Rainer Nahrendorf

Wie viel Lüge verträgt die Politik?


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im Frühjahr 2008 über ihren Besuch in Bosnien im Jahre 1996 berichtete, tischte sie mächtig auf. Sie erzählte, sie sei bei der Ankunft in Tuzla unter das Feuer von Heckenschützen geraten und mit gesenktem Kopf über das Rollfeld gerannt. US-Fernsehsender zeigten dagegen Bilder, auf denen Clinton und ihre Tochter Chelsea lächelnd und entspannt aus dem Flugzeug stiegen. Die Realität war undramatisch. Es gab sogar eine Begrüßungszeremonie.

      Die Washington Post verlieh Hillary Clinton für ihre Schilderung der Ereignisse, die damit ihre außenpolitische Erfahrung unterstreichen wollte, vier Pinocchios: für die Verdunkelung der Fakten, Weglassungen bzw. Übertreibungen, für Irrtümer und falsche Darstellung der Tatsachen und faustdicke Lügen. Hillary Clinton entschuldigte sich damit, dass sie sich versprochen, sie sich schlicht geirrt habe.

      Die Anekdote ist im Vergleich zu den Täuschungen, Trugbildern und Vertuschungen amerikanischer Präsidenten und ihrer Regierungsangehörigen eine Bagatelle. Wie Eric Alterman in seinem Buch „When Presidents lie“ eindrucksvoll beschrieb, haben amerikanische Präsidenten nicht nur zu Notlügen, Lügen aus „Staatsräson“ gegriffen, sondern auch zu Lügen, um einen Nimbus zu schaffen und zu erhalten, der ihre Wiederwahlaussichten verbessern sollte. Ein Beispiel: John F. Kennedy und sein Bruder, der damalige US-Justizminister Robert Kennedy, haben den Abzug sowjetischer Raketen von Kuba nur im Tausch gegen den späteren Abzug von US-Jupiter-Raketen aus der Türkei erreicht , auch wenn diese militärisch fast wertlos gewesen sein sollen. Die Öffentlichkeit erfuhr von dieser geheimen Abrede zwischen Robert Kennedy und dem sowjetischen Botschafter in den USA Anatoli Dobrynin nichts. Nicht nur aus Rücksicht auf die Türkei. Der Mythos des mutigen, harten Präsidenten John. F. Kennedy sollte nicht zerstört werden. Schon zu Beginn der „Kuba-Krise“ hatte ein hochrangiger Mitarbeiter des amerikanischen Verteidigungsministerium, Arthur Sylvester, auf einer Pressekonferenz im Oktober 1962 wider besseres Wissen abgestritten, dass das Pentagon die Stationierung sowjetischer Offensivwaffen auf Kuba entdeckt hatte. Später begründete er seine Lüge mit dem Recht einer Regierung zu lügen, wenn sie sich damit rettet.

      Dabei ist Wahrheit in den USA ein hochmoralischer Begriff, dessen Missachtung zu einem Amtsenthebungsverfahren führen kann, was verschiedene Präsidenten jedoch keineswegs davon abgehalten hat, die Unwahrheit zu sagen. Richard Nixon, der seine eigene Verwicklung in den Watergate-Skandal zu vertuschen versuchte, kam der Amtsenthebung durch seinen Rücktritt bevor. Bill Clinton, der die amerikanische Nation unter Eid über seine Affäre mit Monica Lewinski belogen hatte, und der vor der Grand Jury zugeben musste, eine unangemessene Beziehung zu Lewinsky gehabt zu haben, wurde wegen Missachtung des Gerichts verurteilt, entging aber knapp der Amtsenthebung.

      In den Schatten gestellt wurde all dies von der Präsidentschaft George W. Bushs, wie Hans Leyendecker in seinem Buch „Die Lügen des Weißen Hauses“ urteilte. Noch nie habe eine amerikanische Regierung das eigene Volk und die Welt derart manipuliert und belogen wie die Bush-Administration, weil sie den Irak-Krieg führen wollte. Dies sei vorsätzlich geschehen. Dabei seien doch Wahrheit und Glaubwürdigkeit in einem Land, dessen erster Präsident George Washington mit dem Satz „I never told a lie“ in die Geschichtsbücher eingegangen ist, wichtige Begriffe.

      Die Bush-Regierung soll nach einer Studie von Wissenschaftlern um den Gründer des Center for Public Integrity, Charles Lewis, innerhalb von zwei Jahren nach dem 11. September 2001 mindestens 935 Lügen über die Bedrohung der nationalen Sicherheit durch den Irak verbreitet haben. Die meisten Lügen bezogen sich auf die Behauptung, dass der Irak Massenvernichtungswaffen habe und mit AL-Qaida kooperiere. Der Besitz von Massenvernichtungswaffen war der offizielle Hauptgrund der amerikanischen und britischen Regierung für den Krieg gegen den irakischen Diktator Saddam Hussein.

      Es ist aber mittlerweile unumstritten, dass der Irak damals weder Massenvernichtungswaffen hatte noch über bedeutsame Verbindungen zu Al Qaida verfügte. Eine Untersuchung des Geheimdienstausschusses ergab, dass die Rechtfertigung für den Irakkrieg auf falschen und ungedeckten Analysen der CIA und anderer Dienste beruhte. Für die Behauptung, Bagdad besitze chemische und biologische Waffen, habe es keine Grundlage gegeben. Die CIA soll nach einem Bericht der „New York Times“ schon vor dem Irak-Krieg gewusst haben, dass Saddam Hussein keine Massenvernichtungsmittel mehr herstellen ließ, diese Information jedoch nicht an US-Präsident George W. Bush weiter gegeben haben. Auch nach Kriegsende konnten keine Beweise für die Existenz von Massenvernichtungsmitteln gefunden werden.

      Für das damals von dem Kriegsgegner Gerhard Schröder geführte Deutschland höchst blamabel ist es, dass es die Lügengeschichten eines BND-Zeugen waren, die den USA angebliche Beweise für mobile Biowaffenlabors Saddam Husseins lieferten. Der BND hätte diese Erkenntnisse, die durch keine zweite Quelle bestätigt und von ihm selbst anzweifelt worden waren, nicht weitergeben dürfen. Die bei der Weitergabe geäußerten Zweifel an der Zuverlässigkeit dieser Information ändern nichts daran, dass Deutschland sich eine Mitschuld vorwerfen lassen muss.

      Präsident Bush bezeichnete den Einmarsch dennoch als richtig. Dank des Einsatzes sei ein Feind unschädlich gemacht worden, der die Fähigkeit gehabt habe, Massenvernichtungsmittel herzustellen und sein Wissen an Terroristen weiter zu geben. Die Welt sei besser dran, ohne Saddam Hussein an der Macht. Jedoch räumte er „gewisse Mängel“ bei den Geheimdiensten ein.

      Damit war ein Sündenbock gefunden, wie Thymian Bussemer4 schrieb. Sowohl die britische als auch die US-Regierung hätten sich − nachdem überdeutlich geworden war, mit welch unwahren Behauptungen sie ihren Krieg gerechtfertigt hatten − darauf verlegt, ihre Geheimdienste verantwortlich zu machen, die nun für die falschen Aussagen gerade stehen müssten.

      Die auf falschen Analysen beruhende Rechtfertigung für den Irak-Krieg kostete weder George W. Bush noch den damaligen englischen Premier Tony Blair die Wiederwahl. Das könnte Politiker darin bestätigen, es mit der Wahrheit nicht allzu genau zu nehmen.

      Allerdings kann man auch wie Alterman zu dem Schluss5 kommen, die Lügen wandelten sich zu Ungeheuern, die ihre Erfinder strangulierten. Die Reputation der USA hat nachhaltig gelitten, das Vertrauen in die Führungsmacht, die Demokratie und Freiheit überall auf der Welt fördern will, ist erschüttert.

      Die Pinocchios der Politik sind aber keineswegs in den USA häufiger vertreten als in anderen Ländern.

      Strategen der Macht

       „Es gehört dazu ein trefflicher Mann, der ein Löwenherz hat,

       unerschrocken die Wahrheit zu sagen.“

       Martin Luther

      Machiavelli hat prominente Anhänger, die es im Kampf um die Macht und den Machterhalt mit der Wahrheit nicht genau nehmen und die List der Füchse beherrschen. Oft ist die Täuschung der Wähler kaum zu belegen, doch es gibt auch Fälle, bei denen die Beweislage eindeutig ist, weil Politiker den Wortbruch nicht bestreiten.

      Zu den seltenen Politikern, die eingestehen, gelogen zu haben, gehört Ungarns sozialistischer Ministerpräsident Ferenc Gyurcsany. Gyurcsanys Regierung ergriff nach seinem Wahlsieg 2006 rigide Sparmaßnahmen, führte eine Praxisgebühr und Studiengebühren ein und reduzierte die staatliche Bezuschussung von Strom und Gas drastisch. Doch vor der Wahl hatte Gyurcsany harte Sparmaßnahmen ausgeschlossen, er hatte sogar Steuererleichterungen in Aussicht gestellt. Als er dann das Gegenteil tat, warf ihm die Opposition Lügen vor.

      Kurz vor den ungarischen Kommunalwahlen wurde Mitte September 2006 eine Rede bekannt, die Gyurcsany auf einer internen Fraktionssitzung gehalten hatte. Darin gab Gyurcsany zu, seine Partei und die Bevölkerung im Wahlkampf belogen zu haben. Er sagte nach dem von ihm bestätigten Tonbandmitschnitt: „Wir haben am Morgen, am Mittag, am Abend und der Nacht gelogen“. Zugleich räumte er ein, seine Regierung habe in der vorangegangenen Wahlperiode nichts Bleibendes geleistet. Gurcsany bedauerte aber in der Rede sein Verhalten und kündigte an, aus der Lügenfalle heraus zu wollen. Die Empörung über den „Lügner-Ministerpräsidneten“ machte sich in Demonstrationen und Krawallen Luft, aber Gyurcsany trat nicht zurück.

      Später stellte Gyurcsany sein Eingeständnis einer Wahllüge als bewusste Übertreibung dar, die er als