Paul Sandmann

Tristan


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retten konnte. Deshalb legte er diese ab und sah Tristan an.

      „Was war eigentlich gestern noch mit dir und diesem Ding?“, fragte er Tristan.

      Der blickte von seinem Salat auf und ließ den Blick für einen Moment auf dem verspannten Gesicht des Bankers ruhen.

      „Mit uns? Nicht viel”, antwortete Tristan schließlich, wandte den Blick wieder ab und probierte von der Lachsterrine.

      „Das kannst du vergessen, der spricht nie über seine Affären. Er nimmt sie eine nach der anderen mit nach Hause, aber passieren tut angeblich nie was.” Steve klopfte Tristan auf die Schultern. „Denn Tristan ist ein Mönch, wisst ihr?“

      „Bei mir”, warf George ein, „wurde gestern noch gefeiert. Die Kleine hat geschrien wie eine Harpyie, aber ich sage euch, meine Lieben, der Abend war lustvoll.“ Dabei machte er eine eindeutige Geste, die Tristan die Terrine im Halse stecken bleiben ließ. Nun drohte eines jener Gespräche zu entbrennen, das wieder zur allgemeinen Verbrüderung beitragen musste, indem ein jeder wie ein Jäger das noch blutige Wildbret knallend auf den Tisch wirft und damit beginnt, den anderen die Geschichte seines Erfolges zu erzählen. Und wie sie auf diese Weise ihre Beute ein zweites Mal vor den vor Neugier weit aufgerissenen Augen der Brüder ausweideten, leerte sich das Lokal langsam, denn die Mittagspausen neigten sich dem Ende zu. Wie erlöst übernahm Tristan für heute die Rechnung, ließ die anderen schon vorausgehen, um eine Zigarette zu rauchen und sagte dem Mädchen beim Aufstehen: „Es tut mir leid, Mademoiselle. Ich hoffe, Sie verzeihen diesen Rohlingen.“

      „Kein Problem.” Sie lächelte schüchtern.

      „Sind Sie neu in der Stadt?“, fragte er.

      Sie nickte.

      Er betrachtete die Blonde einen Augenblick. Sie selbst schien nicht daran zu glauben, dass er ihr nun eine weitere Frage stellen würde. Deshalb lächelte er nur, nickte dem Mädchen zu und öffnete die Tür des Lokals.

      Tom schob sich an George und Steve vorbei durch die Tür, rempelte einen Passanten an und entfernte sich mit verärgerter Miene. Er lief an den Schaufenstern der Bistros und Cafés vorbei, die die Straße säumten.

      Toms Gesicht war das eines schönen Mannes. Allerdings begann eine Anspannung, die nie daraus weichen zu wollen schien, allmählich ihre Spuren darin zu hinterlassen. Die Kiefer, die immer etwas nach vorn geschoben waren, hatten den Muskelbau beeinflusst und jene Filamente seitlich des Gesichts gestärkt, während sie jene an den Wangen, die für das Lachen zuständig waren, schwächten. Solange die Fasern über Zähnen und Knochen noch jung gewesen waren, hatten sie keiner Entspannung bedurft. Jetzt aber begannen die Wangen einzufallen. Seitlich des Mundes wölbte sich die Haut und warf senkrecht von den Mundwinkeln abfallende Falten, die eine lang anhaltende Unzufriedenheit verrieten. Er mochte sich einbilden, dass dies genetische Veranlagung sei, aber kein Gesicht ist gegen die Zehntausenden von Stunden des immergleichen Mienenspiels gefeit, die letztlich ihre Spuren werfen müssen.

      Auch schien Toms Hautfarbe nicht mehr so frisch wie die seiner Kollegen gleichen Alters zu sein. Aber wie sollte die Haut auch strahlen, wenn das Gewebe, das darunterlag, solch einer andauernden Anspannung ausgesetzt war? Toms Gesicht fehlte es angesichts dieser eingeschliffenen Verbissenheit an Spontaneität. Er lächelte regelmäßig um wenige Sekunden verspätet, sein Lachen konnte sich einer gewissen maskenhaften Erstarrung nie vollends entledigen.

      Unbewusst auf diesen Makel reagierend, um seine Gesprächspartner nicht zu entfremden, hatte sich Tom angewöhnt, die Aussagen seines Gegenübers durch zustimmendes Nicken oder aufmerksame Laute zu unterstützen. Dies gab ihm manchmal einen Zug von Unsicherheit, dem jedoch ein Missverständnis zugrunde lag.

      Toms Augen hingegen hatten nie ihre Lebhaftigkeit verloren. Auch wenn sie ihr Gegenüber die meiste Zeit über scharf in den Blick fassten, reagierten sie auf jede humoristische Spitze mit einem Lächeln. Der scharfe Sinn dieses Mannes ließ seine Augen diese Reaktion vielleicht schneller verraten, als es bei anderen Menschen der Fall war, wodurch Toms Augen und Mundpartie in einen eigentümlichen Kontrast traten, wenn die Gespräche weniger ernsthaft wurden. Alles in allem war Tom die Verkörperung des Widerspruchs. Seine Schönheit, seine Intelligenz und Sportlichkeit hätten ihn in die Mitte jeder Gesellschaft befördern sollen. Aber sein zu jeder Sekunde bis zum Zerreissen gespannter Geist und sein unruhiges Wesen verhinderten dies. Diese Tatsache musste diesen Menschen schließlich zerstören.

      Und genauso sprach Tom auch. Seine Stimme klang verzerrt, wie von dem Wissen um seinen eigenen Widerspruch schrecklich plärrend. Ganz so, als wollte ein Teil seiner Stimmbänder dem Gesagten Ausdruck verleihen - hoch und voller Emotionen -, während der andere Teil dunkel klang und Stärke vermitteln sollte.

      Wieder rempelte Tom einen Fußgänger an, entschuldigte sich höflich, machte noch ein paar Schritte und verschwand dann im Büroturm der Bank.

      III

      Acht Stunden später drehte Tristan den Schlüssel in dem Türschloss zu seiner Wohnung herum. Eine halbe Umdrehung genügte, das Mädchen vom Vorabend hatte die Tür also einfach hinter sich zugezogen. Dunkelblau schien das Licht der Stadt durch die Glaswände seines Apartments. Er legte die Hand auf den Schalter und machte Licht. Die Ledertasche ließ er auf das Sofa fallen, dann ging er zum Kühlschrank hinüber und öffnete ihn. Das Sushi war noch da. Er griff danach, träufelte sich etwas von der schwarzen Sojasauce auf die kleinen Röllchen, deren Reis sich sogleich durstig verfärbte. Wo hatte er das Wasabi gelassen? Er ging zum Schrank hinüber, doch dort war die grüne Paste nicht. Er kniete sich zu Boden und öffnete die hüfthohen Holztüren. Fehlanzeige. Auch drüben am Herd war nichts zu finden.

      „Das Haus hat kein Wasabi mehr”, sagte er verblüfft zu sich selbst und ging zu dem Stehtisch, der die Küche von dem Badeingang abgrenzte. Darauf lag etwas, was vorher nicht dort gewesen war. Er griff nach dem Zettel. In geschwungenen Lettern waren dort ein paar Worte und eine Telefonnummer aufgeschrieben worden. Marie hatte fünfzehn Minuten gebraucht, um die Worte richtig zu Papier zu bringen. Jetzt, da Tristan sie las, stieß er einen kurzen Luftstoß aus, der wohl ein abgehacktes Lachen zu sein schien, drehte den Zettel um und vermerkte hier für seine Haushälterin Marta in klar lesbarer Schrift: Wasabi. Er hob den Kopf, blickte kurz nachdenklich aus dem Fenster in die anbrechende Nacht und schrieb weiter. Er brauchte dringend zwei Flaschen Champagner. Marta kannte den kleinen Laden, der seine Lieblingsmarke führte. Dann heftete Tristan den Zettel an den Kühlschrank, zog sich aus und ging ins Bad. Er musste sich etwas beeilen - in einer Stunde war er mit zwei Kollegen in der Skylounge verabredet.

      Gerade stieg der Mond wächsern hinter den fahlen Hochhäusern der City auf, als Tristan die Bar betrat. Eingerahmt von seinen zwei Freunden schritt er langsam an den tiefen Sitzkissen und den gedämpften Unterhaltungen vorbei. Sein dunkelbraunes Haar war noch feucht und hing ihm bis zu den Wangen ins Gesicht. Zum Rasieren hatte er keine Zeit mehr gehabt, so dass ein leichter Schatten in seinem Gesicht lag, der seinen blauen Augen einen feinen Kontrast bot. Hier in der lauen Brise der Stadt, die zum abendlichen Leben erwachte, gingen die drei Männer zu ihrem reservierten Tisch. Sie setzten sich. Marcus entledigte sich seines Jacketts und krempelte die Ärmel hoch, ganz so als mache er sich nun an den zweiten Teil seines Arbeitstages. Dabei bestellte er lediglich einen Gin Tonic. Der andere orderte einen Absinth.

      „Und für Sie, mein Herr?“, fragte der klassisch gekleidete Ober.

      „Einen Rum Cola. Kubanischen Rum bitte.“

      „Sehr wohl”, sagte der indische Junge und drehte ab. Wie auf Schienen glitt er an weiteren Gästen vorbei und verschwand in Richtung Bar. Marcus begann sich mit dem anderen, Cirrus Baker, zu unterhalten. Cirrus arbeitete nicht in der City, Marcus kannte ihn noch aus der Schule. Er war freischaffender Künstler, hatte im Dachgeschoss eines alten Backsteingebäudes an der Carnaby Street sein Atelier und verdiente für einen Künstler nicht schlecht. Dies hatte er nicht zuletzt seiner Überspanntheit zu verdanken, die er immer zur Schau stellte, wobei unerheblich war, ob er sich in einem Golfclub oder an einer Fast-Food-Theke befand. Gerade erzählte ihm Marcus gestenreich die Geschichte des Vormittags.

      „Vorzüglich!“, keuchte der Geck, „das bringt mich auf