Erwin Guido Kolbenheyer

Paracelsus


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die Knoten. Theophrast drängte sich mit erhobenem Schwerte zwischen Vater und Mutter.

      Er sagte: „Nu müessend wir reisen.“

      Sie wollten ihm den wohlgefüllten Brotsack abnehmen, aber er wußte seinen Willen mit Glück durchzusetzen. Der Großvater hob ihn vor die Mutter auf das Schwabenjörgeli, das unmutig über die neue Last die Ohren zurücklegte. Es hatte schon vom Stallfrieden geträumt und von wohligem Dösen und leisem Schwanken auf allen Vieren mit dämmernden Augen, vollem Magen und hangendem Kopf. Es mußte nun wieder auf Knüppel und Stein acht haben; war auch die Last geringer, der Abend lag schon in allen Gliedern. Doch kostete es nur die ersten paar widerwilligen Schritte. Dann reckten sich die Ohren wieder vor. Es galt die Teufelsbruck. Und hatte sie das Schwabenjörgeli auch hundertmal überschritten, ihr Brausen blieb ewig unheimlich. Man mußte auf alles gefaßt sein.

      Hohenheim ging schweigend neben dem Tier her, das Frau und Söhnlein trug, er hielt die Zügel. Theophrast sah über den Bergen das matte Grün des Abendhimmels, ein kühner Stern durchzitterte es. Das Herz des Kindes zitterte erwartungsvoll mit dem Gestirn.

      Und in die Freude seines Erlebens fiel bald eine fremde Bangigkeit. Er hatte einen ganzen Tag lang fröhlich Abschied genommen, nun aber wußte er immer deutlicher mit jedem neuen Stern, der durch das ermattende Licht brach, daß viel zurückgeblieben war, was nie in seinen Brotbeutel gegangen wäre.

      Er fragte die Mutter leise:

      „Warzu müessend wir fort?“

      „Wir gohnt uf die Engelwih.“

      „Werdend die Engel ze Einsiedeln sin?“

      „Die sänd allerweg.“

      „Warzu als müessend wir fort?“

      „Weil die Gnadenkapell ze Einsiedeln stoht, und die ist von den Engeln gewicht. An der Tüfelsbruck stoht aber kein Gnadenkapell nit.“

      „Als werdend wir die Engel ze Einsiedeln sehn?“

      „Das wird nit sin. Die Engelwih, do sie herniedergestiegen, ist ehedem vollbracht und uf ünser Zit nit meh.“

      „Hats einer ehedem gsehn?“

      „Es muoß so sin, dann sunst wissend wirs nit.“

      „Was hat derselbig gsehn?“

      „Wo ünser heilig Meinrad ist von denen Mörderen beiden erschlahen, hänt sie ünser lieben Frouen ze Einsiedeln Altar und Kapell ufgericht, und war alles bereit, daß man sie wihet. Und ist der Bischof ankummen, viel Pfaffen gohnt mit ihme und Münch, die wollend sie wihen uf den morgenden Tag. In der Nacht ist der liebe Gott vom Himmel gefahrn unde für denselbigen Altar und hat ehender das heilig Amt und die heilig Meß vollbracht. Er hat ein veigelfarben Meßgewand angehät. Sant Matthei, Sant Marx, Sant Lux und Sant Johann satzeten ihm, als die heiligen Evangelisten all vier, sin Inful uf das Houpt und nahmens wieder ab. Und beschach ihm alls wie dem Bischof, so er die Gnadenkapell am morgenden Tag gewihet hätt. Die Engel sänd all kummen und hänt gülden Rochfässer mit, facheten die Gluet mit ihrer Fittich Schlag, daß es rauschet. Bi dem lieben Gott gstund Sant Greger und hielt den Wadei, brauchet kein Becken nit, dann der Wadei tropfet us ihme selbs von dem himmelschen Wichwasser. Sant Peter hielt den Stab, Sant Augustin und also Sant Ambrosi gstunden bi dem lieben Gott. Die heilig Jungfrau aber schwebet über dem Altar. Es ist us ihrem gülden Gewand ein Licht usbrochen als wie der Blitz, wenn es umb Mitternacht wettert. Und sungen die Engel all, denen ist Sant Michel Fürsinger gsi. Geschähe alles, als sunst bi der Wihen. Und es brauset die Orgel von der Heiligen Hand gerührt. Sant Christofei aber hat den Balg treten mit aller Kraft, dann der ist der stärkist unter den Heiligen und hat ehedem das heilig Kind samen der Welt durchs Wasser tragen.“

      Theophrast lehnte an der Brust seiner Mutter, die beide Arme um ihn geschlungen hatte. Er sah unter gerunzelten Brauen in die Sterne.

      „Sänd die Engel all darbi gewest, Mammeli?“

      „Sie warend all darbi, darumb heißt es die Engelwih.“

      „Wer gstund dann bi denen Kinderen in derselbigen Nacht? Brauchet ein jeds zwölf Engel. Und sänd all uf Einsiedeln gewest.“

      „Vor die Nacht hat ihnen der liebe Gott Urloub geben.“

      „Das war nit guet von ihm. Es kunnt eins us dem Bettli fallen.“

      „Was der liebe Gott tuet, ist guet, Frästeli. Do darf keiner nit fragen.“

      „Warumb nit?“

      „Weils der liebe Gott ist.“

      Theophrast schwieg. Er konnte nicht weiter. Aber in seiner Brust glühte ein Zweifel, wenn er auch keinen Laut fand. Er war verstummt, doch nicht gestillt; und er wußte nicht, was ungestillt blieb.

      Hätte er das verhaltene Lächeln seines Vaters gesehen, vielleicht wäre er entbunden worden. Jenes Lächeln, das ihn so heftig reizte, weil es offenbar Erinnerung an Zweifel, Kämpfe, Siege und Niederlagen der Großen verhehlte. Dieses Lächeln sagte ihm: ich bin wie du gewesen, aber ich bin damit fertig geworden. Und unfertig zu gelten, trotz heißer Mühe und Schaffensnot, das quälte ihn mehr als die Großen begriffen.

      Doch Theophrast merkte das verhaltene Lächeln seines Vaters nicht, das zwischen Freude und Bitterkeit hing. Er sah den dunklen Himmel mit seinen hellen Sternen, fühlte die Arme der Mutter, das sanfte Wehen ihres Atems – er vergaß die kaum bewußte Bedrängnis, wie die sinkende Welle ihren Schwung vergißt.

      Sie kamen an. Die Lichter der steilen Gasse freuten Theophrast. Er hatte noch nie leuchtende Fensterreihen gesehen.

      Vor den Toren am Straßenrande standen Wagen und Karren, die meisten von Linnenblachen auf Holzreifen überspannt. Durch manches Wagendach schimmerte Laternenschein.

      Auch vor dem Tor des Pilgerspitals stand ein Wagen mit weitem Wetterdach, das bunt bemalt war und von einem Maste überragt wurde, der ein Fähnlein trug. Theophrast sah unter dem hellen Halbrund etliche Leute kauern. Ein Mann trat dicht an die schaukelnde Zugwaage, er reichte einen Krug, dann Brot und Speck hinauf. Die Leute sprachen sehr laut, sie lachten, Theophrast verstand sie nicht.

      Seine Mutter drängte, aber er bettelte, die Gasse zu sehen; da beschied Herr Wilhelm die Frau ins Haus und nahm das Söhnlein an di e Hand.

      Weit hinauf sahen sie flimmernde Lichter über den Weg tanzen. Aus den Toren, wenn sie da und dort geöffnet wurden, brach wie ein lauter Ruf der Schein. Die Stimmen der Männer und Frauen schwirrten wunderlich durch die Dunkelheit.

      Auf der Höhe des Weges lag ein Klumpen Finsternis und reckte zwei ungeheure scharfgespitzte Zähne in den mattdurchschimmerten Himmel.

      Theophrast umklammerte die führende Hand. Er kannte die Nacht groß und schweigend, vom ruhevollen Brausen der Sihl erfüllt. Hier fand er sie von unruhigen Lichtern und Stimmen angerührt. Obgleich er voll Neugier und Staunen das fremde Leben aufnahm, beklemmte es ihn.

      Er fragte leise: „Was gangend die all nit schlafen?“

      „Die werden auch schlafen, die habend viel vor. Dann diese Täg sollen die Beutel ründen. Es seind die mehristen Kramervolk und fahrend Lüt. Die wollend wohlversehen sin.“

      Weiter oben standen leere Bretterbuden in mehreren Zeilen dicht gedrängt. Bei ihnen lagen, unordentlich, verschlossene Kisten. Vor den Mauern des Stifts plätscherte der vielstrahlige Frauenbrunnen, dessen Mündungen nach dem Feste von Pilgerlippen blankgescheuert sein werden. Die meisten Waller werden aus allen Rohren trinken, um auch an dem einen heiligen Strahl die Lippen zu netzen, von dem der Heiland getrunken hat, da die Gnadenkapelle geweiht wurde.

      Das Stift lag lautlos hinter den Mauern, seine Dächer ruhten unter dem mächtigen Schatten der Basilika, die das Heiligtum der Gnadenkapelle barg. Die beiden kühngehelmten Türme verstärkten das drohende Schweigen.

      Theophrast schlief diese Nacht unruhig, er träumte:

      Der finstere Kirchenkörper wächst höher als die Mythen, wächst und schwillt. Sprengt die Klostermauern. Zerknittert Bretterbuden. Malmt Häuser