Rita Kuczynski

Die gefundene Frau


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Das Licht war nicht schmutzig hier unten. Es war matt.

      An einer Auffahrt zur Untergrundbahn wohnen, könnte mir gefallen: Zu jeder Zeit sehen, ob die ankommende Bahn ihren Weg nach oben oder nach unten nimmt. Bei Tag und bei Nacht wissen, ob der vorbeirollende Zug hinauf- oder hinunterfährt. Durch einen Blick aus dem Fenster im dritten oder vierten Stock des Hauses eine Gewißheit erlangen. Beide Richtungen im Blick haben können. Sich niederlassen an der Einfahrt zum Tunnel und damit an seiner Ausfahrt. An solch einem Schnittpunkt wohnen, ja das wäre gut. Ich wüßte Bescheid zu jeglicher Zeit: wenn es nicht aufwärts ginge, ginge es hinab. Das wäre eine Möglichkeit, jedenfalls für mich. In der Gewißheit leben, diesen einen Punkt zu kennen, an dem die Untergrundbahn zur Hochbahn und die Hochbahn zur Untergrundbahn werden kann. Aus dem Fenster im dritten oder im vierten Stock sehen können, wo lang es ginge. Ja, das wäre ein Ort für mich und darüber hinaus ein einzigartiges „Programm“. Ein Programm, das den herkömmlichen „Programmen“ schon von der Perspektive her überlegen wäre: Ich sähe hinaus und nicht hinein ins Fenster. Und wenn ich hinaus sähe aus dem Fenster, sähe ich ein Geschehen, das überprüfbar ist zu jeder Zeit. Sehe ich hingegen hinein ins Fenster, ist das Geschehen am Bildschirm schon lange nicht mehr zu überblicken, jedenfalls für mich, obwohl ich die Größe der Fenster mit Hilfe des Cursors selbst bestimmen kann.

      Ich stolperte. Das Band war zu Ende. Die Rolltreppe verschwand im Boden. Ich heiße Agnes, versicherte ich mir und ging auf den Bahnsteig zu.

      Eine U-Bahn verließ den Bahnhof. Eine andere fuhr nicht ein. Noch konnte ich die Richtung nicht wechseln. Ich hatte keine. Ich sah auf die Gleise. Ich nahm nicht die erste Bahn, auch nicht die zweite. Ich nahm die dritte Bahn.

      Im Tunnel Notlichter, das sind Glühbirnen hinter Gittern. Die Mitte des Tunnels durch weit auseinander stehende Stahlträger nur markiert. Die eigentliche Grenze der entgegenkommende Zug.

      Die Grenze daher fließend und nur von Zeit zu Zeit angezeigt. Ihre Beständigkeit abhängig von der Zugfolge, die im Berufsverkehr am höchstens ist. Ihre Dichte bestimmt durch die Geschwindigkeit des entgegenkommenden Zuges. Verdoppelung der Fahrtgeschwindigkeit am Fenster das äußerste Maß, sowohl für die Mitte als auch für die Grenze. Aneinander Vorbeikommen ihr Bestand.

      Aneinander Vorbeikommen! Wenn sich eine Richtung abzeichnen lassen wird für mich, wird sie in diesem Aneinander-Vorbei bestehen. Das eine im anderen also nicht berühren und dabei so tun, als ob es weiterginge. Dann geht es nämlich immer so fort. Wenn nicht hier, dann dort, wo es ein Zurück nicht gibt. Sich annehmen und in der Endlosigkeit selbst eine Chance, also einen Anfang sehen.

      5

      Ich hatte unbeschreiblichen Hunger auf eine Currywurst mit braunem Senf. Ich fuhr zur „Stadtmitte“, wo die Currywurst mit Senf am besten schmeckt. Das war ein übersichtliches Ziel, erreichbar auf dem Schienenweg. Ich mußte nicht einmal den Tunnel wechseln.

      Das Geld vom Grabstein sollte angelegt werden, dachte ich. Am günstigsten sind zur Zeit Investmentfonds. Der Vorteil eines Investmentfonds besteht darin, daß das Geld täglich verfügbar bleibt. Ich muß schnell heran können an das Geld. Also chancen-orientierte Anlagen, stand in dem Prospekt der Bank.

      Eine vom Computer simulierte Frauenstimme, kündigte den Umsteigebahnhof „Stadtmitte“ an. Elektronisch modulierte Sprach-Freundlichkeit wies auf die Möglichkeiten des Umstiegs zu den Linien hin, die diese Mitte hier kreuzten. Ich begab mich wieder auf die Rolltreppe. Sie endete an der Unterführung, die diese zwei Untergrundlinien miteinander verband. Ich mußte weiter aus eigener Kraft.

      Der Stand, an dem es Currywurst mit scharfem Senf gab, befand sich am Aufgang zur Linie D. Der Weg dorthin beinahe ein Kilometer lang. Die Unterführung überfüllt von Menschen auch nach Mitternacht. Voll von Leuten, für die Draußen hier ein Drinnen geworden war. Die Wände sprachen davon. Sie waren voller Bilder, die ein Obdach gefunden hatten, denn dieser Tunnel blieb als Ort beständig. Künstler hatten es schnell begriffen und sich zu Underground-Gruppen zusammengefunden. Konzentriert zeichneten sie ihre Ansichten in Öl, in Tusche, in Aquarell. Immer neue Mischtechniken wurden an den Wänden ausprobiert. Bis auf Graffiti war alles erlaubt, was nach GRUND in dieser Unterführung suchte. Die Wände hier waren als Chance, nicht als Hindernis angenommen worden. Begrenzung als Möglichkeit, die Geborgenheit versprach. Ja, das machte den Charme dieser Unterführung aus. Einige boten gleich ihr Lebenswerk zu erheblichem Rabatt an.

      Die Objektkünstler beeindruckten mich auch diesmal am stärksten. Stellten ihre Installationen den zur Verfügung stehenden Ort doch auch wieder in Frage. Füllten ihre Gegenstände den Raum mit einer so immensen Spannkraft von oben nach unten und von unten nach oben, daß sie auf seine Grenzen wiesen. Die Frage, ob und wie es weiterginge, wenn die Installation „Erde in Grün“ aus den Schutzraum nach oben durchbräche, drängte sich hartnäckig auf, je länger ich vor ihr stand.

      Da jeder Künstler hier unten seine Chance aufs neue bekommen sollte, wurden die Tunnelwände von Zeit zu Zeit mit weißer Farbe überstrichen. Das Prinzip der Chancengleichheit war für die Gemeinde in dieser Unterführung ein unumstößliches Prinzip und wurde mit rituellem Ernst gehandhabt.

      Die Currywurst schmeckte vorzüglich. Ich holte gleich noch zwei. Wortlos schlang ich sie in mich hinein. Mir tränten die Augen von dem braunen Senf.

      Die Grabstelle läßt sich schwarz verpachten, dachte ich und konnte mich gegen den Gedanken nicht wehren.

      Es gibt Makler für solche Immobilien. Wenn das Doppelgrab für zehn oder gar für fünfzehn Jahre vergeben werden könnte, wäre ein guter Preis drin. Zwei Erdstellen in bester Friedhofsgegend. Mittelgang, Blick auf die Kapelle. Verkehrsgünstig liegt der Friedhof auch. War doch erst vor einigen Jahren ein Teil des Gottesackers an die Stadt verkauft worden, weil sich der Bau einer Umgehungsstraße für das Stadtzentrum nicht länger hinauszögern ließ.

      Gedankenversunken schnipste ich den Plastikteller in den Abfalleimer und behielt das papieren helle Geräusch seines Aufpralls im Ohr. Es ging über in Klangfetzen, die ich schon zum dritten oder vierten Mal hörte, obwohl ich mich wehrte, sie hören zu wollen. Ich wollte nie wieder Opfer meiner Halluzinationen werden. Ich hatte mich nicht hinter mir gelassen, damit ich in diesem Tunnel hier Tonfolgen aus einer Zeit zu hören bekam, aus der ich auf so umständliche Weise herausgetreten war.

      Ich versuchte mir, durch Konzentration auf das Geschehen an diesem Ort, zu verbieten, was ich hörte. Eine elektronische Orgel spielte das Thema des adagio, das zuletzt in New York so unerwartet auf mich zugekommen war.

      Ich blieb stehen und hielt mir die Ohren zu. Das änderte nichts daran, daß eine Hammond-Orgel schon die zweite Variation auf das adagio in langsamen Halbtonschritten aufsteigen ließ, um in plötzlichem Tempowechsel schneller immer schneller zu werden. Der abrupte Wechsel des Tempos und die sich noch immer beschleunigende Variation, brachte ein Vibrieren in mich. Ich hatte Mühe, vor erhabener Rührung nicht loszuheulen. Rührung, von der unklar war, wem und was sie galt.

      Wie sehr haßte ich Liederlichkeiten in Gefühlssachen. Verabscheute diffuse Trauer und deren unberechenbaren Umschlag in Selbstmitleid. Lebenslänglich bin ich mit ungeheuerlicher Kraft und Härte gegen jegliche Sentimentalität in mir angegangen. Sollten die Anstrengungen aus all den Jahren ihr Ende darin gefunden haben, daß ich in dieser Unterführung vor einem Abfalleimer voll von fettigen Papptellern mit all den Sentimentalitäten konfrontiert wurde? Sollte meine Arroganz, diffuse Gefühle durch Willensstärke niedergehalten zu haben, hier an diesem Imbißstand widerlegt werden? Dem einzigen Stand im gesamten Netz der Untergrundbahn, an dem es die Currywurst mit scharfem Senf gab. War ich in diese Unterführung geraten, damit ich mit meiner Selbstüberhebung vor einem weißen Plastiktisch konfrontiert werden konnte. Sollte meine Überstiegenheit ausgerechnet an dem Wurststand zum Aufgang D auf den banalen Punkt zurückgeführt werden, daß auch mein Hunger gestillt werden konnte, und zwar durch Currywürste mit braunem Senf?

      Ich versuchte durch Konzentration, die eigene Schwäche wegzudrücken. Versuchte auf Druck mit Gegendruck zu reagieren. Aber meine Kraft reichte nicht. Ich heulte los. Die Orgel setzte aus. Ich flennte weiter. Es tat mir gut. Und trotzdem. Mit Halluzinationen wollte ich nichts, aber auch gar nichts mehr zu tun haben. Sie gehörten mir nicht