gewesen? Ja, genau, in einem Kriminalroman von Joe R. Lansdale, genauer in der Widmung, die da lautete: „Das hier ist für meinen Bruder Andrew Vachss, Krieger.“ Unverzüglich nahm er sich den Vachss' Roman vor, dessen Protagonist, ein Krieger im Grossstadtdschungel New York, sich ausschliesslich für Kinder und Jugendliche einsetzte und Kinderschänder nicht Pädophile nannte, sondern sie als das bezeichnete, was sie waren: Kinderficker.
Dass es darum ging, ein Krieger zu sein, war Harry in seinen Jugendjahren selbstverständlich gewesen. Im Laufe der Jahre hatte er das jedoch vergessen. Oder zur Seite geschoben, verdrängt oder was auch immer. Jedenfalls vernachlässigt. Bis er in einem buddhistischen Buch wieder darauf gestossen war. Ein Krieger nehme alles im Leben als Herausforderung, begegne dem, was ihm zustosse, ohne zu klagen und ohne Bedauern.
What usually matters most to people is affirmation or certainty in the eyes of others; what matters most to a warrior is impeccabiblity in one's own eyes. Impeccability means living with precision and a totality of attention.
Joseph Goldstein: The Experience of Insight.
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Er schaltete den Laptop aus, legte sich aufs Bett und nahm Andreas Guskis Dostojewskij. Eine Biographie zur Hand. „Alle fünfeinhalb Stunden wird er ‚wiedergeboren‘, ‚beginnt ein neues Leben‘, ätzt Sir Galahad alias Bertha Eckstein-Diener, die unversöhnliche Dostojewskij-Gegnerin.“ Harry nahm das für bare Münze und nicht etwa als Kritik und dachte so bei sich: Der ist ja wie ich. Oder vielleicht eher: Ich bin ja so wie der. Jedenfalls in dieser Beziehung. Er las weiter: „… nur allzu bewusst ist ihm, dass ‚die Flamme seiner Begierde nach dem Himmlischen‘, wie es bei dem von ihm so geschätzten Thomas von Kempen heisst, ’nicht rein ist vom Rauch der sinnlichen Neigung‘. Und er weiss auch und spürt mit jeder Faser seines Körpers, dass es unmöglich ist, sich der eigenen Natur zu widersetzen. Sein Leben so radikal umzustellen wie Lew Tolstoj, der die Feder mit dem Pflug vertauschen wird, um im härenen Bauerngewand seine Äcker zu bestellen – das ist Dostojewskijs Sache nicht. So verdächtig wie die Lebensform der Karriere, so ausgeprägt ist seine Skepsis gegenüber einem heiligmässigen Leben, das die eigene Natur vergewaltigt.“ Harry fühlte sich bestens getroffen.
Verzicht ist heutzutage kein oft benutztes Wort. Nur eben: Wer nicht zu verzichten bereit ist, wird nichts ändern. Solche Sätze gehörten zu seinem Standardvokabular. Vor ein paar Tagen hatte er sie gerade wieder einmal einem Ratsuchenden vorgetragen und sie waren hängengeblieben. Nicht beim Ratsuchenden, bei Harry, der an diesem Samstagmorgen seine ersten wachen Momente in dem Bewusstsein verbrachte, das sei ein besonderer Tag, vielleicht sogar der seit vielen Jahren herbeigesehnte Wendepunkt.
Nach dem Aufstehen war das Gefühl immer noch da. Sein Verzichts-Mantra vom Vortag ging ihm durch den Kopf und ihm dämmerte, dass er unter Verzicht immer etwas ganz Falsches verstanden hatte, also weniger Bücher kaufen oder keine Süssigkeiten mehr essen. Das war nicht nur falsch, es war so was von daneben, dass er es zuerst gar nicht fassen konnte. Verzicht war nicht ein bisschen weniger von dem oder von was anderem, Verzicht war radikal. Plötzlich war ihm das vollkommen klar, doch mehr nicht, insbesondere nicht, was das jetzt konkret bedeuten sollte.
Er machte sich Kaffee, Eier und Speck. Kauend betrachtete er seinen Esstisch, dessen Oberfläche schon sehr lange zu gut zwei Dritteln mit den unterschiedlichsten Sachen belegt war, von Wollhandschuhen über Sombreros bis zu Briefmarken aus aller Welt, als sich seine Stimmung plötzlich änderte. So ging das nicht weiter, er musste unbedingt Ordnung schaffen. Die Klärung der Gedanken würde sich von selbst einstellen, wenn er seine Wohnung aufräumte. Er war selber ganz erstaunt, dass er es nicht bei dem Gedanken beliess, sondern sich unverzüglich daran machte, unter dem Bett verstaute Aktenordner hervorzuzerren. Dicker Staub wirbelte auf und nahm ihm fast den Atem. Hustend öffnete er die Balkontüre. In Plastiktüten verpackt entdeckte er einen Drucker, viele Kabel, ein Modem, einen Stapel Manuskripte, zwanzig Jahre alte Ausgaben des New Yorker und von Geo, eine Buchreihe mit Schweizer Autoren sowie zwei Federballschläger, die Erinnerungen an Yona hochkommen liessen, die einzige weisse Habanera in der Schweiz, wie die kubanische Botschaft in Bern behauptet hatte, die anderen Kubanerinnen seien alle Mulattas oder Negras und aus dem Osten der Insel.
Sie hatte Autostopp gemacht, in Alamar, einem Vorort von Havanna; Jesús, der Taxifahrer, stieg auf die Bremse, kam holpernd zum Stillstand und setzte den Wagen zurück. Yona war jung und hübsch, economista und zur Zeit ohne Arbeit. Sie wolle nach Guanabo, zum Strand.
Sie habe ihn vor ein paar Tagen in einem Traum gesehen, sagte sie, als er neben ihr aus dem Wasser auftauchte. Seinen Kopf, so wie gerade eben, als er aufgetaucht sei. Ein Déjà-vu? Sie kannte den Ausdruck nicht. Ob er an Vorherbestimmung glaube?
Aus einem alten Kassettenrecorder schepperte Mendelssohns Hochzeitsmarsch, als sie im Jahr darauf in einer prächtigen Kolonialvilla in Havanna heirateten. In ihn verliebt habe sie sich als er damals nach dem Strand sein nasses Haar nach hinten gekämmt habe, erzählte sie ihm später.
Beim Aufwachen war sie jeweils nicht ansprechbar. Schlaftrunken wankte sie ins Bad, machte die Dusche an, seifte sich ein und begann zu singen. Er freute sich wie ein Kind über soviel Daseinsfreude. Sie lachten viel zusammen, ihre Werte waren weitgehend dieselben.
Quién tu prefieres, Fidel o Che?
Che.
Y por qué?
Físicamente.
Eine seiner früheren Freundinnen wurde von ihren Bekannten Che gerufen.
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Aufzeichnen wollte er, was ihm durch den Kopf ging. Keine Stream-of-Consciousness Geschichte. Beschreiben, was er wahrnahm, unvollständig und subjektiv, so subjektiv wie möglich. Nicht den unablässigen Gedankenfluss zu fassen suchen, nicht danach trachten, das Leben in den Griff zu kriegen. Die ihm gemässe Form, so beschloss er, waren die Tupfer, das Nebeneinander von ganz Unterschiedlichem, Anekdoten neben Ratschlägen, Einsichten neben Ansichten. Nach Lust und Laune? Einfach so, wie es ihm gerade beliebte? Sowieso. Und mit dem Ziel, so oft wie möglich gegenwärtig zu sein.
I got the blues thinking of the future, so I left off and made some marmalade. It's amazing how it cheers one up to 'shred oranges and scrub the floor.
D. H Lawrence.
Zen pur. Tue was du tust und tue es ganz. Hier und Jetzt. Einem Kind ist das selbstverständlich, auch als Harry ein junger Mann war, musste ihm das niemand erklären. Lange Zeit hatte er sich mit der Frage herumgeschlagen, wieso ihm dieses intuitive Wissen abhanden gekommen, was passiert war. Bis er anfing zu ahnen, dass dieses Problematisieren das eigentliche Problem war.
Was den Menschen fehle, hat Joseph Campbell gesagt, seien nicht Antworten auf Warum-Fragen, sondern the experience of being alive. Diese Erfahrung ist jederzeit und überall möglich. Für jeden und jede.
Be aware, moment to moment, paying attention to what's happening in a total way. There's nothing mystical about it, it's so simple and direct and straightforward, but it takes doing.
Joseph Goldstein: The Experience of Insight
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Nichts dünkte Harry befremdlicher, als dass er vor ein paar Tagen siebzig geworden war. In unregelmässigen Abständen tauchte in seinen Gedanken der Satz aus Balzacs Verlorene Illusionen auf, der ihm immer als Nachweis eines gänzlich misslungenen Lebens gegolten hatte: „Der Siebzigjährige sehnte den Augenblick herbei, da er leben könne, wie es ihm behagte.“ Behagte? Keine Ahnung, was ihm wirklich behagte. Noch immer nicht. Einmal das, dann wieder was anderes. Andererseits wusste er ganz genau, wie er leben wollte, doch aus ihm unerfindlichen Gründen tat er es nicht. Wobei: So unerfindlich waren sie ihm eigentlich gar nicht, nur passte es ihm hinten und vorne nicht, dass er sich auf eine bestimmte Art anstrengen sollte, jedenfalls dann, wenn sein Leben gelingen sollte. Das müsste