Paul Sandmann

Tristan


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der Künstler vehement. Aber Tristan war nicht umzustimmen. Eine kurze Pause trat ein, in der Cirrus mit verletzt erhobenen Augenbrauen zum Mond hinaufstarrte.

      „Auf die Falten denn!“, sagte Marcus endlich - ganz Diplomat - und erhob sein Glas, „sie machen uns mit jedem Jahr schöner, während unsere Frauen dahinwelken. Deshalb male lieber unsere Freundinnen, Cirrus, dann haben wir ein Andenken an sie, wenn wir später ihre Töchter heiraten!“

      Doch Cirrus hatte seine gute Laune über dieser Enttäuschung verloren. Mit unterdrücktem Zorn hatte er seinen Stuhl etwas herumgedreht und widmete sich nun voll und ganz dem Spektakel, das sie umgab.

      „Ich werde etwas frische Luft schnappen”, entschuldigte sich Tristan und stand auf. Er nahm sein Getränk und wanderte mit gemessenen Schritten in Richtung einer Dame, die ihm während des Gespräches aufgefallen war. Denn der Grund für sein zuvor so überraschend düsteres Mienenspiel war gar nicht das Angebot des Künstlers gewesen. Dieser Anlass wäre ihm auch viel zu gering erschienen. Nein, der Grund war die Dame in dem roten Abendkleid gewesen, die blicklos an ihnen vorbeigegangen war und nun am äußersten Rand der Dachterasse stand. Während er seine Schritte ganz langsam in Richtung der langbeinigen Schönheit lenkte, klirrten die Eiswürfel leise gegen die Innenseite des Glases in seiner Hand.

      Zauberhaft sah sie aus. Ihr dunkelbraunes Haar hatte sie sich über die rechte Schulter gelegt, so dass ihr langer, schwanenhaft anmutender Hals frei lag. Ihre Haut schien weis und kühl gegen das Mondlicht, während das Rot des Abendkleides, das den Rücken kaum verdeckte, die Konturen ihres Körpers wie ein warmer Hauch umspielte. Tristan trat an das Geländer neben sie und umfasste das Chrom der Absperrung mit beiden Händen.

      Er blickte hinaus auf die Stadt und atmete tief ein. Aus den Augenwinkeln bemerkte er, dass sie sich nach ihm umsah und mit den Augen für einen Moment an seinem Gesicht hängen blieb. So drehte auch er sich zu ihr um und lächelte. Ihr Gesicht war noch schöner, als er es in dem kurzen Augenblick hatte einschätzen können, als sie an ihnen vorbeigeschwebt war. Sie schaute ihn aus einem Paar großer kastanienbrauner Rehaugen prüfend an. Ihre Augenbrauen schwangen sich zart darüber. Die Stirn war hoch und rund wie die eines Kindes, während ihre Nase gerade und wohlgeformt das Antlitz in zwei symmetrische Hälften teilte, deren sinnlichen Höhepunkt ihre Lippen bildeten. Diese waren so voll und lustvoll, dass sie des Lippenrots gar nicht erst bedurft hätten, das sie aufgetragen hatte. So aber stachen sie von der alabasterfarbenen Haut ab wie Blutstropfen im Schnee.

      „Ich konnte nicht fassen, dass eine Dame wie Sie sich allein hierher begibt und wollte mich persönlich anbieten, Ihnen Gesellschaft zu leisten. Mein Name ist Tristan”, sagte er, während er den Kopf schräg legte und das Lächeln aus seinen Zügen wich.

      Staunend blickte sie ihn einen Moment lang an, doch dann fasste sie sich, schüttelte noch zögernd den Kopf und sagte langsam: „Gesellschaft leisten?“

      Sie schlug die Augen kurz nieder, dann sah sie ihn erneut an und fuhr fort: „Ich danke Ihnen, aber ich habe eine Verabredung“.

      Da erst fiel ihm auf, wie zerbrechlich sie wirkte. Der dünne Stoff, der wie Wasser ihren Körper hinabfloss, schien die Verletzlichkeit, die er in ihrem Gesicht las, nur noch zu unterstreichen. Ihr Körper war von solcher Weichheit, ganz anders als diejenigen der Modelle, die hier um sie herum standen. Ihre wirklich weiblichen Formen verblüfften ihn, und er sah sein Gebet von zuvor erhört. Zugleich aber erkannte er, dass die anderen in ihrer trockenen Zähigkeit dieser Dame hier überlegen waren. Er fürchtete, dass wenn er sie berührte, sie zerspränge und in tausend weißen Scherben über den Boden flöge.

      „Dann warte ich hier mit Ihnen zusammen und verabschiede mich, sobald Ihre Begleitung eintrifft”, erwiderte er nach einer kurzen Pause, „natürlich nur, wenn ich darf, heißt das.“

      Sie hatte sich wieder der Stadt zugewandt, blickte ihn bei seinen Worten jedoch höflich an. Endlich sagte sie: „Na gut, dann bleiben Sie”, und blickte erneut hinaus in die Nacht.

      „Ist es nicht schade, dass es in London niemals wirklich dunkel wird?“

      „Was meinen Sie?“

      „Nun, sehen Sie, ich komme vom Land. Um genauer zu sein, ich komme aus einem Dorf auf dem Festland. Und wenn dort die Nacht anbricht, dann ist es dunkel. Hier aber wird es niemals dunkel.“

      „Sie kommen nicht von hier?“

      „Nein.“

      Sie blickte ihn strahlend an, als hätte er ihr soeben einen tiefen Wunsch erfüllt.

      „Meine Eltern stammen aus Italien. Mein Name ist Eco, Isabella Eco.“

      „Ach wirklich? Dann sind ihre und meine Eltern fast Nachbarn gewesen. Mein Name ist Tristan.“

      „Tristan, und weiter?“

      „Nichts weiter. Nur Tristan.“

      „Gut, ich werde sie Tristano nennen”, sagte sie lachend.

      Der Ober trat an ihnen vorbei. Tristan hielt ihn auf.

      „Zwei Gläser Champagner - sie trinken doch Champagner?“, fragte er sie beiläufig und stellte sein noch halb gefülltes Glas auf das Tablett. Das Eis darin hatte sich aufgelöst.

      „Hmm”, sagte sie peinlich berührt und wandte sich wieder ab.

      „Bitte, nehmen Sie mir nicht übel, dass ich Sie einlade. Aber ich musste meinen beiden Freunden entfliehen. Sehen Sie die beiden dort?“ Und damit wies er auf Cirrus und Marcus, die sich gerade aufgeregt über irgendetwas zu unterhalten schienen. Sie erblickte seine Freunde und nickte.

      „Die beiden werden mir dafür, dass ich mich entfernt habe, nur verzeihen, wenn ich mit Ihnen Champagner trinke”, sagte Tristan und lachte.

      „Was hat es eigentlich auf sich - mit ihm?", fragte in diesem Moment sieben Meter entfernt der Künstler Marcus.

      „Was? Mit Tristan?", fragte Marcus zurück.

      „Ja”, erklärte der Künstler, „er ist so ganz anders als die Menschen, die man heute kennen lernt".

      „Findest du wirklich?"

      „Ich kenne ihn ja kaum, aber mir scheint, als lasse er niemanden so recht an sich heran."

      „Das ist es nicht”, widersprach Marcus lächelnd, „ihm ist das Geschwätz der Menschen nur zuwider. Dieses oberflächliche Gerede über Frauen, Geld und Macht ist ihm unerträglich. Du weißt, ich meine das, wovon es in der Bank und hier”, Marcus lehnte sich zurück und wies um sich, „so viel gibt."

      „Und die Frauen?" Der Künstler verkniff das Gesicht. „Wenn mich das Gerede ärgert, dann gehe ich zu den Frauen. Aber von denen läßt er wohl auch keine wirklich an sich heran."

      „Doch, und wie”, lachte Marcus auf. Ein kurzes tiefes Lachen, das in einem Moment sowohl Vertrautheit wie auch Verrat in einem einzigen Ton vermengte, „er bringt sie zum lachen, reizt sie, macht ihnen mit einem Blick Hoffnungen und fängt sie schließlich ein. Es ist, als tanze er mit ihnen, so sehr weiß er auf jede ihrer Bewegungen einzugehen, noch bevor sie merken, dass sie geführt werden. Ich habe niemals eine Einzige erlebt, die ihm nicht verfallen wäre."

      Marcus machte eine Pause und wandte sich sinnierend zu Tristan um, der sich mit der Frau in dem roten Abendkleid unterhielt.

      Dann seufzte Marcus und fuhr lächelnd fort:

      „Aber was kann er dafür, dass ihm die Frau, die er küsst, am nächsten Morgen nicht mehr schmeckt?"

      „Er mag sich nicht binden?”, fragte Cirrus.

      „Jeder Mann sucht nach einer Frau, mit der er Gemeinsamkeiten teilt; jemanden, in dem er sich auf eine gewisse Art wiederfindet. Auch Tristan tut dies. Jede der Frauen, mit der er sich einlässt und die ich kennen lerne, spiegelt eine Facette seines Wesens wider. Immer stellt sich jedoch heraus, dass es eben nur eine Facette ist. In dem Augenblick, in dem er dies begreift, lässt er sie fallen. Oft ist es nur die Schönheit, die sie mit ihm teilen. Dann dauert es nicht selten lediglich eine Nacht.