Rita Kuczynski

Die gefundene Frau


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eigene Hinterbliebene, was solch eine Versicherung wert war, weil Leben nicht gesichert werden kann. Die Nutzungsdauer von zehn Jahren reichte dem Ehepaar, da sie ohnehin keine Kinder hatten, die sich um das Grab kümmern würden.

      Früher sagte mir die Frau, sei sie nie darauf gekommen, daß ihr der Ort, an dem sie begraben werden würde, wichtig sein könnte. Aber jetzt beruhige sie die Vorstellung, ein Grab zu haben. Wahrscheinlich hinge das mit dem Alter zusammen. Das Sterben sei schon ein merkwürdig Ding. Ich konnte ihr nur zustimmen.

      Die Konditionen für die Untervermietung waren gut. Ich hatte in die Bedingung eingewilligt, in einem Jahr aus der Wohnung wieder auszuziehen, falls sie und ihr Mann sich nicht einleben würden im Altersheim. Die Frau ließ sogar über die Höhe der Nebenkosten mit sich reden.

      Das Ehepaar hatte die Wohnung als Eigentum vor Jahrzehnten erworben. Hier hatten sie gelebt. Hier war ihr gemeinsamer Ort, an den sie zurückkehren konnten nach ihrem Tagwerk. Die Vorstellung, daß sie, wenn sie jetzt sterben würden, wieder einen gemeinsamen Ort hätten, an dem sie Ruhe fänden, täte ihr gut.

      Wir vereinbarten einen Termin zur Besichtigung der Grabstätte.

      Ich hätte nicht übertrieben, sagte die alte Dame, als wir ankamen. Die Grabstelle wäre wirklich etwas Besonderes. Der Friedhof gepflegt. Seine Lage verkehrsgünstig, für den, der übrigbliebe, um nach dem anderen zu sehen. Ihrem Mann würde dieser Ort auch gefallen.

      Wir fuhren daher zu ihrer Wohnung. Sie lag nicht im vierten Stock, sondern im dritten. Ein Raum, durch eine Schiebetür teilbar. Vor dem Fenster die Hochbahn. Die Schienen in Höhe der Fenster nur wenige Meter entfernt. Ich riß das Doppelfenster auf und sah hinaus. Wenn ich mich nur genügend hinauslehnte, konnte ich die Tunneleinfahrt sehen, die auch Ausfahrt war...

      Ich war begeistert. Mit einem Blick aus dem Fenster konnte ich also Ausgang und Eingang vom Tunnel sehen. Ich sagte zu.

      Es finde sich ja gar nicht so oft einer, der direkt an der Hochbahn wohnen möchte, sagte die Frau. Sie hätten damals beim Kauf gerade wegen der Hochbahn von der Verkehrsgesellschaft einen günstigen Kaufvertrag bekommen. Ich könne ihr glauben, man gewöhne sich an die Hochbahn und an ihren Lärm in wenigen Monaten. Am Tage fahre die Bahn im Drei- Minuten-Takt. Zwischen ein und fünf Uhr nachts fahre sie gar nicht. Da sei es wirklich ruhig hier. Nur aufpassen müsse ich in dieser Zeit, daß das Haus immer abgeschlossen sei, wegen der vielen Stadtstreicher. Sie werden nach Betriebsschluß aus dem Tunnel gejagt. Da sei schon viel passiert.

      Während ich auf die Hochbahn sah, holte ich aus der Manteltasche den Untermietsvertrag für die Grabstelle. In einem Anwaltsbüro hatte ich ihn aufsetzen lassen. In ihm waren sowohl der Preis für eine illegale Überführung von Personen im Sterbefall festgelegt, als auch die Lagergebühren in einem Doppelgrab für maximal zehn Jahre. Die Frau unterschrieb.

      Ich mußte im Gegenzug unterschreiben, daß ich die Wohnung als Unterwohnung für ein Jahr nichtmöbliert miete und die Miete monatlich bar an meine Vermieter zahlte. Ich unterschrieb auch, daß ich für alle Schäden in der Wohnung selbst aufzukommen hätte und baulich keine Veränderungen vornehmen dürfte.

      Ich unterschrieb zum ersten Mal mit Agnes. Die Frau gab mir die Wohnungsschlüssel und verabschiedete sich.

      9

      Ich stand am Fenster. Vor mir die Schienen im Winterlicht. Silbrig glänzten sie. Parallel zueinander die Gleise. Ihre Richtungen einander entgegengesetzt. Wenn ich im flachen Winkel auf die Schienen sah, blendeten sie mich. Ein Zug kam. Er nahm mir die Sicht. Ich sah zum erstenmal hoch. Der Himmel über mir ein hellblauer Guß: Fragen eingeschlossen im Wintersmog.

      Ich machte das Lärmschutzfenster zu. Es war erst eingebaut worden im letzten Jahr. Vor dem schallgedämpften Fenster ein zweiter Zug. Er fuhr auf den Tunnel zu. Ich horchte in den teilbaren Zeit-Raum, der meine Unterwohnung nun war. Der Raum klang hohl. Es war ein Echo in ihm, das noch keinen Inhalt hatte. Da war nur Hall von einer Wand zur anderen. Erst jetzt nahm ich wahr, daß der Raum viel größer war als er beim ersten Hinsehen schien. Zu sehr war ich auf die Aussicht aus dem Fenster konzentriert gewesen. Nun versuchte ich, mir den Raum als Raum einzuprägen. Ich schritt den gerade gemieteten Zeit-Raum ab. Er war 6 Meter breit und 8 Meter lang. Der Fußboden Holzdielen, deren Lack von den Jahren abgetreten war.

      Als Ort, der mir Obdach werden sollte, mußte er von mir erst noch erfunden werden. Auf keinen Fall wollte ich ihn mit Erinnerungen verstellen, mit Andenken aus der Zeit, aus der ich gerade auf so umständliche Weise herausgetreten war. Die wenigen Dinge, die ich mitgenommen hatte aus dem Haus, nachdem ich es an die Hypothekenbank verloren hatte, konnten vorerst im städtischen Speicher ihren Platz finden. Ich wollte selbst bestimmen, wann ich auf meine Erinnerungen zuging. Auf keinen Fall sollten sie mir den Ort hier vollstellen.

      Zu den wenigen Dingen, die ich haben wollte, gehörten ein Futon. Ja, einen Futon wollte ich unbedingt. Er sollte direkt vor dem Fenster seinen Platz finden. Beim Aufwachen wollte ich den Himmel sehen. Auf den bloßen Dielen sollte der Futon liegen. Ich wollte auf ihm auch künftig meine Lage erfühlen und ihre Widerstände gegen den Boden bemessen können, bevor ich aufstünde und in den Tag ginge. Ich maß mit Schritten die Größe ab, den der Futon haben konnte. Denn groß sollte er sein. Warum, wußte ich nicht, aber ich wollte es trotzdem. Ich war zufrieden, daß ich das erste Möbelstück für diesen Ort so schnell entschieden hatte. Zwei mal zwei Meter konnte seine Größe sein.

      Zum ersten Mal schloß ich meine Unterwohnung von außen ab. Die Straße vor dem Haus rechts und links neben der Hochbahn war dreispurig. Ich nahm den Weg in die Stadt. Bevor ich mich um einen Futon kümmern konnte, mußte ich nach dem Laptop sehen. Sein Preis war nur noch heute so günstig. Es war das beste Sonderangebot seit Wochen. In der Morgenzeitung des Wohnheims hatte ich es gefunden:. 30 Prozent Rabatt vom Kaufpreis, wenn im Kaufvertrag die Anmeldung einer e-Mailnummer bei einem deutschen on-line Dienst eingeschlossen war. Das Faxmodem hatte eine enorme Geschwindigkeit. Es war das schnellste Modem, das augenblicklich im Handel war. Ja, ein Modem wollte ich unbedingt. Nie wieder wollte ich in eine Situation kommen, keine Adresse zu haben. Denn keine Adresse zu haben, bedeutet doch auch, keinen Ort mehr zu haben, an den man zurückkehren kann. Diese Erfahrung von Verlorensein hatte mich zutiefst verunsichert. Die Adresse im Netz bleibt, egal welche Wohnung oder Unterwohnung ich gerade aufgegeben habe. Das weltweite Netz ist ein einzigartiger Ort. Ein Fixpunkt, den ich als Ort selbst programmieren kann. Ein Ort, auf den ich zu jeglicher Zeit zugehen, den ich aber auch wieder verlassen, ein Ort, von dem aus ich allerorts unterwegs sein kann. Wohin, liegt in meiner Hand. Das Netz als imaginärer Punkt, über den ich mich nach eigenem Ermessen mit der Welt verbinde.

      Der Laden lag an der letzten Querstraße vor dem neuen Großmarkt. Um mich zu vergewissern, ob es wirklich die letzte Querstraße war, sah ich noch einmal im Stadtplan nach. Seitdem ich nämlich meine eigene Hinterbliebene geworden war, war ich, was Orte und ihre Lage betraf, zutiefst verunsichert. Mit Bestimmtheit konnte ich nie mehr sagen, ob mein Gedächtnis die Orte an den Plätzen erinnerte, an denen sie sich auch jetzt noch befanden. Der Grund für diese Unsicherheit lag darin, daß mein Gedächtnis die Orte in verschiedenen Zeitzonen gespeichert hatte. Denn der Raum, wie ich erfahren mußte, hatte mehr Bestand als die Zeit, die in ihm abgelaufen war. Und erst allmählich wurde mir klar, daß ich mit der Zeit, aus der ich herausgetreten war, auch das Koordinatensystem hinter mir gelassen hatte, in dem der Punkt auf den Punkt genau zu berechnen war. Von den Parametern, auf die ich nun zulief, wußte ich nur, daß Unbestimmtheit eine ihrer Konstanten war. Und ich wußte, daß auf das Ende, welches hinter mir lag, als Orientierungspunkt nicht mehr zurückzukommen war.

      Nachdem ich die U-Bahn verlassen hatte, stand ich also wieder auf der Straße und wußte einmal mehr nicht, über welchen Zugang die Unterführung zu erreichen war, an dessen Ausgang der Computerladen lag. Es dauerte eine Weile, bis ich mittels eines umständlichen Weges endlich vor dem Laden stand.

      Dem Verkäufer führte mir den Laptop vor.

      Bei unserem Kundendienst können Sie sich nach dem Kauf des Geräts für den halben Preis eine Homepage nach Ihren Wünschen erstellen lassen, sagte er unaufdringlich.

      An eine Homepage hatte ich noch nicht gedacht. Zu sehr war ich auf eine e-Mailadresse