Paul Sandmann

Tristan


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ausgegeben, was sie wollten und ihnen von meinen Problemen zu Hause erzählt. Sie waren wirklich einfühlsam und die Ratschläge der einen waren besser als die meines Psychotherapeuten. Wenn du also mal Probleme haben solltest, geh nicht zum Paartherapeuten, sondern in den Puff. Nur zum Reden natürlich, sonst kannst du dir direkt die Kugel geben. Schlaf niemals mit deinem Psychiater."

      Marcus machte eine Pause, in der er sich mit dem Messer etwas Sauerkraut auf die Gabel schob. Kauend fuhr er fort: „Als die anderen wieder zurückkamen, war ich so betrunken, dass ich mir am nächsten Tag eine Ermahnung vom Boss anhören musste.” Marcus lächelte etwas säuerlich. „Er erklärte, dass mein Verhalten untragbar gewesen wäre!"

      Sie lachten ausgelassen und gaben dem Kellner ein Handzeichen, noch zwei Bier an ihren Tisch zu bringen. Das Lokal füllte sich nun, als mehr und mehr Londoner zum Mittagessen eintrafen.

      „Und du, wie sieht es mit dir aus? Du gehst doch öfter mit. Das erste Mal, kurz nachdem wir beide bei der Bank angefangen haben."

      „Ja, der Boss bat mich, einen älteren Kollegen zu begleiten, um der Gruppe das jugendliche Flair zu geben, das man benötigt, damit sich alle in der Gruppe jung fühlen können."

      Tristan nahm das Glas Bier auf, das ihm der Ober soeben hingestellt hatte, und tat einen tiefen Schluck. Marcus musterte ihn aufmerksam, bis endlich Tristan fortfuhr: „Ich war mir natürlich darüber bewusst, dass ich es mir als junger Analyst nicht leisten konnte, den Pakt der alten Herren zu brechen. Deshalb habe ich mir ein Mensch-Ärgere-Dich-Nicht-Spiel in die Tasche gesteckt und es, als ich mit der Prostituierten auf ihrem Zimmer war, vorgeholt. Ich versprach ihr, meine Firma werde ihr anderthalb Stunden mit allen Extras bezahlen, aber wir sollten, anstatt dieses Vergnügen tatsächlich gemeinsam zu begehen, lieber das Spiel spielen. Sie lachte wie ein Kind und bestellte Champagner aufs Zimmer und Früchte, um die wir spielen wollten. Während des Spiels erzählte sie mir dann von sich. Sie sei Studentin und finanziere sich hierdurch das Studium der Sozialwissenschaften. Als wir fertig waren, ging ich runter. Der Alte betrachtete mit gespieltem Erstaunen meine Rechnung, und die anderen klopften mir schwer auf die Schultern. Es ist wirklich ein armseliges Schauspiel, du hast vollkommen recht, aber es gehört nun mal zu unserem Job, und deshalb gehe ich regelmäßig mit”, schloss Tristan und griff erneut nach seinem Bier, während Marcus geräuschlos in sich hineinlachte. Dabei enthüllte sein Gesicht, ausgehend von den Augenwinkeln, eine Vielzahl kleiner Fältchen, die teilweise zu seinen dunkelblonden Augenbrauen emporstrebten, teilweise aber auch in einem kleinen Bogen über den Ansatz seiner Wangenknochen liefen. Der Anblick des strahlenden Lächelns, das aus dem mondförmig geöffneten Mund heraustrat, wirkte ansteckend auf Tristan, der ebenfalls über das ganze Gesicht lächelte.

      „Mensch-Ärgere-Dich-Nicht? Mein Gott, Tristan, du bist unfassbar!” Und endlich brach das Lachen aus ihm heraus, in das Tristan mit einfiel und das durch den ganzen Raum und selbst bis in die Küche drang, wo sich die zwei dicken deutschen Köche mächtig über den Lärm in der Gaststube zu wundern begannen.

      V

      Tristan fluchte, als auch das fünfte Taxi nacheinander aufheulend an ihm vorbeifuhr und einen Schwall dreckigen Wassers auf den Gehsteig sprühte. Dicht prasselten die Regentropfen dazu auf ihn hernieder. Wütend schnaufend zog er seinen Mantelkragen enger, kniff die Augen zusammen, in die der saure Regen tropfte, und setzte seinen Weg zu der nächsten U-Bahnstation fort, die er kannte. Dumpf und bleiern hing der Himmel über London. Ein Vogel flog eilig durch den nasskalten Wind, während das Klopfen der Ledersohlen auf dem Pflaster unter ihm von dem Geräusch des herabstürzenden Regens verschluckt wurde. Weshalb hatte er darauf bestanden, sich nach dem Essen die Füße zu vertreten, anstatt mit Marcus ein Taxi zu teilen? Marcus hatte die richtigen Schlüsse aus der plötzlichen Veränderung der Helligkeit gezogen, die sich jetzt zu einem tiefen Grau ausgeweitet hatte und die Gasse, die sich endlos vor Tristan auszudehnen schien, ausfüllte. Von seinem langen Haar troff ihm das Wasser in den Nacken, und angeekelt blickte er auf die schmutzigen Rinnsale zwischen den Steinen. Nach einer Zeit, die ihm schier endlos erschien, erreichte er endlich den Eingang zu dem unterstädtischen Tube. Er stampfte einige Male fest mit den Schuhen auf den Boden, um das Nass aus Leder und Kork seiner Schuhsohlen zu treiben, dann zog er sein Mobiltelefon aus der Manteltasche und dazu die Visitenkarte, auf der Isabella gestern ihre Nummer notiert hatte. Er wischte sich eine nasse Strähne aus dem Gesicht, lehnte sich an die kalte Wand und wartete, bis sie abhob.

      „Hallo?“

      „Hallo Isabella, ich bin in den Regenschauer geraten und wollte dich anrufen, bevor deine Nummer verschwimmt.” Sie musste das Lächeln in seiner Stimme gehört haben. „Ich komme gerade vom Brunch und bin auf dem Weg nach Hause. Da hab ich mich gefragt, ob du Lust hast, mich heute Abend in die Oper zu begleiten.“

      „In die Oper?“ Ihre Stimme klang erstaunt.

      „Ja”, lachte er, „ich hab noch eine Karte und würde mich freuen, wenn du mir die Ehre gibst.“

      Eine Pause trat ein, was Tristan ungläubige Falten auf die Stirn trieb. Er blickte gegen die hellen Kacheln des U-Bahnschachtes und erinnerte sich an das entzückende Bild, das Isabella in dem roten Kleid gestern Abend abgegeben hatte. Er fuhr fort: „Heute Abend wird ‚La Traviata’ aufgeführt, immerhin die berühmteste Oper der Welt. Bitte sag nichts ... oder warte”, wieder lächelte er, „sag einfach: Ich komme mit!“

      Er hörte, wie sie lachte, dann – endlich - sagte sie: „Ich komme mit.“

      Tristan machte eine Gebärde des Erfolgs und sagte noch schnell, bevor sie es sich anders überlegen konnte: „Fantastisch! Ich freue mich sehr. Dann verrate mir, wo ich dich abholen kann, sagen wir um halb acht, ja?“

      „Ja”, antwortete sie langsam und beschrieb ihm die Adresse. Tristan schloss die Augen und prägte sich den Straßennamen ein, bevor er sich verabschiedete und ihre Adresse schnell in seinem Telefon speicherte. Als er es in seine Innentasche zurücksteckte, wunderte er sich über sich selbst, denn er spürte, wie sein Herz pochte. Er schüttelte den Kopf, strich sich mit beiden Händen die feuchten Haare glatt und nahm seinen Weg in Richtung der Bahnlinie auf. An der Treppe bemerkte er, dass sein Zug eben gerade eingefahren war. Ein Mann rempelte ihn an, als Tristan lossprang, um noch an die Türen zu kommen, die sich gerade schlossen. Eine Frau sah ihn herbeihasten und hielt den Zug auf.

      „Hab ich doch noch mal Glück heute”, sagte er freudig und blickte sie an, während er an ihr vorbei in die Bahn stieg. Hinter ihm schloss sich die Tür, und er sah, wie sich das freundlich lächelnde Gesicht der Frau zuerst in Erstaunen wandelte und dann, als der Zug abfuhr, in Enttäuschung. Die Frau sah aus, als wolle sie etwas sagen. Dann verschwand sie. Hübsch war sie nicht, dachte Tristan bei sich und setzte sich auf einen freien Platz am Fenster. Er blickte in das monotone Dahinrasen der schattenbehafteten Kachelwände hinaus.

      Die beiden Frauen der vergangenen Woche erschienen vor seinem geistigen Auge ... Marie und Sam. Nackt räkelten sie sich vor den rhythmisch dahinziehenden Betonsäulen der Londoner U-Bahn. Liebe war schon immer faszinierend, umwerfend, bezaubernd, dachte er. Doch was, wenn nur die Frauen sie empfanden? Unwillkürlich begann er, über die Vorstellungen, die er sich als kleiner Junge über die Liebe gemacht hatte, nachzudenken. Heute schienen ihm diese Gedanken Überlieferungen aus einer lange verschollenen Zeit zu sein, vielleicht der von Goethe oder möglicherweise auch Shakespeare. Ist es heutzutage das gleiche Gefühl, das die Welt umspannt, wenn man von der Liebe spricht?

      Ein leises Lächeln stahl sich in seine Miene, während sein Sitznachbar ihn argwöhnisch zu mustern begann. Doch Tristan beachtete ihn gar nicht. Es scheint einfacher geworden zu sein, dachte er bei sich. Finde ich eine Frau bezaubernd, nehme ich sie mir, so einfach ist das. Die Romantik scheint völlig verflogen. Es scheint, als erwarte die Frau heute weniger, ja, als wolle sie sogar weniger als zu damaligen Zeiten. Er dachte an seine kindlichen Vorstellungen der vollkommenen Liebe zurück und lächelte erneut. Früher einmal war die Luft schwanger von gefühlvoller Atmosphäre gewesen. Da musste der Mann werben, kämpfen, sich lächerlich machen, um das Herz seiner Angebeteten zu erringen. Durch ihre hohen Anforderungen angestachelt und seine bisherigen Leistungen befeuert, wurde sie wirklich zum glühend-pulsierenden Zweck seines Denkens. Nichts konnte seinen Ehrgeiz