Rainer Nahrendorf

Wie viel Lüge verträgt die Politik?


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für wirkliche Veränderungen gerichtet. „Es war ein emotionaler, dramatischer Monolog meinerseits, mit dem ich meine Landsleute aufgerufen habe, aktiv zu werden.“ Seine Rede sei in erste Linie eine Provokation gegenüber seinen Parteikollegen gewesen. „Ihr sollt mich unterstützen. Wir brauchen wirklich den Wandel.“, so habe er die Konfrontation gesucht.

      Doch Politiker, die sich an die Macht schwindeln, entziehen ihrer Regierung die „Geschäftsgrundlage“, sie delegitimieren ihre Herrschaft. Für die Politik und die Veränderungen, die sie durchsetzen wollen, haben sie kein Mandat des Wählers. Der Erfolg heiligt eben nicht die Mittel. Und das Eingeständnis, gelogen zu haben, stellt die durch die Unwahrheit verlorene Ehre nicht wieder her. Die im Wahlkampf geäußerten Lügen machen die Wahlen zur einer Posse. Sie verhöhnen die Wähler.

      Manche vor der Wahl getroffene Festlegung bereuen die Spitzenkandidaten einer Partei bereits, wenn am Wahlabend die ersten Hochrechnungen über die Fernsehbildschirme flimmern. Der SPD-Politiker Reinhard Höppner bildete 1994 in Sachsen-Anhalt eine Minderheitsregierung aus SPD und Grünen. Zum Regieren war er auf eine Tolerierung durch die damalige Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) angewiesen. Vor der Wahl hatte er eine solche Tolerierung ausgeschlossen. Nach der Landtagswahl 1998, bei der die Grünen an der Fünf-Prozent-Klausel scheiterten, setzte Höppner die Tolerierung einer SPD-Minderheitsregierung durch die PDS fort.

      Die hessische SPD-Vorsitzende Andrea Ypsilanti mag sich an diesem „Magdeburger Modell“ orientiert haben, als sie kurz nach der hessischen Landtagswahl 2008 ihre Aussage „Nicht mit der Linken“ ins Gegenteil verkehrte. Ypsilanti hatte als Spitzenkandidatin der SPD wiederholt erklärt, unter keinen Umständen mit der Partei Die Linke zusammenzuarbeiten. Als nach der Wahl keine Mehrheit für das von ihr angestrebte rot-grüne Bündnis zustande kam und sich die FDP einer Ampelkoalition verweigerte, reagierte sie frei nach Winston Churchill: Politiker müssen sich schnell auf neue unvorhersehbare Situationen einstellen können und ihre Worte von gestern aufessen. Churchill fand dies eine heilsame Diät.

      Es wurde eine Diät − für die SPD. Die Bereitschaft Andrea Ypsilantis, ein wichtiges Wahlversprechen zu brechen und sich entgegen allen Beteuerungen vor der Wahl nun auch mit den Stimmen der Linkspartei zur Ministerpräsidentin wählen lassen zu wollen, ließ die SPD in den Umfragen abstürzen. Hinzu kam die Billigung des Linksschwenks durch den damaligen SPD-Vorsitzenden Kurt Beck. Die Quittung für das Verhalten Ypsilantis und Becks bekam die SPD bei der darauf folgenden Hamburger Bürgerschaftswahl.

      Die Tragik des Hamburger SPD-Spitzenkandidaten Michael Naumann bestand darin, dass seine klare Abgrenzung gegenüber der Linkspartei durch Andrea Ypsilantis Wortbruch und Kurt Becks Schlingerposition unglaubwürdig geworden war und ihn für den an der Elbe angestrebten Machtwechsel die notwendige Stimmenprozente für eine rot-grüne Regierungsbildung gekostet hat. Naumann schrieb unmittelbar nach dem Wahlsonntag einen Brief voller Erbitterung an Kurt Beck. Darin kritisierte er dessen Kuschelkurs gegenüber der Linkspartei scharf. Naumann warf Beck vor, die Glaubwürdigkeit der Hamburger SPD und ihres Spitzenkandidaten beschädigt zu haben. Becks Verhalten habe die SPD mindestens zwei bis drei Stimmenprozente und möglicherweise den Wahlsieg gekostet.

      Als nach der Hessen-Wahl eine heftige Diskussion über den Wortbruch Frau Ypsilantis entbrannte, fand sie in dem bereits erwähnten Essay von Franz Walter eine Fürsprache. „Ein Stratege und großer Politiker muss − ja, er muss − zuweilen Potemkinsche Dörfer errichten, ohne Skrupel von links nach rechts und zurück rochieren, mindestens den Gegner durch falsche Ankündigungen in die Irre führen.“, schrieb Walter.

      Zur Lüge gehört, wie Augustinus schrieb, der Wille zur Unwahrheit, die Absicht der vorsätzlichen Täuschung. Diese ist aber schwer nachzuweisen, denn die meisten Politiker beherrschen die Kunst der Verstellung, des Verbergens der Fuchsnatur. Sicher gibt es auch legitime Lügen, Notlügen zur Rettung von Menschenleben oder zur Abwendung einer äußeren Bedrohung. „Wenn Politiker nicht über die Kunst des Lügens verfügen würden, wenn Lügen nicht in bestimmten Situationen legitim wären“, schrieb Simone Dietz in „Die Kunst des Lügens“, „dann könnte die politische Handlungsfähigkeit eines Staates in vielen Fällen nur durch die Einschränkung der politischen Öffentlichkeit erhalten werden“.

      Hat sich Andrea Ypsilanti also nur nicht an die Empfehlung Franz Walters gehalten: „Man muss nur aufpassen, dass dies alles zugleich als "glaubwürdig" erscheint.“?

      Erfahrene Politiker wissen, welchen hohen Stellenwert persönliche Glaubwürdigkeit für die Wähler hat. Helmut Schmidt hat in seinem Buch „Das Jahr der Entscheidung“ dargelegt, wie sehr die Glaubwürdigkeit der Volksparteien von der Autorität abhängt, die ihre Führungspersonen ausstrahlen: „ Ist das, was sie sagen, die Wahrheit? Ist es ihre tatsächliche Meinung? Oder sagen sie es nur, weil sie meinen, es sei ihnen nützlich?“ Gerhard Schröder und Edmund Stoiber haben beim ersten TV-Duell zweier Kanzlerkandidaten 2002 ihre Statements mit dem Unterstreichen ihrer Glaubwürdigkeit eröffnet. Schröder sagte: „ Ich glaube, Glaubwürdigkeit hat zu tun mit der Tatsache, dass man macht, was man sagt, dass man hinterher zu dem steht, was man tut. Nur wenn man selber überzeugt ist, kann man andere überzeugen.“ Stoiber antwortete: „Ich versuche immer nach dem Prinzip zu handeln „Keine Unterschiede zwischen Reden und Handeln“. Er habe sich in seinem Verantwortungsbereich immer wieder bemüht, das zu halten, was er versprochen habe.

      Schröder und Stoiber kamen mit diesen Aussagen dem „tiefen Bedürfnis nach Wahrheit, Ehrlichkeit, reiner Gesinnung, nach lutherischer Unbeugsamkeitspose“ entgegen, das, so Franz Walter, in Deutschland vorhanden sei. Ein solch lutherisches Format fand sich in der hessischen SPD-Abgeordneten Dagmar Metzger, die das SPD-Wahlversprechen nicht brechen wollte. Sie weigerte sich trotz der Nötigungsversuche aus ihrer Partei, für Frau Ypsilanti als Ministerpräsidentin zu stimmen, wenn diese nur mit den Stimmen der Linken Regierungschefin werden könnte. Daraufhin stellte sich Andrea Ypsilanti − zunächst − nicht zur Wahl, arbeitete aber auf die Tolerierung einer Minderheitsregierung aus SPD und Grünen durch die Linkspartei hin.

      Das Vorgehen Ypsilantis und Becks führte dazu, dass im ZDF-Politbarometer7 57 Prozent aller Befragten erwarteten, die SPD werde, wenn sich dafür bei der nächsten Bundestagswahl eine Mehrheit ergebe, mit der Linkspartei und den Grünen eine Koalition eingehen. Allerdings bewerteten 67 Prozent der Befragten eine rot-rot-grüne Koalition im Bund zugleich als schlecht, selbst 63 Prozent der SPD-Anhänger sahen das so.

      Ypsilanti ließ sich weder von dem Gegenwind der öffentlichen Meinung noch von den mittlerweile erfolgten Warnungen der SPD-Bundesspitze vor einer Zusammenarbeit mit der Linkspartei beeindrucken. Sie kündigte einen zweiten Anlauf für ihre Wahl zur Ministerpräsidentin und die Bildung einer rot-grünen Minderheitsregierung in Hessen an, die von der Linkspartei toleriert werden sollte.

      Mit ihrem Wortbruch hatte Frau Ypsilanti ihre Glaubwürdigkeit verspielt, auch für die Mehrheit der Meinungsmacher. Der Chefredakteur des Cicero, Wolfram Weimer, kommentierte, Frau Metzger habe es mit Immanuel Kant gehalten: Was Du einmal versprochen hast, das darfst Du nie mehr brechen. Der große Aufklärungsphilosoph sei maßgeblich schuld daran, dass wir Deutsche ein ziemlich rigoroses Verhältnis zur Lüge haben. Das hätte Andrea Ypsilanti wissen können, als sie plötzlich mit der Linkspartei anbandelte. Und die Bild-Zeitung hatte mit „Frau Lügilanti“ eine dankbare Bösewicht-Besetzung im Theater des Politischen gefunden.

      In Deutschland ist auch anderes „Lügentheater“ wie das „Waterkantgate“ mit dem „Ehrenwort“ unvergessen, mit dem Uwe Barschel abstritt, von den Verleumdungsaktivitäten seines Medienreferenten Pfeiffer gegenüber seinem Wahlherausforderer Björn Engholm gewusst zu haben. Untersuchungsausschüsse weckten daran Zweifel, sie ergaben, dass Barschel zumindest Mitwisser war und Mitarbeiter zu falschen Aussagen gedrängt hatte. Engholm wurde später selbst überführt, die Unwahrheit gesagt zu und einen Meineid geschworen zu haben. Er entging allerdings der Bestrafung, weil der Meineid verjährt war.

      Einige Strategen der Macht ziehen aus der Aufdeckung von Wortbrüchen und Unwahrhaftigkeiten allerdings nicht den Schluss, es sei besser, dem Wähler reinen Wein einzuschenken. Die Dosierung der Wahrheit erscheint ihnen Erfolg versprechender.