Paul Sandmann

Tristan


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als sie aus dem Bad heraustraten. Sie beugte sich ein wenig herunter, um sich abzutrocknen. Er dagegen nahm sich einen Bademantel und ging auf seinen Balkon hinaus, ohne auf die Wasserlachen zu achten, die er auf dem Marmorboden hinterließ. Draußen, in der frischen Frühlingsluft, fasste er nach der Kapuze und trocknete sich damit Gesicht und Ohren.

      Tristan spürte, wie ihm der eisige Hauch des Flusses in die Ärmel und um die Ohren wehte. Es fröstelte ihn. Doch, wie seltsam, er genoss die Kälte, die ihn einhüllte und seinen von der Dusche erhitzten Körper langsam auskühlte. Wie gern wäre er jetzt hinausgeschwommen, in die reißenden Ströme der Themse. Nur er und das Wasser, von Angesicht zu Angesicht. Er konnte förmlich spüren, wie ihn die Wogen umfingen, ihn aufnahmen und er eins mit ihnen wurde. Noch einmal atmete er tief ein und aus, dann wandte er sich zur Terassentür zurück. Sam stand dort, sein Mobiltelefon in der Hand.

      „Es hat geklingelt”, sagte sie mit spöttischer Miene.

      „Danke”, sagte er abwesend, küsste sie nachlässig auf die Wange und nahm ihr das Telefon aus der Hand. Er trat an ihr vorbei und wandte sich zu ihr um.

      „Es wird Marcus sein, wir sind zum Brunch verabredet. Möchtest du mitkommen?"

      „Wohin geht ihr?"

      Er nannte ihr ein Restaurant mit typisch deutscher Küche. Jeder in der Stadt wusste, dass es dort sehr fettige Kost gab und sich das Lokal hervorragend für den Morgen nach einem Trinkgelage eignete. Er wusste schon jetzt, wie sie antworten würde, warf ihr aber dennoch einen erwartungsvollen Blick zu.

      „Ich kann nicht mitkommen, leider. Ich bin schon zum Mittagessen verabredet."

      Sie war es nicht, da war er sich sicher. Frauen wie sie gingen nur ungern in Gesellschaft essen - dies machte ihr kleines Geheimnis anfällig, entdeckt zu werden. Trotzdem seufzte er, als wäre er enttäuscht, gab ihr einen Klaps auf den Po und sagte:

      „Das tut mir leid. Warte etwas, ich zieh mich eben an, dann nehmen wir gemeinsam ein Taxi ins Zentrum".

      Sie hob den Kopf wie ein Kind und er gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Dann ging Tristan zu seinem Kleiderschrank, wählte ein türkisfarbenes Hemd, einen beigen Pullover, Jeans und Lederschuhe. Nachdem er sich angezogen hatte, trocknete er sich das Haar. Während er dies tat, sah er Sasha hinter sich im Spiegel stehen. Ihre großen braunen Augen verfolgten neugierig jede seiner Bewegungen. Bevor er mit der Rasur begann, griff er nach dem Telefon, suchte Marcus’ Nummer heraus und rief ihn an.

      „Ich hatte mir schon gedacht, dass du noch beschäftigt sein wirst. Steht unsere Verabredung noch?"

      Tristan blickte Sam kurz an und antwortete: „Selbstverständlich. Wo bist du jetzt?"

      „Ich war gerade bei meiner Frau und den Kindern zum Frühstück. Aber keine Angst, ich hab kaum was gegessen."

      „Schaffst du es, bis eins dort zu sein?"

      „Ja, kein Problem. Dann bis gleich."

      „Bis gleich”, sagte Tristan und beendete das Gespräch. Er nahm den Rasierschaum und bedeckte damit Gesicht und Hals. Als er das Rasiermesser an seine Haut legte, um seinen Zweitagebart mit kurzen Bewegungen zu entfernen, erinnerte er sich daran, was Marcus gesagt hatte. Konnte er wirklich schon so früh zu seiner Frau und seinen Kindern gefahren sein? Welches Zeitmanagement!

      Es war Tristan immer noch ein Rätsel, wie die Ehe zwischen Marcus und seiner Frau in eine solche Krise gemündet sein konnte. Sie kannten sich seit der Schule, waren bereits in der zehnten Klasse zusammengekommen. Er, der Kapitän des Rugbyteams, und sie, ein Mädchen aus gutem Haus, um deren Gunst sich viele ihrer Mitschüler vergeblich bemüht hatten. Sie war so hübsch gewesen. Nachdem Tristan bei der Bank angeheuert hatte und Marcus und er sich angefreundet hatten, waren sie noch immer zusammen gewesen. Amy hatte gerade ihr zweites Kind, einen aufgeweckten kleinen Jungen, zur Welt gebracht. Beide waren überglücklich und stolz, Tristan ihre kleine Familie zu präsentieren, als sie ihn eines Tages zum Abendessen einluden. Tristan hatte damals ein Mädchen, das er tags zuvor in einem Cafe kennen gelernt hatte, mitgenommen. Seine Begleiterin war von dem verliebten Ehepaar, ihrem kleinen Haus und den pausbäckigen Kindern ganz entzückt gewesen.

      „Man sieht, dass sich die beiden seit Jahrzehnten kennen. Sie wirken wie eine Einheit, wie zwei Bäume, die über die Jahre hinweg ineinander gewachsen sind."

      Tatsächlich strahlten beide ein derart großes Vertrauen und eine Ruhe aus, dass es Tristan damals für seinen Freund ganz besonders gefreut hatte. Er hatte die gemeinsamen Sonntagabende genossen, hatte jedoch auch bemerkt, dass Amy von den fortlaufend wechselnden Namen seiner Begleitung nicht ganz angetan gewesen war. Dies empfand er als schade und war enttäuscht, als Marcus ihm irgendwann sagte, Amy und er hätten am kommenden Sonntag leider keine Zeit für das gemeinsame Diner. Tristan hatte mit den Schultern gezuckt und den Mund verzogen, worauf sich Marcus entschuldigt und ihm den eigentlichen Grund verraten hatte.

      In den darauf folgenden vier Monaten hatten sich Marcus und Tristan deswegen seltener sehen können. Selbstverständlich arbeiteten sie täglich im gleichen Büro und gingen nach wie vor gemeinsam mittags zusammen essen. Trotzdem gelang es Amy, ihren Mann an den Feierabenden und am Wochenende aus Tristans Nähe zu herauszulösen. Marcus berichtete im Büro von vermehrten Ausflügen aufs Land mit den Kindern, auch davon, dass Amy wieder Kontakt mit Freunden aus der Schulzeit aufgenommen hatte, die ebenfalls Familien gegründet hatten, und mit denen sie sich jetzt regelmäßige Besuche abstatteten. Zunächst wirkte Marcus aus diesem Grund sehr froh, und Tristan gestand seinem Freund diesen Lebenswandel auch gerne zu, wenngleich er für sich selbst nichts an der leichten Art, in der er sein Leben gestaltete, ändern wollte. Er sah weiterhin viele unterschiedliche Frauen, wobei allerdings keine darunter war, die auch nur die geringste Chance hatte, eine ernstere Beziehung mir ihm zu führen. Er genoss das glitzernde Nachtleben Londons in vollen Zügen und hatte unterdessen leicht neue Freunde gefunden, die an Marcus’ Statt mit ihm durch die Clubs und Bars der Stadt zogen. Sie waren gleichfalls Kollegen aus der Bank, wenngleich auch roh und in ihrem Wesen vollkommen ungeeignet, jemals eine tiefere Freundschaft zu unterhalten, die auch nur ansatzweise mit dem Vertrauen verglichen werden könnte, das sich so schnell zwischen Tristan und Marcus gebildet hatte.

      Jedenfalls reichte es aus, um mit ihnen gemeinsam trinken zu gehen und dies als Plattform für Bekanntschaften mit dem schönen Geschlecht zu nutzen. Vielleicht ein halbes Jahr ging so ins Land, in dem die beiden Kollegen Marcus und Tristan nun beim Mittagstisch Gesellschaft leisteten, Tristan auf die Schulter klopften und die Erlebnisse des vergangenen Abends mit ihm besprachen. Natürlich fragten sie auch Marcus nach dessen Wochenende, jedoch wechselten sie wieder schnell das Thema, wenn sie seiner Ausführungen über die Freuden der Familie überdrüssig wurden. Es begann sich abzuzeichnen, dass sich die Welten der beiden Männer verschoben und voneinander abrückten. Dies geschah zu Beginn unmerklich, trat jedoch nach einer Weile so offenkundig in das Bewusstsein beider Männer, dass sie hin und wieder einen Schimmer der Trauer im Blick des anderen wahrzunehmen schienen, sobald sie sich anschauten. Insbesondere Marcus glich nicht mehr jenem, den Tristan früher einmal kennen gelernt hatte. Die Balance, die er zwischen seiner frühen Familiengründung und seinem noch jugendlichen Alter damals fertig gebracht hatte, und die ihn wie einen Seiltänzer stabil und zufrieden durch die Aufregungen des beruflichen Lebens in der City hatte wandern lassen, diese Balance war nun verschwunden. Er wurde stiller, wenn sie gemeinsam essen gingen und wirkte auch am Arbeitsplatz weniger im Einklang mit sich und der Welt. Einmal, erinnerte sich Tristan, hatte er nach einem Telefonat auf den Tisch geschlagen, Tristan mit vor Wut bebender Miene angesehen und war davongeschritten. Dies war ausgesprochen ungewöhnlich gewesen und entsprach keinesfalls jenem Marcus, den Tristan kannte. Einige Wochen später hörte er zufällig, wie Marcus seine Frau am Telefon verabschiedete. Tristan hatte aufgehorcht, da die Stimme seines Freundes merkwürdig gereizt wirkte, dazu so dunkel wie verrostetes Blech, auf das jemand schlug. Drei Monate darauf bat Marcus Tristan schließlich darum, nur zu zweit essenzugehen. Tristan stimmte zu - er selbst wollte hören, was seinen Freund so sehr bedrückte und ihm diese tiefen Ringe unter die Augen getrieben hatte.

      „Es ist aus”, sagte Marcus nach einer Weile, in der sie ganz still gewesen waren, "Amy und ich nehmen eine Auszeit, aber ich glaube nicht daran, dass