Erwin Guido Kolbenheyer

Paracelsus


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mit jenen Bußlüsternen und Geilen im Staube, sie alle durchglühte der erste Taumel der Gnade. Der Brand der Sünden wärmte mehr, als er sengte. Er verklärte das Bußwerk der wochenlangen Entbehrung zum Verdienste. Je tiefer der Sünder stand, desto schwerer glaubte er gelitten zu haben.

      Die Erbsen und Steine in ihren Schuhen trugen und jämmerlich nachgehumpelt waren, versuchten nicht mehr auf dem Fußrande oder der Ferse zu gehen, um dem stechenden Wundschmerze zu entrinnen. Sie traten fester auf und verzerrten ihre Gesichter zwischen Qual und Lachen. Da sie das Ziel vor Augen hatten, schauerte Wollust durch ihr Leiden. Eine Stunde noch! Sie schrien die ewig gleichen Verse, und die andern hoben ihre Stimme mit ihnen.

      Zurück blieben, die gelobt hatten, den letzten Weg angesichts des Heils auf den Knien zu überwinden. Sie gürteten den dunklen Pilgerhabit hoch auf die Brust und entblößten die Knie. Sie ließen den Rosenkranz perlen, weil sie nicht mehr im Takte singen konnten, auch nicht beisammen blieben.

      Die anderen gingen schnell. Es gab ihrer, die wie Trunkene vorwärtstaumelten, um sich auf den Boden zu werfen, wenn sie den Vorsprung eines Ave Maria gewonnen glaubten, den Staub zu küssen und zu beten, bis die Brüder nachgekommen waren. Je lauter die Glocken wurden, desto höher brannten ihre Wangen, der Schweiß der Erschöpfung floß von ihren Stirnen.

      Im Orte stießen sie mit anderen Pilgerzügen zusammen und mündeten in den großen Strom, der aufwärts zu den weiten Toren zog, aus deren Dunkel es hundertfältig blinkte und aus denen, je näher sie drangen, es rauschte und brauste wie stürzende Wässer.

      Sie sangen nicht mehr. Sie schwangen die Pilgerstäbe und Rosenkränze dem Eingang entgegen, lallten, jauchzten den Namen der Gottesmutter, beschworen sie um das Gnadenwunder, ächzten ihr alle Mühsal und Schmerzen entgegen, die sie auf weiten Straßen hingenommen und hergeschleppt hatten.

      Ein Keil von Ordnern war von der Kirchenmitte in die Flut vorgebaut worden und brach die Wucht, schob die Andringenden zum linken Tore, drängte die Ausströmenden von dem rechten Tore weiter, wenn es not tat, mit kräftigen Partisanenstößen. Man wußte, daß die Ohren taub, die Augen geblendet, die übermüdeten Leiber stumpf waren.

      Und sie kamen nahe. Die Knie zitterten. Den meisten wars, als müßten sie über den Stufen zusammenbrechen, ehe sie noch die Gnadenreiche gesehen hätten.

      Dann umschlug sie der heiße, düstere Dunst, weihrauchgesättigt, vom Qualm der unzähligen Lichter verdichtet. Ein Schleier lag vor ihren Augen, sie meinten mit den Händen weitertasten zu müssen. Um sie her schallte es, keinem Sturm vergleichbar, unbändiger als alle Laute, die sie je vernommen hatten. Sie schrien, um ihre eigenen Stimmen zu hören, um sich am eigenen Schrei wiederzufinden. Eines jeden Lebensgefühl drohte zu zerschellen, aufgelöst in dem zersprühenden Bewußtsein der anderen, willenlos, hingerissen, vernichtet und erhöht.

      So wußten sie nicht mehr, daß sie weitertrieben. Nur an dem stechenden Schmerz ihrer Kehlen fühlten sie, daß es aus ihnen verlaute.

      Und sie sahen, wie die Seitenwand der Gnadenkapelle zurückwich. Jedem erschiens, als offenbare sich das Geheimnis für ihn allein.

      Silberglanz, Goldgarben, zahllos zitternde Flämmlein. Inmitten: ein Mantel, gepanzert von Gold, Perlen, Steinen, er glich einer Glocke. Ein Schleier, der, faltenlos gefroren vor Kostbarkeit, vom goldbelasteten Scheitel bis zum Mantelsaum starrte. An der Krone glimmte es kalt und funkelte. Unter der Krone: ein rosiges, lebloses Antlitz. Die kleinen Schlitzaugen von hochmütigen Brauenbögen überglitten, eng aneinandergeschoben, halb verschleiert, jenseits von Liebe und Erbarmen. Das Mündlein mit den üppigen Lippen, satt, gleichgültig geschlossen. Das runde, willenlose Kinn glänzte wie eine große Perle. Augen, Mund, Kinn waren so eng an die lange, dünne Nase gerückt, daß die Wangen der Gesichtsscheibe fetter erschienen. Die Stirn schimmerte glatt, gedankenlos. An den Ohren glitzerten Gehängebüschel. Der kurze Hals war vom Geschmeide gedrosselt.

      Das Kindlein hing an der linken Schulter des Bildes in einer Mantelglocke von gleicher Üppigkeit, sein winziges, feistes Köpflein war unbeweglich zwischen Krone und Halsschmuck eingezwängt.

      Die rechte Hand des Bildes war von Juwelen, Ketten und Bändern bedeckt, sie hielt ein schlankes Zepter. Zwischen ihr und der Mantelglocke des Kindes sprühte ein großes, loderndes Diamantenherz die Farben des Regenbogens.

      Die Augen gingen über, klärten sich und verschwammen. Keiner hatte je solch lastenden Reichtum gesehen. Sie wagten kaum zu blinzeln. Da sie näher und näher trieben, verstummten sie. Der heiße Qualm genügte den Lungen kaum. Sie ächzten aus offenen Lippen. Einigen schwand das Bewußtsein für die Zeit eines Herzensschlages. Sie konnten nicht sinken, sie verloren beinahe den Boden unter den Füßen, schwebten, da sie näher kamen. Die Hände zitterten auf der Brust. Keiner wagte zu flehen. Dumpf schwelte es in ihnen, sie müßten erhört sein. Niemand wußte, weshalb er vor diesen maßlosen Prunk getrieben wurde.

      Erst in der Nähe der Gnadenkapelle, da die Harzwolken und der Dampf des Wachses unerträglich wurden, züngelte es durch ihr Bewußtsein: Gold, Edelstein, Perlen … opfern … auch ich …

      Die Finger hasteten unter den Mantel in Koller und Mieder. Dort ruhte das Beutelchen mit dem Opferpfennig seit ihrem Auszug aus der Heimat auf dem Herzen.

      Durch das brusthohe Gitter der Gnadenkapelle streckten die Opferstöcke ihre Trichter und schlürften ein. Es klapperte unaufhörlich.

      Nicht jeder Pilger konnte zu seinen Münzen gelangen. Er warf dann irgend etwas über das Gitter: Hut, Paternoster, eine Kette, den Gürtel, seinen Ring. Zwei Knechte standen im Heiligtum zu beiden Seiten, sie gruben den stets wachsenden Haufen der Opfer von Zeit zu Zeit ab und ebneten ihn.

      Etliche klammerten sich an das Gitter, um vor dem Unerhörten ein paar Atemzüge länger bestehen zu können. Auch war in einige beim Geklapper des Geldes ein kalter Strahl Ernüchterung gefallen. Sie vermuteten ein Recht auf eine demütige Bitte und wollten sich besinnen. Aber sie wurden fortgeschoben, ihre krallenden Finger rissen sich an den Stäben und Ranken, sie taumelten in den Wirbel zurück, der vor dem Heiligtum kreiste, ohne einen letzten Blick auf das Gnadenbild geworfen zu haben.

      Unnahbar und starr hing das Bildnis, von tausendfältigem Schimmer überhuscht. Sein kalter Blick stand tot in der Dunkelheit und achtete der Menschen nicht. Das Bildnis schien zu lauschen. Das Wirrsal der Schreie, des Stöhnens, des Lallens und des unaufhörlichen Klapperns der Opferkästen schien es zu sättigen. Was vermochte die kälteste Herrschergeste eines Herrn der Welt gegen diese lauschende Ungerührtheit, gegen diese lauernde Sattheit!

      Und gerade der Widerspruch einer hoffnungslosen Kälte, die durch den heißen Qualm, das Gedränge, Edelsteinsprühen, Goldflimmern, Lichterflirren gehoben wurde, mit der inbrünstigen Erwartung der Gnade, Milde, des sanftmütigen Erhörens überwältigte die Massen. Sie wagten ihre Kleinheit nicht mehr ans Ungeheure. Ihre Sünden zerrannen in ein klägliches Gerinnsel, das von einem einzigen Strahl des kleinsten Geschmeides der Unnahbaren aufgetrocknet wurde. Und sie waren alle durch Garben des Glanzes hindurchgeschritten!

      Vor den Toren stürzte das Sonnenlicht lästig auf sie ein. Sie sammelten mühsam ihre Sinne, versuchten stehen zu bleiben, wurden weitergestoßen. Erst als der Schwarm sich lockerte, zwang sie ein fieberndes Unbehagen, nach den Fahrtgenossen Umschau zu halten. Sie suchten ihre Fahne und das Kreuz, dem sie gefolgt waren. Dann schleppten sie wortlos, in der gewohnten Reihenfolge dem Führer nach.

      Erst an den Tischen oder auf dem Rasen bei Bier und Wein erwachten sie.

      Noch vor der Mittagsstunde erwartete Einsiedeln den Legaten des Papstes. Seinetwegen war in der Abtei mancher Gänsekiel verschnitten worden. Diebold von Geroldseck hatte mit aller Linguistik auffahren und das Stift hatte jeden seiner Buchstaben mit einem Dukaten behängen müssen. Papst Alexander verweigerte länger einen besonderen Ablaß, als man trotz aller Kenntnis seiner Geldgier voraussetzte. Das römische Jubeljahr stand bevor, es durfte durch die Gnadenmutter zu Einsiedeln nicht geschmälert werden. Die Todsünden sollten zwei Jahre noch auf Zinsen liegen, dann gutgeprägt und vollwichtig der Kurie zurollen.

      Nach eifrigem Bemühen des Mutterhauses – die Pilger erhofften ein sichtbares Zeichen von Petri Stuhl – wurde der Assistent des Papstes,