„Bitte, ich bin in ein oder zwei Tagen weg. Rufen Sie nicht die Polizei, ich werde Ihnen nichts tun, mich Ihnen nicht nähern und Sie auch nicht bestehlen.” Die Stimme des Mannes war leise, es klang erschöpft und kraftlos. Die ganze Art wie er es sagte, überraschte sie und ließ sie erschauern. Als sie nicht sofort reagierte, fügte er müde hinzu: „Ich kann nicht mehr weiter - bitte.“
Vanessa senkte die Lampe ein wenig, denn noch immer blendete sie den Mann damit. Auch der Mann ließ den Arm sinken und nutzte ihn lieber um sich am Schrank mit beiden Händen festzuhalten. Müde Augen richteten sich auf sie. Braune, sanfte Augen in einem leichenblassen Gesicht, das noch die Spuren einer Schlägerei trug.
Die Überraschung hatte ihr die Sprache verschlagen. Erwartet hatte sie etwas anderes. Natürlich war ein Landstreicher nie ein schöner Anblick, aber dieser Mann hier sah noch viel schlimmer aus, als alles was sie sich hätte vorstellen können. Erst jetzt fielen ihr die dreckigen Verbände auf, die hier und dort unter der Kleidung hervor lugten und die dunklen Flecken, bei denen es sich wohl um getrocknetes Blut handelte.
Mit leiser werdender Stimme versuchte er es noch einmal: „Ich werde Ihnen nichts tun, lassen Sie mich einfach nur ein oder zwei Tage hier bleiben. Ich kann wirklich nicht mehr weiter.”
Vanessa bemühte sich ihre Gefühle und Eindrücke unter Kontrolle zu bekommen. Sie war zutiefst schockiert und war sich absolut nicht sicher, was sie nun machen sollte. Immer noch den Blick starr auf den Mann gerichtet, versuchte sie ihren alten Plan auf diese Situation anzupassen, was aber nicht so wirklich gelingen wollte. Demnach blieb sie einfach bei ihrem ursprünglichen Vorhaben: Der Mann musste hier fort. Sie konnte ihn nicht hier bleiben lassen, sie hatte mehr als genug eigene Probleme und war einfach nicht im Stande noch mehr zu ertragen. Noch bevor sie jedoch dazu kam zu antworten, sah sie den Mann leicht schwanken. Dann brach er einfach zusammen. Als wäre plötzlich alle Spannung aus seinem Körper gewichen, gaben seine Beine nach und er schlug schwer auf dem Boden auf, wo er reglos liegen blieb.
Ihr Herz begann zu rasen. „Scheiße!”, ging es ihr durch den Kopf. Ohne wirklich darüber nachzudenken bewegte sie sich eilig auf ihn zu und ging neben ihm in die Hocke. Sie streckte die Hand nach dem Mann aus um ihn auf den Rücken zu drehen, doch sie zögerte für einen Moment.
Erst nach einigen weiteren Atemzügen packte sie den Mann vorsichtig an der Schulter und drehte ihn um. Frisches Blut sickerte aus einer kleinen Wunde am Kopf, die er sich beim Aufprall zugezogen haben musste. Er atmete, das ließ Vanessa aufatmen, doch gleichzeitig nahm sie die unnatürliche Hitze wahr, die sie durch die Kleidung an seiner Schulter spürte. Vorsichtig berührte sie die Stirn des Mannes, die feucht war und so heiß, dass sie schon fast erschrocken die Hand zurückzog. Sie musste einen Notarzt rufen. Dieser Mann musste so schnell wie möglich versorgt werden. Ihre erste Einschätzung, dass es ihm nicht sonderlich gut ging, war wohl maßlos untertrieben gewesen.
Es verstrichen weitere Sekunden, in denen sie zögerte, doch dann gab sie sich einen Ruck und machte Anstalten sich zu erheben. Doch weit kam sie damit nicht. Die Hand des Mannes packte plötzlich ihren Arm. Ein spitzer Schrei entfuhr ihr. Der Schreck lies Vanessa nach hinten ausweichen. Doch der Griff des Mannes war kraftlos, so dass sich die Hand leicht abschütteln lies und Vanessa zur Sicherheit noch ein paar Schritte Abstand gewinnen konnte. Immer noch pochte ihr Herz wie wild und ihre Beine waren sich einig, dass Weglaufen eine gute Idee wäre. Vermutlich hätte sie dem Drang auch nachgegeben, wenn der Mann irgendeine Anstalt gemacht hätte wieder aufzustehen. Doch der Mann machte keine Anstalten das auch nur zu versuchen, geschweige denn ihr zu folgen. Er lag immer noch erschöpft auf Boden, atmete schwer und nur sein Blick folgte ihr.
„Sagen Sie keinem, dass ich hier bin.” Seine Stimme klang müde, doch Vanessa meinte noch etwas anderes in ihr zu hören: Furcht.
Immer noch pochte ihr Herz wie wild und der Drang einfach davonzurennen wurde nicht kleiner. Wieso konnte sie zwar selbst nicht so genau sagen, aber sie wollte nur noch raus aus dieser merkwürdigen Situation.
Der Fremde blieb einfach liegen, es schien ihm schon schwer zu fallen, bei Bewusstsein zu bleiben. Er sah unglaublich müde aus und es schien fast so, als wäre der Grund dafür, dass er dem Drang zu schlafen nicht einfach nachgab, auch nur die nackte Angst. Was mochte diesem Mann wohl zugestoßen sein? Gab es hier womöglich noch eine andere Gefahr von der sie nichts ahnte? Dieser Gedanke lähmte sie für einige Augenblicke, doch dann schüttelte sie ihn ab. Vermutlich war er aufgrund des Fiebers nicht mehr so ganz zurechnungsfähig. Das klang nur logisch und beruhigte sie wieder ein wenig.
„Ich werde einen Krankenwagen rufen.” Ihre Stimme zitterte hörbar und spiegelte damit ziemlich deutlich ihre eigene Nervosität und Verunsicherung wieder. Sie löste den festen Griff um die Taschenlampe ein wenig und registrierte, dass ihre Hände feucht waren. Doch ihre eigenen Reaktionen waren nicht vergleichbar mit dem puren Entsetzen, das sich bei diesen Worten auf dem Gesicht des Mannes ausbreitete. Er stöhnte auf und versuchte dann tatsächlich wieder auf die Beine zu kommen. Sie wich einen weiteren Schritt vor dem Mann zurück, doch das wäre nicht notwendig gewesen. Der Mann bemühte sich zwar nach Kräften aufzustehen, aber es gelang ihm einfach nicht.
Es war ein grausamer Anblick mit anzusehen wie jemand, in ganz offensichtlicher totaler Verzweiflung und panischer Furcht, versuchte auf die Beine zu kommen und dies aber einfach nicht mehr schaffte. Dies löste in ihr schon fast Entsetzen aus. Für einen Moment starrte sie den Mann nur an. Sie war sich sicher: Dieser Mann brauchte einen Arzt, sonst würde er unweigerlich hier sterben oder ein paar Meter weiter irgendwo anders. Noch niemals zuvor hatte sie einen Menschen gesehen, der so dringend Hilfe gebraucht hatte, wie dieser hier.
Nur wenige Momente verstrichen, bevor der Mann seine Versuche schwer atmend wieder aufgab. „Ich bitte Sie, tun Sie das nicht.” Es war kaum mehr als ein Flüstern und er schien quasi alle Hoffnung verloren und sich mit seinem Schicksal abgefunden zu haben. Vanessa fühlte sich bei diesen Worten, als habe man ihr soeben einen großen Eimer eiskaltes Wasser über den Kopf gegossen.
Sie blieb reglos stehen und ließ den Blick erneut über den Mann gleiten, doch ihre Gedanken waren nicht bei dem was sie sah, sondern sie waren bei diesen Worten. Ich bitte Sie, tun sie das nicht, waren ihre Worte gewesen. Ihre letzten Worte an einen Arzt, zu einem Zeitpunkt, bevor sie den Glauben an die Menschen verloren hatte. Bevor man sie ihrer Freiheit beraubt hatte. Es war nur zu deinem Besten, dass beteuerte man auch heute noch. Vielleicht glaubten die Menschen das ja wirklich, ihre Bekannten, ihre Verwandten und die Ärzte. In ihren Augen war es aber das Schlimmste, was man ihr hatte antun können. Erinnerungen an die Verzweiflung, die Hoffnungslosigkeit und die unzähligen Tränen in den langen, einsamen Nächten stiegen in ihr auf und lähmten sie. Für einen Moment war sie wieder dort, in dem kleinen Raum, der so lange ihr zu Hause gewesen war. Eisige Kälte breitete sich in ihrem Körper aus und ließ sie erschauern.
Mühsam kämpfte sie die Erinnerung nieder und mit ihr die Gefühle, die in ihr tobten. Mühevoll holte sie sich wieder ins Hier und Jetzt zurück. Sie hatte geschworen niemals so etwas zu tun. Niemals wollte sie einen Menschen zu etwas zwingen einfach nur, weil sie glaubte es wäre das Beste. Niemals wollte sie so handeln. Allein die Vorstellung sorgte dafür, dass ihr übel wurde. Ihr Blick glitt noch einmal über die Gestalt. Sie war im Begriff ihren Schwur zu brechen. Sie war dabei über den Kopf dieses Mannes hinweg, ja schlimmer noch, gegen dessen ausdrücklichen Willen, etwas zu tun. Einen Moment fragte sie sich, ob der Zustand des Mannes diese Situation hier nicht zu etwas völlig anderem machen würde, doch die Antwort fiel ihr leicht. Vermutlich würde der Rest der Welt das anders sehen, aber für sie war das kein Grund. Selbst die Wahl das Leben nicht weiterführen zu wollen, war eine Wahl, die freie Menschen haben sollten.
Hier her, ans Ende der Welt, weit ab von allen Menschen, die sie einmal kannte, war sie nicht ohne Grund geflohen. Ja, es war eine Flucht gewesen, weg von dem scheinheiligen Getue, weg von den Menschen, denen sie ihr Vertrauen geschenkt und die es mit Füßen getreten hatten.
Ein gemurmeltes, kaum noch verständliches „Bitte!”, holte sie schließlich wieder aus der Vergangenheit und ihre Gedanken zurück in die Gegenwart. Noch einmal zögerte sie kurz, doch dann hatte sie eine Entscheidung getroffen und näherte sich dem Mann erneut, der nun wirklich keine Gefahr darzustellen