Paul Sandmann

Tristan


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      Dieser Mann früherer Zeiten sang, tanzte und focht für den Traum seines Herzens. Und all dies wurde wie selbstverständlich von der Dame entgegengenommen. Mehr noch, sie regte ihn sogar zu weiteren Höchstleistungen an, indem sie zuneigungsvolle Genüsse rar machte - und ihnen dadurch höheren Wert verlieh. Jeder Augenaufschlag schien verheißungsvoll, jedes persönliche Wort wog schwerer. Die Distanz, die sie schuf, ließ den Mann die Frau vergöttern. Sie zu einem höheren Wesen werden. Die Liebe, die sich in der Brust des Mannes entfachte, und die durch neu und immer neue Geschenke befeuert wurde, hatte die Macht, entweder frisches Leben zu schenken oder zu töten. Wurde man nach hingebungsvollem Streben irgendwann erhört, wurde man durch diese Frau geadelt. Sie war nicht Trophäe, sondern größter fassbarer Erfolg, errungen in Hunderten von Schlachten. Mit ihr vervollkommnete sich das Selbstbild und der Stolz auf die eigenen Fähigkeiten. Dieser Erfolg konnte für ein ganzes Leben beflügeln, konnte aus einem Niemand einen besonderen, vor Erfolg sprühenden Jemand machen. So einen wie Marcus. Der aber hatte offenbar vergessen, was seine Frau aus ihm gemacht hatte.

      Allerdings, dachte sich Tristan, konnte diese damalige Liebe auch töten. Kämpfte man für einen Traum, der sich im Nachhinein als zwar möglich, aber unerfüllbar herausstellte, und in dem die Frau als die Rettung der eigenen Seele hochstilisiert wurde, in dem nichts anderes mehr von Wert war außer ihr - sie, die die Sonne war, um den jeder Gedanke kreiste -, vernarrte sich der Mann in seinem Tun derart in dieses Ziel und verlor dabei jedwede Sicht für mögliche Konsequenzen - Konsequenzen, die abseits seines Traumes lagen -, dann konnte diese Liebe auch töten. Denn wenn sie verschmäht, abgewiesen, letztlich nicht erwidert wurde, starb mit ihr auch der Lebensinhalt. Der Mann hatte zugelassen, dass das Bild dieser Frau alles weitere in seinem Herzen verdrängte, ja, nichtig machte. Statt mit dem Taschentuch der Dame gesegnet zu werden und als erfolgreicher Ritter zu erstrahlen, wird der Mann zur tragischen Figur, zum Narren, über den die teilnahmslose Welt nur spotten und lachen kann.

      Was also ist aus dieser Liebe geworden? Was ist aus der musikschwangeren Luft geworden, in der hingebungsvolle Blicke gewechselt wurden? In der der Gesang des Mannes die Erwiderung der Dame fand, eine Hand die andere aufforderte, und in der Sinatra noch verstanden wurde, anstatt nur gehört zu werden, weil es als stilvoll gilt, sich mit seinem Atem, seinem Klang zu schmücken.

      Die dreckigen Betonmauern zogen wie gerahmte Dias seiner längst vergessen geglaubten Empfindungen an Tristans Fenster vorbei. Doch nun schienen sie wie zu neuer Farbe erweckt. Neue Fragen stiegen in ihm auf: Hat es mit den zerstörten Ehen zu tun, die ihre Kinder an dem Gedanken der Liebe zweifeln lassen? Sicherheit, jedoch um den Preis des Wartens und der Romantik? Vielleicht hat diese Generation der Elternlosen den Anschluss an diesen Traum verloren. Wahrscheinlich genügt es ihr, sich mit den fleischlichen Überresten eines solchen Gedankens vollzustopfen. Den Magen zu füllen und dabei nicht zu bemerken, dass das Fleisch, so gegessen, keinen Geschmack hat. Geschmack sind sie wahrscheinlich gar nicht mehr gewohnt, besaßen ihn nie, und wenn, dann ist die Erinnerung daran so alt, dass sie mittlerweile lang verblasst ist. Voller Angst hocken diese, der Liebe beraubten Kinder in ihrem Leben, ergreifen die nächste Hand, die sich ihnen bietet, ohne sich seelisch wirklich zu binden. Nehmen die Hand, weil sie verspricht, man werde nicht mehr allein sein.

      Sein rechtes Augenlid begann nervös zu zucken. Die Gedanken drohten sich auf ihn selbst zu richten, doch es gelang Tristan, sie wieder von sich wegzuschieben. In seinen Augen war er anders, wartete eben nur auf die Richtige. Vertrieb sich die Zeit mit den Falschen, solange er die Eine nicht fand und gönnte keiner, lange bei ihm zu verweilen, aus Angst, darüber die Richtige zu verpassen. Seine Gedanken richteten sich wieder zurück auf die Welt und seine Kritik an ihr.

      Welch trauriges Spiel sich da in der Welt entwindet! Gefällt einem eine Frau, nimmt man sie sich, ohne dass der Sache zwischen den beiden Menschen irgendwelche Bedeutung verliehen wird. Indem man sich selbst und ihr keine Bedeutung, weder die nötige Zeit noch den Respekt zugesteht, geht der Sinn vollends verloren. Man nimmt sie sich. Frisst sich an der Schönheit ihrer Hülle satt, und wenn man sich schließlich gesättigt hat, verfliegt das Interesse. Genauso schnell wie es gekommen war.

      Warum das Interesse heute so schnell verflog? Er wusste es nicht.

      Tristan seufzte, und sein Gegenüber stand auf, um an der nächsten Haltestelle den Zug zu verlassen. Der Mann blickte zu dem vollkommen durchnässten Jüngling zurück, der sinnierend und von Gedanken überwältigt, dort hinten am Fenster saß.

      Das Werben fehlt, stellte Tristan erneut fest. Nimmt sich die Frau die Zeit, den Mann für den Kern zu begeistern, ihm zu verstehen zu geben, dass es der Kern ist, der - verhüllt - das wirkliche Geschenk darstellt. Erst dann lässt sie ihn wieder zum Ritter werden. Nun mag er wieder sein volles Potential entdecken, in seinem Ringen an neue Grenzen gehen, und das, für das er kämpft, wertschätzen. Erst jetzt wird das eigentliche Geschenk der Liebe beiden zuteil. Das, was sie zu besseren Menschen werden lässt: Die Idee. Die Idee der Liebe. Erreicht man dies vollkommen essentielle Geschenk eines Lebens, ist alles weitere Kinderspiel. Beflügelt, beseelt von der Liebe des Lebens, erscheint alles andere ganz leicht.

      Tristan wurde übel. Bier und Schnitzel schienen ihm nicht zu bekommen. Er griff sich an den Magen und löste den Blick vom Fenster. Er schluckte, um sich nicht hier drinnen übergeben zu müssen. Noch immer war sein Gegenüber nicht ausgestiegen. Die Tür öffnete sich, doch der Mann blieb eine weitere Sekunde stehen, den Blick ruhig auf Tristan geheftet. Jetzt blickte auch Tristan ihn zum ersten Mal bewusst an. Dieser Mann war dunkelhäutig und alt. Sein krauses Haar hatte hier und dort weiße Strähnen, die ihn wie einen grau gewordenen Panther aussehen ließen. Er war ein armer Mann, das sah man. Tristans Blick fiel auf die Augen, die ihn tiefschwarz und unergründlich anfunkelten. Die dickporige Haut verzog sich und legte sein Gesicht in Falten. Trockene Lippen zogen sich zitternd die Wangen empor und schienen sie zerreißen zu wollen. Darunter bleckten weiße Schneidezähne hervor, so dass Tristan erschrak. Es war, als wenn sich eine kalte Hand um sein Herz legte und es zusammenpresste. Das Schweigen war tief, hing schwer und grausam zwischen Tristan und dem Panther im Abteil ... und schien Tristans Herzschlag zu ersticken.

      Tief sog er die Luft ein, schloss die Augen und hörte sein Herz schlagen. Dann blickte er erneut zur Tür. Doch sie stand leer. Er sah zum Fenster, doch der Mann ging vorbei, ganz so, als sei gar nichts gewesen. Tristan lehnte sich wieder gegen das Plastik seines Sitzes zurück und spürte, dass die Übelkeit langsam wich. Er schloss die Augen und atmete noch einmal tief ein und aus. Niemand sonst in dem Abteil schien seinen kurzen Schwächeanfall bemerkt zu haben. Selbst die Frau neben ihm las unbekümmert ihre Zeitung, als sei nichts geschehen. Und letztlich war es auch so. Tristan blickte wieder aus dem Fenster, doch die Diashow war vorbei. Lediglich Beton und Schmutz zogen an ihm vorbei. Der Rahmen blieb leer. An der nächsten Haltestelle stand er auf und stieg aus. Er beschleunigte seine Schritte, erreichte den Ausgang der U-Bahnstation Southwark und wandte sich zur Blackfriars Road. Er spazierte Paris Garden entlang, bis er schließlich zum Upper Ground kam, in dessen Nähe er wohnte. Das zwölfstöckige Haus, in dem sich seine Wohnung befand, wurde größtenteils von Unternehmerfamilien bewohnt. Banker lebten hier nicht, da sie Orte wie Chelsea, Redcliff Gardens und Sloan Square bevorzugten. Tristan aber gefiel es hier. Er liebte den Blick auf die Themse und die Distanz, die er zwischen sich und die anderen Männer seiner Branche brachte. Als er den Aufzug nahm, dessen Boden nass und schmutzig war - von jenen, die ihr Zuhause vor ihm erreicht hatten -, klingelte sein Telefon.

      „George, du bist es”, sagte Tristan.

      „Hey, mein Freund”, rief George, dessen Zunge bereits etwas schwer zu sein schien, „ich bin gerade mit Steve im Pub. Der erzählte mir eben von dem großen Wurf, den unsere Bank macht...“

      Tristan winkte ab. „Bitte George, nicht jetzt. Ich habe Wochenende.“

      „Schon gut, schon gut. Dann was ganz anderes: Wie war dein Abend gestern? Ich habe gehört Marcus und du, ihr seid zusammen weggewesen.“

      „Ja, ich komme gerade vom Brunchen mit ihm zurück. Wir hatten gestern ein paar Drinks oben in der Skylounge. Bei dem Wetter heute könntest du dort wahrscheinlich schwimmen.“

      „Wir waren gestern unten in unserem Stammclub”, George stieß einen hohen Laut aus, „es war einfach göttlich, mein Lieber.“