Nase.

      „Und so hast du in New York ausgesehen!“

      Toms Gesicht verfärbte sich dunkelrot. Durch zusammengezogene Augenlider entsandte er Giftpfeile in Richtung der anderen. Seine hellblauen Augen blitzten vor Wut. Dann schoss schon wieder Blut aus seiner Nase und auf seine frisch gewechselte Krawatte.

      „Und so hast du in Frankfurt ausgesehen!“, schrie George und schlug auf den Tisch, so dass eine der Bedienungen vor Schreck ein Messer fallen ließ. Tristan beugte sich zu Boden und nahm das Messer auf, das neben seinen Schuh gefallen war, während die anderen beiden laut grölend das gesamte Lokal zum Stillschweigen brachten. Als er den Kopf hob und die peinlich berührte Bedienung anblickte, legte er ein Lächeln auf die Lippen. Das Mädchen trug weiße Kniestrümpfe unter dem dunklen Rock. Das weiße Hemd zierte eine schwarze Fliege. Aus den kurzen Ärmeln staken zwei Arme, die von einem solch zarten Rosa waren, als bestünden sie aus Porzellan. Er berührte ihre Finger flüchtig, als er ihr das Messer in die Hand legte.

      „Schaut her, Tris interessiert es gar nicht, obwohl es zum Schreien ist”, rief einer in das Lachen der anderen.

      „Doch, köstlich”, sagte Tristan